Alexander Wendt / 04.07.2013 / 18:13 / 2 / Seite ausdrucken

Die Mär des Peer

In der „Zeit“ beklagte Peer Steinbrück kürzlich, es sei ein Fehler seiner Partei gewesen, dass sie ehemaligen SED-Mitgliedern 1990 nicht großzügig Asyl angeboten habe, er steckte dafür Prügel ein, und möglicherweise verschafft ihm die Erörterung auch die eine oder andere kostbare Stimme im Osten. Dabei gerät ein wenig in den Hintergrund, dass es den von Steinbrück beklagten Aufnahmeboykott für ehemalige SED-Leute nie gegeben hatte.
Es war ein bisschen anders.

Als noch ziemlich junger Leipziger landete ich Ende Oktober 1989 durch eine Information irgendeines Mitdemonstranten beim Vorbereitungstreffen für die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in Leipzig, wo sie ja bekanntlich im Jahr 1863 schon einmal gegründet worden war. Die Zusammenkunft fand auf der Treppenstiege eines abgewirtschafteten Leipziger Wohnhauses statt, erstens deshalb, weil der Inhaber der Wohnung, in der sie eigentlich hätte stattfinden sollen, dort Wanzen hinter der Tapete vermutete, und zweitens, weil die Mundpropaganda und ein paar Handzettel vom Wachsmatritzenapparat gut fünfzig Leute zu der eigentlich illegalen Zusammenkunft gelockt hatte. Wenn Franz Kafka die Justiz im „Process“ auf Dachböden ansiedelte, dann war es in diesem kafkaesken Staatswesen gar nicht so abwegig, dass die Opposition vom Treppenhaus ausging. Oben am Ende der Stufen redete ein zotteliger Pfarrer namens Steffen Reiche. Der wurde später Kultusminister in Brandenburg.

Ich erlebte die völlig chaotische Gründungsversammlung des Ortsvereins der SDP, der Sozialdemokratischen Partei, in der Reformierten Kirche in Leipzig am 7. November, zwei Tage vor dem Mauerfall. Plötzlich gehörte ich zum ersten Mal im Leben einer Partei an. Die Ost-CDU kam für mich wie für viele andere nicht in Frage, die roch nach einer vierzigjährigen Existenz als frömmelnder und katzbuckelnder Hintersasse der SED trotz aller Putzbemühungen penetrant nach Schwefel.

Ich verteilte Flugblätter unter Demonstranten auf dem Nikolaikirchhof, das heißt, ich stellte mich hin und sagte: „Hier spricht die Sozialdemokratie“, die Leute griffen selbst zu, und in zehn Sekunden waren alle hundert Papiere weg.

Die neuen Mitglieder kamen von überall her, meistens handelte es sich um etwas humorlose Ingenieure, die in der DDR in ihrer beruflichen Nische gelebt hatten. Aber natürlich kamen auch Leute, die bis vor kurzem noch in der SED waren, wie ein Mann in meinem Ortsverband. Niemand stieß sich daran. Warum auch? Die SED zählte 1989 2,3 Millionen Mitglieder, und die lösten sich – anders als Honeckers Zwergfürstentum – eben nicht auf. Ende 1990 wandelte sich die SDP zur ganz regulären SPD, aber zu keiner Zeit existierte ein Beschluss oder eine Praxis, ehemalige SED-Genossen nicht hereinzulassen. Vor allem aber bildeten sich keine Schlangen einstiger Bonbonträger, die unbedingt bei den Sozialdemokraten unterschlüpfen wollten. Die allermeisten SED-Mitglieder waren aus Konformitätsdruck in die Staatspartei eingetreten, und liefen mit der Parole ‚nie wieder Partei’ weg, sobald sie das im Herbst 1989 schadlos konnten.  Für den harten Kern der Partei wiederum, der unter der Regie des wendigen Anwalts Dr. Gregor Gysi erst zur SED-PDS und dann zur PDS umfirmierte, blieben Sozialdemokraten nach wie vor der Allzeitfeind Nummer eins. Es blieben also nur ein paar wenige übrig: Ex-SEDler, die 1990 ihr politisches Coming Out erlebten und tatsächlich den verschütteten Sozialdemokraten in sich entdeckten, ewige Geschaftlhuber, die bei der nächsten Regierungspartei dabei sein wollten, oder junge Leute, die mit 18 in die SED gegangen waren, und sich mit Anfang zwanzig offen für die Welt fühlten.

