Im Herbst 2015 war ich unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise felsenfest davon überzeugt, dass die kommende weihnachtliche TV-Ansprache nicht mehr Angela Merkel halten würde. Bekanntlich ein großer Irrtum. Was war prognostisch schief gelaufen? Kurz gesagt: Die Bedeutung von politischen Überzeugungen bei der CDU wurde stark überschätzt und deren Opportunismus, vor allem bei der Bundestagsfraktion, dramatisch unterschätzt. Dabei ging es seinerzeit doch eigentlich um eine Prognose in einer recht übersichtlichen Situation. Insbesondere war die Vorhersage auch nicht bezogen auf ein langes Zeitfenster, was die Angelegenheit erschwert hätte.
Um einen solchen Fall handelt es sich bei der aktuellen Entscheidung der Kohlekommission. Denn deren Ziellinie wird erst im fernen Jahr 2038 gerissen. Allerdings dürfte sich mittlerweile der Medienkonsument daran gewöhnt haben, dass die Prognosen eigentlich umso vollmundiger ausfallen, je größer das zu beurteilende Zeitfenster ist. Insbesondere gilt das für die diversen Langzeit-Prognosen der Öko- und Klima-Alarmisten in Gegenwart und Vergangenheit. Dort hat man die Fähigkeit entwickelt, nicht nur den prognostischen Unsicherheitsbereich durch einen noch tieferen Blick in die Kristallkugel zu kompensieren, sondern sich auch durch grandios gescheiterte Vorhersagen nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
Es scheint so, dass ihre mit Hilfe von Riesenrechnern und aufwendigen Programmen erstellten Vorhersagen – vielleicht auch deshalb – besonders leicht geglaubt werden. Wenn aber die von Menschenhand festgelegten und dann mathematisch-statistisch zu analysierenden Bedingungen die Wirklichkeit nicht hinreichend genau abbilden, kommt letztlich bloß Unsinn heraus. Egal, wie toll Rechner und Programme sind.
Nun sollte man deswegen mit den Alarmisten nicht zu kritisch ins Gericht gehen. Oder hätten sie es lieber, dass Deutschland waldfrei, die Alpentäler schneefrei und der nicht mehr trockenen Fußes erreichbare Kölner Dom besucherfrei wäre? Oft, vielleicht sogar sehr oft, dürfte es schlicht ein Segen sein, wenn Prognosen nicht eintreffen. Das wird auch – dafür verbürge ich mich – für die Vorhersage aus dem Umweltbundesamt gelten, wo man jetzt schon genau weiß, wie viele „Hitzetote“ es im Jahr 2050 in verschiedenen Regionen Deutschlands geben werde.
Sind „Klimaleugner“ die neuen Klassenfeinde?
Damit sind wir bereits bei den Ursachen angelangt, die das Entstehen besonders vollmundiger, unbedarfter oder vielleicht auch nur dreister Prognosen erleichtern: Obwohl eine Prognose im Allgemeinen umso unwägbarer wird, je länger der Zeitraum ist, auf den sie sich bezieht, verlockt offensichtlich gerade das zu – freundlich formuliert – besonders mutigen Vorhersagen. Denn entweder guckt sich der frühere Prognostiker, wenn es drauf ankommt, bereits die Radieschen von unten an oder er schaut entspannt aus irgendeiner Ruhestandsperspektive auf die Empörung. Falls die Prognosen von vorgestern überhaupt noch irgendjemanden interessieren. Auch die andere Ursache ist leicht erklärt: Man entzündet lediglich ein kleines Licht in der von anderen bereits strahlend illuminierten Prognose-Kathedrale. Da kann man, sollte es tatsächlich mal hart auf hart kommen, immer noch mit dem Finger auf die Kollegen zeigen und versuchen, sich irgendwie rauszureden: Man war doch nur ein Mitläufer.
Diese Überlegungen streifen bereits die wohl – neben der einigen Menschen innewohnenden Neigung zur Selbstüberschätzung – bedeutendste Ursache für zum Scheitern verurteilte Prognosen: Man richtet den Blick nicht unverstellt auf alle interessierenden Facetten der Wirklichkeit oder aber gewichtet bestimmte zu einseitig, da das, was sein sollte, mehr interessiert als das, was ist. Der Klassiker aus diesem Genre ist natürlich: „Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf.“ Die aktuelle Variante klingt in etwa so: „Wenn wir nicht bis 20XX den CO2-Ausstoß um XX Prozent reduzieren, kommt es unwiderruflich zur menschengemachten Klimakatastrophe.“
Vertreter von Prognosen dieser Art verfügen nicht nur über einen systematischen Knick in der Optik samt angeschlossener Hirnrinde, sondern, damit zusammenhängend, auch über die besondere Fähigkeit, aus Fehlern nicht zu lernen. Die Ursachen von gescheiterten Prognosen waren früher von den linken Chefideologen unterschiedlicher Couleur nahezu ohne jeden geistigen Aufwand zu benennen: Schuld waren entweder Revisionismus und Abenteurertum oder Imperialismus und Klassenfeind. Letzterer hat zwar in Gestalt des „Klimaleugners“ irgendwie überlebt, aber ansonsten muss man sich heute trotz der medialen Verbündeten zumindest ein bisschen intellektuell anstrengen, um angesichts der nun zwanzigjährigen Erwärmungspause weiterhin möglichst überzeugend die Klimaapokalypse beschwören zu können.
