Stellen wir uns vor, wir lebten in einem Land wie diesem: Alle dürfen wählen. Alle sind vor dem Gesetz gleich. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung. Die Schule ist kostenlos, Studieren billig, das Gesundheitssystem schließt niemanden aus. Löhne und Arbeitszeit werden frei ausgehandelt, Streiks sind erlaubt, ebenso Demos und ziviler Ungehorsam. Ein System aus Versicherungen und Staatsleistungen erlaubt es, dass die Bürger im Alter nicht arbeiten müssen, dass Schwache und Behinderte menschenwürdig leben können. Alle dürfen sich beruflich, politisch und persönlich frei entfalten, unabhängig von Religion, Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung. Klingt gut, oder? Klingt im Großen und Ganzen genau nach dem Land, in dem wir leben.
Trotzdem empfinden zwei Drittel der Deutschen nach jüngsten Umfragen die Verhältnisse im Staat als „ungerecht“. Obwohl selbst drei Viertel derer, die ohne Schulabschluss sind, keinem Armutsrisiko unterliegen, finden 74 Prozent es „ungerecht“, wie die Gesellschaft mit Schwachen umgeht. Obwohl Millionen Ostdeutsche, die nie in die Rentenversicherung einzahlen konnten, im Alter finanziell abgesichert sind, halten 72 Prozent das Rentensystem für „ungerecht“. Damit meinen sie nicht, dass es - streng genommen - tatsächlich ungerecht gegenüber den Schlauen und den westdeutschen Rentnern ist, wenn man für ein auskömmliches Leben weder die Schule schaffen noch Beiträge zahlen muss.
Keine Gesellschaft ist perfekt, auch unsere nicht. Aber „ungerecht“? Wie wenig es Eliten und Institutionen anscheinend gelingt, die Vorzüge und Leistungen unseres Staats- und Wirtschaftssystems herauszustellen, ist alarmierend. Dabei haben reale deutsche Defizite wie hohe Arbeitslosigkeit und Schwächen bei Bildung und Innovation nur im weitesten Sinne mit Gerechtigkeit zu tun, wenn überhaupt. Und wem etwa die Einkommensunterschiede in der Marktwirtschaft ein unerträglicher Dorn im Auge sind, muss sagen, wer sie auf wessen Kosten beseitigen soll. Der Staat etwa? In der DDR bekamen (angeblich) alle Arbeit und ähnliche Löhne - war es dort gerechter?
Es ist ein schmaler Grat zwischen „mehr Gerechtigkeit“ und lähmender Gleichmacherei. Laut einer Umfrage der „Zeit“ würden sich 58 Prozent der Deutschen im Zweifel für mehr „soziale Gerechtigkeit“ entscheiden statt für mehr Freiheit. Dabei ist es die Freiheit, die westdeutschen Wohlstand ermöglicht hat, inklusive Sozialstaat.
„Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“, sagt der Wirtschaftsethiker Joachim Fetzer. Damit hätten jedoch viele ein „gefühltes Problem“. Die Globalisierung, die gerechterweise armen Ländern auch auf unsere Kosten mehr Wohlstand verschafft hat, zeigt es. Unter dem Wettbewerbsdruck wächst der Wunsch nach einem großen Verteiler. Doch dieser fromme Wunsch ist weltfremd. Er widerspricht zudem den Prinzipien einer Markt- und Verhandlungsgesellschaft.
Viele blenden offenbar die Vorteile dieses Systems wider alle historische Erfahrung und Vernunft bewusst aus. Man kann das als typisch deutsche Miesmacherei belächeln. Aber wenn die Mär von der „ungerechten Gesellschaft“ sich als Allgemeingut manifestiert, wird es irgendwann richtig ernst. Denn es gibt ein Maß an Sehnsucht nach „Gerechtigkeit“, das die Axt an den Stamm unserer Gesellschaft legt: an die freie Entfaltung des Einzelnen.
(Leitartikel im Kölner Stadt-Anzeiger, 12. Dezember 06)