Tobias Kaufmann / 12.12.2006 / 12:39 / 0 / Seite ausdrucken

Die Mär von der ungerechten Gesellschaft

Stellen wir uns vor, wir lebten in einem Land wie diesem: Alle dürfen wählen. Alle sind vor dem Gesetz gleich. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung. Die Schule ist kostenlos, Studieren billig, das Gesundheitssystem schließt niemanden aus. Löhne und Arbeitszeit werden frei ausgehandelt, Streiks sind erlaubt, ebenso Demos und ziviler Ungehorsam. Ein System aus Versicherungen und Staatsleistungen erlaubt es, dass die Bürger im Alter nicht arbeiten müssen, dass Schwache und Behinderte menschenwürdig leben können. Alle dürfen sich beruflich, politisch und persönlich frei entfalten, unabhängig von Religion, Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung. Klingt gut, oder? Klingt im Großen und Ganzen genau nach dem Land, in dem wir leben.

Trotzdem empfinden zwei Drittel der Deutschen nach jüngsten Umfragen die Verhältnisse im Staat als „ungerecht“. Obwohl selbst drei Viertel derer, die ohne Schulabschluss sind, keinem Armutsrisiko unterliegen, finden 74 Prozent es „ungerecht“, wie die Gesellschaft mit Schwachen umgeht. Obwohl Millionen Ostdeutsche, die nie in die Rentenversicherung einzahlen konnten, im Alter finanziell abgesichert sind, halten 72 Prozent das Rentensystem für „ungerecht“. Damit meinen sie nicht, dass es - streng genommen - tatsächlich ungerecht gegenüber den Schlauen und den westdeutschen Rentnern ist, wenn man für ein auskömmliches Leben weder die Schule schaffen noch Beiträge zahlen muss.

Keine Gesellschaft ist perfekt, auch unsere nicht. Aber „ungerecht“? Wie wenig es Eliten und Institutionen anscheinend gelingt, die Vorzüge und Leistungen unseres Staats- und Wirtschaftssystems herauszustellen, ist alarmierend. Dabei haben reale deutsche Defizite wie hohe Arbeitslosigkeit und Schwächen bei Bildung und Innovation nur im weitesten Sinne mit Gerechtigkeit zu tun, wenn überhaupt. Und wem etwa die Einkommensunterschiede in der Marktwirtschaft ein unerträglicher Dorn im Auge sind, muss sagen, wer sie auf wessen Kosten beseitigen soll. Der Staat etwa? In der DDR bekamen (angeblich) alle Arbeit und ähnliche Löhne - war es dort gerechter?

Es ist ein schmaler Grat zwischen „mehr Gerechtigkeit“ und lähmender Gleichmacherei. Laut einer Umfrage der „Zeit“ würden sich 58 Prozent der Deutschen im Zweifel für mehr „soziale Gerechtigkeit“ entscheiden statt für mehr Freiheit. Dabei ist es die Freiheit, die westdeutschen Wohlstand ermöglicht hat, inklusive Sozialstaat.

„Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“, sagt der Wirtschaftsethiker Joachim Fetzer. Damit hätten jedoch viele ein „gefühltes Problem“. Die Globalisierung, die gerechterweise armen Ländern auch auf unsere Kosten mehr Wohlstand verschafft hat, zeigt es. Unter dem Wettbewerbsdruck wächst der Wunsch nach einem großen Verteiler. Doch dieser fromme Wunsch ist weltfremd. Er widerspricht zudem den Prinzipien einer Markt- und Verhandlungsgesellschaft.

Viele blenden offenbar die Vorteile dieses Systems wider alle historische Erfahrung und Vernunft bewusst aus. Man kann das als typisch deutsche Miesmacherei belächeln. Aber wenn die Mär von der „ungerechten Gesellschaft“ sich als Allgemeingut manifestiert, wird es irgendwann richtig ernst. Denn es gibt ein Maß an Sehnsucht nach „Gerechtigkeit“, das die Axt an den Stamm unserer Gesellschaft legt: an die freie Entfaltung des Einzelnen.

(Leitartikel im Kölner Stadt-Anzeiger, 12. Dezember 06)

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Tobias Kaufmann / 02.05.2013 / 09:47 / 0

Grüne Umverteilung

Steuererhöhungen, wie sie die Grünen beschlossen haben, sollen Deutschland sozialer machen. In Wirklichkeit machen sie das Land ärmer. / mehr

Tobias Kaufmann / 08.04.2013 / 00:32 / 0

Widerspruch

Die Morde der NSU sind ein Beleg für einen schleichenden Völkermord an geschäftetreibenden Türken in Deutschland. Jene Neonazi-Schlägertrupps mit christlichem Hintergrund, die sich von Rostock…/ mehr

Tobias Kaufmann / 20.03.2013 / 10:59 / 0

Wir armen Täter

“Unsere Mütter, unsere Väter”, kurz #umuv, wird als Spielfilmvariante der deutschen Vergangenheitsbewältigung hoch gelobt. Und zwar völlig zu Unrecht. Denn dieser Film beantwortet die entscheidenden…/ mehr

Tobias Kaufmann / 19.02.2013 / 10:07 / 0

Böses, böses Pferdefleisch!

Die kriminelle Energie hinter dem Pferdefleisch-Skandal ist empörend. Doch solche Skandale sind kein Grund, die moderne Lebensmittelindustrie zu verdammen. Eher im Gegenteil. / mehr

Tobias Kaufmann / 31.01.2013 / 12:48 / 0

Das Unwort des Monats: Leihstimme

Wenn man den fehlenden Respekt vieler Politiker und politischer Journalisten gegenüber den Wählern illustrieren will, dann eignet sich dieses Wort perfekt. Leihstimme. Denn man kann…/ mehr

Tobias Kaufmann / 24.01.2013 / 14:30 / 0

Witz mit Brüderle

Ist Rainer Brüderle ein Lustmolch? Ein Herrenwitz? Und wenn ja: Was hat das mit seinem politischen Amt zu tun? Die Geschichte des „Stern“ ist mindestens…/ mehr

Tobias Kaufmann / 04.01.2013 / 13:18 / 0

Augstein – Im Zweifel ahnungslos

Frank Olbert hat im Kölner Stadt-Anzeiger das getan, was die meisten Verteidiger Augsteins bisher aus gutem Grund unterlassen – Er hat ihn zitiert. Herausgekommen ist…/ mehr

Tobias Kaufmann / 02.07.2012 / 13:03 / 0

Volkes Stimme gegen Beschneidung

Aus der Rubrik Flaschenpost – eine fast repräsentative Auswahl von Leserzuschriften als Reaktion auf das Beschneidungsverbot-Urteil des Kölner Landgerichts bzw. meine Kommentare dazu. Nach Lektüre…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com