Gerade hatte sich am frühen Nachmittag des 23. November wider Erwarten doch so etwas wie eine patriotisch gefärbte WM-Stimmung in unserem Wohnzimmer ausgebreitet, da war es auch schon wieder vorbei - jedenfalls mit dem patriotischen Teil. Mitte der zweiten Halbzeit lief ich - zunächst etwas ungläubig und zögerlich, dann aber immer entschiedener - zu den Japanern über, deren unerwartetem Sturmlauf die deutsche Mannschaft kaum etwas entgegenzusetzen hatte. In einer Mischung aus individuellen Fehlern und mangelnder taktischer Flexibilität gingen die deutschen WM-Hoffnungen aller Wahrscheinlichkeit nach bereits unter, ehe sie überhaupt richtig aufblühen konnten. Natürlich war die Verteidigerleistung vor den beiden Toren der Japaner jeweils verheerend, aber einen entscheidenden Anteil am Desaster hatte auch der mehrfache Welttorhüter und Mannschaftskapitän Manuel Neuer, der sich beim Siegestor ausgesprochen indisponiert zeigte, indem er dem Ball bereitwillig Platz machte. Unter uns Fussballfans bestand rasch Einigkeit, dass ein guter Drittliga-Torwart das Ding gehalten hätte.
OK, könnte der abgeklärte Fan sagen: So ist der Fußball nun mal, der Ball ist rund, es gibt immer Überraschungen, und wenn Deutschland eine der zahlreichen Chancen zum 2:0 genutzt hätte, wäre das Spiel wahrscheinlich entschieden gewesen und alle Diskussionen verstummt. Aber manchmal fördert auch das Pech etwas Grundlegendes zutage. Denn in den Tagen zuvor ließ sich beobachten, wie bei Medien, DFB und (einigen) Spielern der Fokus sich vom Fußballerischen mehr und mehr verschob hin zum Moralischen. Als wäre gerade erst kürzlich durch eine Indiskretion bekannt geworden, dass in Katar einiges anders läuft als in Deutschland oder dem „Westen“ schlechthin. Bei der letzten Sommerolympiade in China oder auch der Fußball-WM in Russland 2018 spielten Überlegungen dieser Art noch eine vergleichsweise untergeordnete Rolle.
Die woke Welle
Inzwischen ist zwar nicht viel, aber eben doch so viel Zeit vergangen, dass die woke Welle mit voller Kraft nun auch Deutschland erreicht und dabei nicht zuletzt auch die Gehirne von DFB-Funktionären und einigen Spielern geflutet hat, allen voran Mannschaftskapitän Manuel Neuer. Zwei fundamentale Einsichten sind dabei untergegangen. Erstens, die Welt ist tatsächlich divers, in einigen Ländern gelten nämlich die Menschenrechte, in anderen gelten sie bloß teilweise oder zeitweilig und in wieder anderen, nämlich den muslimischen, nur in Spurenelementen oder auch gar nicht. Denn dort stehen die Menschenrechte bekanntlich unter Vorbehalt der Scharia. Zweitens, das ergibt sich zwanglos aus erstens, können internationale Wettbewerbe oder gar Weltmeisterschaften auf Dauer nur stattfinden, wenn dieser Sachverhalt schlicht und einfach zur Kenntnis genommen und akzeptiert wird. In Katar und den anderen muslimischen Ländern gibt es nun einmal erhebliche und überwiegend auch gesetzlich bewehrte Vorbehalte gegen so gut wie alles, was hierzulande unter Diversität, Pride und Queer gefeiert und gefördert wird. Auch in vielen Ländern Afrikas gelten Menschenrechte zumindest de facto eher nicht, in Süd- und Mittelamerika in sehr wechselnder Ausprägung und in Asien nur für eine eher kleine Minderheit.