Zu komplexen Prognosen leider ungeeignet
Zur Ehrenrettung der lauteren, also nicht stärker ideologisch verblendeten Prognostiker ist es an der Zeit, auf Dietrich Dörner zu verweisen. Der schon länger emeritierte Professor für Psychologie hat sich sein ganzes und sehr erfolgreiches Forscherleben mit Denk- und Problemlöseprozessen beschäftigt, zusammengefasst unter anderem in seinem Dauer-Bestseller „Die Logik des Misslingens“. Dort geht es darum, „wie menschliche Planungs- und Entscheidungsprozesse schiefgehen können, weil man Neben- und Fernwirkungen von Entscheidungen nicht genügend beachtet; weil man Maßnahmen zu stark dosiert oder zu schwach; weil man Voraussetzungen, die man eigentlich berücksichtigen sollte, nicht beachtet und so weiter.“
Sein Resümee: Planen oder prognostizieren von komplexen Situationen ist des Menschen Stärke nicht. Denn wir seien „Gegenwartswesen“ und würden nicht über so etwas wie vernetztes oder systemisches Denken verfügen. Ursache dafür dürfte das evolutionäre Erbe des Menschen sein, waren die prognostischen Anforderungen für unsere als Sammler und Jäger tätigen Ahnen doch sehr überschaubar.
Laut Professor Dörner bleibt uns nichts anderes übrig, als den gesunden Menschenverstand möglichst genau auf die Umstände der jeweiligen Situation einzustellen. Erfreulich in diesem Zusammenhang: Man kann den Umgang mit verschiedenen Situationen, die verschiedene Anforderungen an uns stellen, durchaus lernen. Wichtigste Voraussetzung dafür ist allerdings, aus Fehlern lernen zu wollen und auch zu können.
Markige „Wenn-dann-Beziehungen“ sind in
Was bedeutet das im Hinblick auf Prognosen in einem politischen Kontext, beispielsweise zur wirtschaftlichen und sozialen Situation Deutschlands in zwanzig Jahren, also nachdem der nun so gut wie beschlossene Kohleausstieg vollzogen sein soll? Da gilt es, den prognostischen Blick nicht nur auf möglicherweise unbeachtet gebliebene Voraussetzungen zu richten, sondern auch auf Neben- und Fernwirkungen und sich gleichzeitig zu überlegen, welche weiteren Faktoren in die Prognose sinnvollerweise einzubeziehen sind.
Je nachdem, ob man ein breites oder eher begrenztes Prognoseziel auswählt, hat man es mit einer Handvoll oder aber einem großen Bündel von zu berücksichtigenden Merkmalen zu tun. Damit tut sich ein grundlegendes Dilemma auf: Viele Faktoren zu berücksichtigen mag inhaltlich zwar geboten sein, macht die ganze Angelegenheit aber irgendwann zu unübersichtlich, erst recht für den Leser. Auch deshalb stehen in den Medien markige „Wenn-dann-Beziehungen“ höher im Kurs, vielleicht noch ergänzt um eine Variable, die, unter bestimmten Umständen, das prognostizierte Ergebnis von schlimm zu katastrophal oder – umgekehrt – noch zu einem guten oder zumindest halbwegs guten Ende befördern könnte.
Ohne jetzt zu sehr ins Detail gehen zu wollen, müssen aber wenigstens noch zwei Besonderheiten der politischen Prognose berücksichtigt werden: Politische Mehrheiten können sich ändern und damit auch Entscheidungen zurückgenommen oder stark modifiziert werden. Wobei Veränderungen dieser Art natürlich auch durch ein verändertes internationales Umfeld oder eher unerwartete katastrophale Ereignisse erzwungen werden können.
Hat Svenja Schulze einen Wissensvorsprung?
Zumindest der politische Langzeit-Prognostiker bräuchte also eigentlich so etwas wie seherische Fähigkeiten. Die hat er aber nicht. Und jeden zweifelnden Kommentar mit der Warnung zu versehen, dass es auch ganz anders kommen kann, sollte innerhalb des Prognose-Zeitfensters etwa Griechenland nun tatsächlich den Staatsbankrott anmelden, ein riesiger Vulkan ausbrechen mit gravierenden Auswirkungen auf das Weltwetter oder in einigen Jahren vielleicht der Iran dem nicht abwehrbereiten Deutschland mit einem Atomschlag drohen, ist auch keine Lösung.
