Georg Etscheit / 30.07.2022 / 12:00 / Foto: Pixabay / 21 / Seite ausdrucken

Die Lüdenscheid-Saga (Teil 2)

Das Städtchen im nordwestlichen Sauerland ist Deutschland im Kleinen. Hier kann man besichtigen, wie die (Verkehrs-)Infrastruktur langsam vor die Hunde geht.

„Weit, weit, weit ist es nach Lüdenscheid“, trällerte einst der österreichische Schlager- und Countrysänger Jonny Hill im markigen Heino-Stil. Mittlerweile kommt man gar nicht mehr dorthin, zumindest nicht per Auto oder Bahn. Am besten, man nimmt das Fahrrad, geht zu Fuß oder steigt in einen Hubschrauber, so wie reiche Brasilianer in der Megacity São Paulo elegant einschweben, die nicht tagelang im Stau stehen wollen. Aber dafür sollte ausreichende Liquidität verfügbar sein, wie bei Friedrich Merz, der zu Lindners Vermählungssause mit dem Privatflugzeug auf Sylt einschwebte. 

Mein Lüdenscheider Gewährsmann, der selbst nicht mehr in Lüdenscheid lebt, berichtete mir gerade von einer Odyssee seiner dortselbst noch ansässigen Schwester. Sie war, aus einem Albanienurlaub kommend – Entfernung Tirana-Lüdenscheid zu Lande etwa 2.000 Kilometer –, auf dem Frankfurter Flughafen angekommen. Dort wollte sie mit der Bahn weiter in die „Stadt des Lichts“ (Eigenwerbung). In Siegen – Entfernung nach Lüdenscheid auf dem Landweg etwa 60 Kilometer – wurde es dann zappenduster. Der Anschlusszug fuhr nicht, ein Schild gab den Grund bekannt: Wegen Personalmangels sei diese Verbindung gestrichen worden. Glücklicherweise konnte die auswärts studierende Tochter der Dame, die zufällig in Lüdenscheid weilte, sie abends in Siegen („Siegen pulsiert“) auflesen. 

Autobahn- und Schienverkehr lahmgelegt

Mittlerweile hat sich die Verkehrssituation in der Lichterstadt weiter verschlimmert, seit Anfang Juli eine für den Regionalverkehr von Richtung Dortmund und Köln wichtige Eisenbahnbrücke über das Flüsschen Volme aufgrund statischer Auffälligkeiten gesperrt werden musste. Die Brücke war bei der Hochwasserkatastrophe im vergangenen Jahr, die nicht nur das Ahrtal, sondern weite Teile Westdeutschlands betraf, so stark beschädigt worden, dass mittelfristig laut Bahn ein Neubau nötig sei. 

Lüdenscheids Bürgermeister Sebastian Wagemeyer (SPD) zeigte sich laut Lokalpresse von der Nachricht schockiert. „Damit wird unsere Stadt noch stärker als ohnehin schon vom Schienenverkehr ins Rheinland und ins Ruhrgebiet abgeschnitten. Das ist nach der Vollsperrung der A45 und der daraus resultierenden Verkehrssituation die nächste Katastrophe.“, sagt der Bürgermeister. Die Deutsche Bahn müsse den Schienenverkehr durch das Volmetal schnellstmöglich wieder in Gang bringen.

Dass dies ein frommer Wunsch sein dürfte, zeigt das Desaster beim Neubau eines zweiten S-Bahntunnels unter der Münchner Innenstadt. Derzeit geht das Bayerische Verkehrsministerium nach entsprechenden Hinweisen seitens der Deutschen Bahn davon aus, dass sich die Fertigstellung der zweiten Röhre bis 2037 verzögern könnte; bislang war eine Inbetriebnahme im Jahre 2028 geplant. Außerdem sollen sich die Kosten von 3,85 auf 7,2 Milliarden Euro beinahe verdoppeln. Ein Baustopp, so Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, komme nicht in Betracht. Augen zu und durch, wie gehabt. Für das Geld könnte man viele marode Strecken sanieren, auch jene nach Garmisch-Partenkirchen, wo Anfang Juni ein Zug entgleiste. Fünf Menschen starben, zahlreiche weitere wurden verletzt. Für das Unglück könnten gebrochene Betonschwellen mit verantwortlich sein. Mittlerweile wird’s gefährlich in Deutschland.

Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen, lautet ein Sprichwort. Seit wegen einer ebenfalls baufälligen Brücke die Sauerlandlinie bei Lüdenscheid unterbrochen ist, wird der gesamte Auto- und Lkw-Verkehr auf dieser wichtigen Autobahnverbindung durch Lüdenscheid geleitet. Mitte Juli verlor ein Laster auf der Umleitungsstrecke eine Ladung Bierflaschen Marke „Krombacher“. Bis die Feuerwehr die Glasscherben und schäumenden Bierreste beseitigt hatte, vergingen Stunden. Lange Staus waren die Folge.

Es bröselt von der Rathaustunnel-Decke

Wer so unvorsichtig ist, das Nadelöhr namens Lüdenscheid auf innerstädtischen Schleichwegen passieren zu wollen, muss es nicht nur mit Bierlastern aufnehmen, sondern auch mit der Dauerbaustelle Rathaustunnel. Schon im Februar 2013 hatten sich von der Tunneldecke mehrere Leuchten gelöst, woraufhin eine Teilsperrung verfügt wurde, die ursprünglich bis in den Sommer des gleichen Jahres dauern sollte. Dann wurde eine Teilsanierung der Röhre beschlossen: Fertigstellung Mitte 2015, Kosten 1,2 Millionen Euro. Bis 2017, dem Jahr der geplanten Fertigstellung, passierte erst einmal – nichts. 

Im August 2018 konnten die Bauarbeiten endlich beginnen, doch im April 2019 war schon wieder Schluss, nachdem Asbest gefunden worden war. „Probesanierung verzögert sich“, hieß es mehrfach. Am 4. Februar 2021 begann schließlich die Asbestsanierung. Die Arbeiten sollten bis 2022 beendet sein, teilte der Landesbetrieb Straßenbau NRW mit, weitere „Überraschungen“ seien nicht zu erwarten. Pustekuchen: Nach neuerlichen Verzögerungen wird jetzt das Jahr 2024 als Termin für die Verkehrsfreigabe angepeilt, über zehn Jahre nachdem die ersten Leuchten von der Tunneldecke regneten. Die bisher kalkulierten Kosten von 17,2 Millionen Euro seien nicht mehr zu halten.

Es wurde schon mal schneller gebaut. Der Eiffelturm (Paris) stand in gut zwei Jahren und steht bis heute, das Empire State Building (New York) wurde sogar noch schneller fertig: Bauzeit Januar 1930 bis Mai 1931. Für die Cheops-Pyramide (Kairo) nahm man sich wohl zwanzig Jahre Zeit, etwa so viel, wie man jetzt für die zweite Münchner S-Bahn-Röhre veranschlagt, wobei auch hier weitere „Überraschungen“ sicher nicht ausgeschlossen sind. An die Bauzeit für den Kölner Dom (632 Jahre) wird man in Lüdenscheid und München wahrscheinlich nicht heranreichen.  

Zuletzt noch zwei Randnotizen aus einer deutschen Stadt im Abrissjahr 2022. Die im Lüdenscheider Stadtteil Augustenthal ansässige Gießerei Emil Turck GmbH & Cie. macht sich Sorgen, was passiert, wenn bald das Gas knapp werden könnte. „Wir sind nicht Kostal, aber wenn wir nicht mehr arbeiten können, heißt das immerhin auch, dass 60 Mitarbeiter keine Arbeit mehr haben“, sagt der Inhaber. Der Lüdenscheider Autozulieferer Kostal hatte jüngst verkündet, einen Großteil seiner Produktion aus Kostengründen nach Ungarn zu verlagern. 950 Arbeitsplätze gehen verloren. Und: Die Ermittlungen zu einer Schießerei zwischen jungen „Männern“ auf der Lüdenscheider Steinert-Kirmes im Juni dieses Jahres treten auf der Stelle. Zwei tatverdächtige Jugendliche mussten wieder freigelassen werden. Bei dem Schusswechsel kam ein 40-jähriger Unbeteiligter aus Gummersbach ums Leben. 

Wird fortgesetzt.

Hier geht’s zum ersten Teil der Lüdenscheid-Saga.

Foto: Pixabay

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Gunther Lotze / 30.07.2022

Erst Siegen- dann reisen!

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