Wunschdenken führt selten zum Ziel
Die Vorstellung von weltweit geltenden Menschenrechten ist vielleicht eine schöner Wunsch, aber eben nicht die Wirklichkeit. Die logische Folgerung daraus kann doch nur sein, entweder das zu akzeptieren und auf langsame und punktuelle Besserung zu hoffen oder solche Veranstaltungen wie eine WM konsequent im kleinen Rahmen westlich orientierter Staaten abzuhalten.
Aber anzunehmen, dass Diktatoren oder andere Gewaltherrscher auf Dauer zig Milliarden für Sportereignisse spendieren, um sich dann coram publico weltweit vorgeführt zu sehen, ist genauso naiv und abwegig wie die Annahme, Katar zum Diversitätsparadies transformieren zu können. Also sollte man - von ganz extremen Ausnahmen abgesehen - vernünftigerweise Sport und Politik strikt trennen, wie es ja auch während des „Eisernen Vorhangs“ in Europa zumindest zeitweilig einigermaßen geklappt hat - mit einem zudem ganz überwiegend positiven Ausgang.
Absolute Intoleranz gegenüber anderen Kulturen
Aber nun sind die Zeiten andere und Haltung zeigen oder ein Zeichen setzen ist in weiten Teilen der tonangebenden Kreise zum moralischen Imperativ geworden. Und zu diesen Kreisen gehören hierzulande eben auch der DFB, bestimmte prominente Fußballer, zahlreiche Vereine und, nicht zu vergessen, viele Sponsoren. So ist es heutzutage üblich, dass etwa im HSV-Stadion die Zuschauer in puncto Diversität, Antirassismus etc. von einer schrillen Frauenstimme vor Spielbeginn auf den richtigen Kurs eingenordet werden.
Das mag alles noch recht harmlos klingen, aber in Bezug auf die Kritik an Katar und den dortigen Verhältnissen werden weitergehende Assoziationen beim Autor geweckt und zwar an die absolute Intoleranz der angeblich besonders Toleranten und Weltoffenen gegenüber einer grundsätzlich anders verfassten Gesellschaft mit einer ebenso andersartigen Kultur. Eine Allianz aus Medien, Fußball und Politik äußert die Gewissheit ihrer moralischen Überlegenheit mit einem Furor, der an die Kreuzzüge des Mittelalters gemahnt. Überschreiten allerdings die muslimischen Bewohner solcher Staaten unsere Grenzen, löst sich schlagartig ihre kulturelle Prägung auf, sie werden unter Artenschutz gestellt und jegliche Kritik an bestimmten Verhaltensweisen als islamophob diffamiert. Aber gedankliche Stringenz ist nun mal keine Stärke der Wokeness.
Plötzlich war Schluss mit dem Gratismut
Vor dem Hintergrund dieser umfassenderen Entwicklung war es absehbar, dass DFB und Nationalmannnschaft - oder Teile von ihr - sich berufen fühlen würden, in Katar ein Zeichen zu setzen. Was dann ja auch geschah, zunächst in Gestalt der One-Love -Armbinde. Die stieß bei der FIFA bekanntlich nicht auf Gegenliebe, womit aus einer Gratismut-Veranstaltung plötzlich ein risikobehaftetes Unterfangen wurde. Schweren Herzens beerdigten DFB und Mannschaft knapp zwei Tage vor dem Japanspiel ihren Bindenplan, um dann unmittelbar vor dieser Begegnung mit einer Hand-vor-dem-Mund-Geste zu überraschen. Wer hier genau die Fäden zog und die konkrete Strategie des Zeichensetzens bestimmte, ist offen. Auf jeden Fall aber dürfte Kapitän Neuer, zumindest innerhalb der Mannschaft, die treibende Kraft gewesen sein.