Möglicherweise lehnte hier und da ein Ortsverein einen einzelnen Eintrittswilligen ab, aber zu Massenabweisungen konnte es schon mangels Massenansturm nicht kommen. Im Jahr 1990 besaß die SPD in ihrem ehemaligen Stammland Sachsen mit seinen fünf Millionen Einwohnern ungefähr 5000 Mitglieder.
Bei den Ost-Sozialdemokraten konnte beispielsweise Holger Hövelmann Karriere machen, Jahrgang 1967, der 1988 in die SED eingetreten war und an der Offiziersschule „Ernst Thälmann“ der NVA in Zittau mit dem Ziel studiert hatte, Politoffizier zu werden. Er stieg später bemerkenswert glatt zum Innenminister und SPD-Chef von Sachsen-Anhalt auf. Manfred Püchel, sein Vorgänger im Ministeramt, gehörte vor dem Mauerfall der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) an, einer Art Land-SED. Auch das erschwerte weder seinen Eintritt in die SPD noch seine spätere Laufbahn.
Das Copyright der Legende, beschränkte SPD-Funktionäre hätten 1990 die einmalige Chance vergeigt, hunderttausende Eintritt begehrende Ex-SED-Mitglieder in ihre Arme zu schließen, liegt bei Egon Bahr, von ihm wanderte die Mär zu Journalisten und Parteifreunden, um 2013 schließlich bei einem verzweifelten Kanzlerkandidaten anzukommen.

Ich verließ die SPD übrigens nach einem halben Jahr, und zwar nicht wegen der hier und da eingesprengten ehemaligen Einheitssozialisten, sondern wegen Oskar Lafontaine. Dass dieser Mann später zum Häuptling des mehrfach umbenannten SPD-Hasservereins wurde, scheint mir eine schöne Pointe der jüngeren Geschichte

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Christoph Mike Dietel / 06.07.2013

Sehr geehrter Herr Wendt, Das klingt doch sehr interessant, ich wüßte gern näheres, wo lag denn jenes abgewirtschaftete Leipziger Haus, dessen Stiege zur Leipziger SDP Gründungszelle führte? Eingetreten war ein Großteil derer die sich am 7. November zur Gründung eines Ortsverbandes in der Reformierten Kirche versammelten in der Tat in einem Treppenhaus. Ein etwas leichtsinniger junger Mann, den ich noch heute allmorgentlich zu sehen bekomme, hatte sich erbötig gemacht, seine Wohnung zum Anlaufpunkt für Zeitgenossen zu machen, denen das magische Wort MARKTWIRTSCHAFT im Gründungsaufruf von Schwante Lust auf sozialdemokratische Umtriebe gemacht hat. Er empfing die Herren, Damen kamen keine, in der Tat im Treppenhaus vor seiner Dachgeschoßwohnung, aber nicht aus Angst, in seiner mutmaßlich verwanzten Wohnung abgehört zu werden- das wäre ihm schlichtweg egal gewesen- sondern, weil sein kaum halbjähriger Sohn samt Mutti, den Ansturm nicht hätten aushalten können. ....Steffen Reiche sah ich dort nicht…....Ja, und da hat der Peer nicht unrecht- wir haben niemanden aufgenommen, der noch im Vormonat SED Mitglied war…Es galt, nur wer die SED verlassen hatte, als das noch etwas kostete, war uns willkommen! Anders als Sie erinnern, wollten nämlich sehr wohl viele SED Mitlatscher in der SDP nun ernsthaft politisch werden. An die Ingenieure erinner ich mich auch-ich hab sie sogar in ihren Betrieben heimgesucht- sie sind verprellt worden, von der ökonomischen Blindheit der Chefideologen der Jungpartzei: das war übrigens ein Verlust. Wenn ich lese was sie erlebt haben, frage ich mich und Sie: Kann es sein, daß damals in Leipzig noch eine zweite SDP gegründet worden ist? Das interssiert mich, ich wüßte gern noch mehr, erzählen Sie bitte Dietel Weiland

Reimund Weismar / 05.07.2013

Vielen Dank für Ihre autobiographischen Notizen, die nicht nur unterhaltsam und informativ sind, sondern auch eine überzeugende Klarstellung der Lüge des “verzweifelten Kanzlerkandidaten” ist. Natürlich will Peer S. die Opfermentalität von ehemaligen Bürgern der DDR abfischen und sich Lieb-Kind-machen. Wer kann es ihm verdenken ob der Trostlosigkeit seiner sonstigen politischen Performance. Selbst die sorgfältig inszenierten Tränen auf dem SPD-Parteikonvent wurden zwar medial opportun durchgehechelt - allerdings ohne jede Resonanz in der Bevölkerung. “Die Mär des Peer” - was für ein wunderschön treffendes Wortspiel. Es ist aber auch die Märchengeschichte seiner abgehalfterten Partei, die in Bedeutungslosigkeit erstarrt ist, weil ihr jeglicher Bezug zu den realen Problemen unserer Zeit fehlt.

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