Dieses ganze Theater, von dem die Medien, allen voran der öffentlich-rechtliche Rundfunk, nicht genug bekommen konnten, hat sich in sportlicher Hinsicht allerdings desaströs ausgewirkt. Das kleine Einmaleins der Sportpsychologie - Kapitel: Mentale Vorbereitung auf ein sehr wichtiges Spiel - wurde leichtfertig auf dem Haltungsaltar geopfert. Dem Team und den einzelnen Spielern wurde es durch dieses Störfeuer ganz erheblich erschwert, sich auf das Wesentliche einzulassen und zu konzentrieren: die gegnerische Mannschaft, die eigene Taktik und ihre Varianten, ganz zu schweigen natürlich von so etwas wie Teambuilding, einen Spirit zu entwickeln, in dem schlussendlich jeder bedingungslos bereit ist, alles zu geben, auch wenn es mal nicht so gut läuft, der Gegner übermächtig wirkt oder ein Mitspieler schwächelt.
Hochleistungssportler lernen im Verlaufe ihrer Karriere zwar, störende Einflüsse von außen zu minimieren, sonst hätten sie es nicht bis ganz oben geschafft. Aber die Beschäftigung mit der One-Love-Binde und dann der Suche nach einer alternativen symbolischen Geste brachte mit Sicherheit Unruhe und eigentlich unerwünschte Ablenkung ins Team. Was aber wahrscheinlich noch wesentlich schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass es hier um hochpolitische Fragen ging. Und dabei kann man nicht erwarten, dass alle einer Meinung sind. Ich vermute mal, die Situation war nicht grundsätzlich anders als in vielen Uni-Seminaren Anfang der 70er Jahre: Plötzlich steht jemand auf und fordert, dass statt des regulären Lehrbetriebs irgendeine Resolution verabschiedet werden solle, die er dann auch sogleich unter dem Beifall von zwei oder drei engeren Gesinnungsgenossen vorträgt. Einige wenige protestieren, die meisten verhalten sich still und erdulden das Ganze, ein paar bekunden ihre Unterstützung. Anschließend ist dann für Etliche geklärt, wer aus dem Seminar ihnen sympathisch ist und wer nicht.
Das Gegenteil von Teambuilding
Beim DFB-Team kommt hinzu, dass die Spieler nicht alle gleich sind, einige sind gleicher. Ob ein Novize sich traut, einem Welttorhüter und Weltmeister zu widersprechen? Eher wohl nicht. Aber er denkt sich seinen Teil. Und viele haben einfach keinen Bock auf Politik oder können nicht recht verstehen, warum sie sich jetzt ausgerechnet für bestimmte sexuelle Minderheiten einsetzen sollen. Andere machen den Mund zwar auf, können aber nicht durchdringen oder werden runtergemacht und nehmen ihren Frust mit. Kurzum: Es entsteht eine gruppendynamisch tendenziell unschöne und unerwünschte Situation, an deren Ende das Gegenteil von Teambuilding steht. Auch der Trainer - es sei denn, er ist eine absolut unangefochtene Autorität und vollkommen unerschrocken - kann bei diesem Theater nur verlieren. Widersetzt er sich der politischen Instrumentalisierung, verdirbt er es sich mit den wortführenden Aktivisten in der Mannschaft, macht er opportunistisch alles mit, wird er kaum Sympathien bei der übrigen Truppe sammeln.
Kurzum: Der - so unmittelbar vor einem entscheidenden Spiel zudem äußerst schlecht getimte - Versuch der deutschen Fußballnationalmannschaft, ein Zeichen in Katar und damit weltweit zu setzen, hat sich als eine Loserstrategie erwiesen - denn: Die Wahrheit ist immer auf dem Platz. Und da hatten, als es wirklich drauf an kam, weil die Japaner begannen, das Spiel zu drehen, weder Flick und sein Trainerteam noch die Jungs auf dem Feld etwas zu bieten. Es fehlte die notwendige - wie es im Fußballjargon heißt - „geistige Frische“. Vulgo: Ihnen mangelte es an Konzentration, geistiger Flexibilität und Kohäsion. Darüber hinaus wirkte das Trainerteam gar regelrecht paralysiert, wie ausgezehrt von endlosen politischen Debatten.