Also: Eigentlich wäre man als politischer Analyst gut beraten, auch nur etwas komplexere Langzeitprognosen gar nicht erst anzufassen. Dem entgegen steht allerdings oft nicht nur das eigene Ego, sondern auch der Reiz einer intellektuellen Herausforderung und, nicht zu vergessen, die schlichte Nachfrage. Außerdem, darauf sei hier ausdrücklich hingewiesen, hat die andere Seite ja fast immer angefangen. Denn in der Regel gehen die Regierungsmitglieder oder deren Vasallen mit ihren Prognosen in Vorleistung, und zwar nicht zu knapp und oft genug unter grober Verletzung der Sorgfaltspflicht.
Ein besonderes Beispiel für eine ebenso dreiste wie unbedarfte Prognose gelang jüngst unserer Umweltministerin Svenja Schulze, dass nämlich der Kohleausstieg keine negativen Auswirkungen auf Strompreisentwicklung und Beschäftigung in den betroffenen Regionen haben werde. Weiß die Ministerin vielleicht etwas, was wir nicht wissen? Auch der offizielle Name der Regierungskommission zum Kohleausstieg klingt ja ungeheuer optimistisch: Für „Wachstum, Strukturwandel, Beschäftigung“. Insgesamt durch und durch eine positive prognostische Verheißung. Darf so etwas unwidersprochen bleiben? Nein! Natürlich nicht!
Strukturwandel = Verschrottung
Fangen wir also an: Welche Assoziationen weckt das Jahr 2038? Richtig, der jetzt scheinbar noch in ganz ferner Zukunft liegende demographische Wandel hat mit zunehmender Wucht längst begonnen, so richtig auf die deutschen Sozialkassen durchzuschlagen. Um die noch in guten Zeiten freizügig ausgeteilten sozialen Wohltaten auch tatsächlich leisten zu können, sind – nach einer aktuellen Prognose des Wirtschaftswissenschaftlers Professor Raffelhüschen – im Jahr 2040 Sozialabgaben in Höhe von nahezu 60 Prozent des Einkommens erforderlich. Übrigens eine Prognose, die die verantwortlichen Politiker nicht sonderlich zu interessieren scheint.
Da fragt sich der zunächst darob etwas ratlose Prognostiker, ob es unter diesen zu erwartenden Rahmenbedingungen tatsächlich zur Problemlösung beiträgt, wenn wir uns mit dem Kohleausstieg noch „gesamtgesellschaftliche Mehrkosten“ in Höhe von 170 Milliarden Euro aufhalsen. Und das auch noch für die Abschreibung und Verschrottung von funktionstüchtigen Kraftwerken, den sogenannten Strukturwandel samt subventionierten Arbeitsplätzen, Frühberentungen und Behördenumzüge sowie den Aufbau von Gaskraftwerken, Power-to-Gas-Anlagen und H2-Wirtschaft.
Dabei handelt es sich bei der genannten Summe keinesfalls um ein „Worst-Case-Szenario“, wie behauptet wird. Denn es wird unterstellt, dass die große Energiewende letztlich funktionieren wird. Bestimmte, keinesfalls unwahrscheinliche weitere Kollateralschäden sind also nicht eingepreist, wie Wegzug, Niedergang oder Rückbau des Teils der deutschen Industrie, der besonders auf günstigen und verlässlich fließenden Strom angewiesen ist. Auch die aus anderen, wenngleich eng verwandten Gründen bereits schwer gebeutelte Autoindustrie würde, wie andere Wirtschaftszweige auch, eine unstete Energieversorgung kaum längerfristig akzeptieren oder verkraften können. Nicht zu vergessen den Einzelhandel, der den ersten großflächigen Blackout samt Plünderungen vielleicht noch irgendwie wegsteckt. Aber irgendwann ist dann Feierabend, Klimarettung hin, Klimarettung her.
Wo ist die Physikerin Merkel?
Spätestens bei diesem Stand der Überlegungen sollte der Prognostiker innehalten, vielleicht gar eine Nacht darüber schlafen. Natürlich ist es immer reizvoll, den eigenen Durchblick zu demonstrieren – und damit gleichzeitig den fehlenden der Politik zu entlarven. Wenn aber diese Diskrepanz eine kritische Größe übersteigt, sollte man sich immer fragen, ob nicht vielleicht etwas übersehen oder falsch gewichtet wurde.
Und genauso verhält es sich hier. Denn bekanntlich gilt das ungeschriebene Gesetz: Unterschätze nie Angela Merkel! Würde sie tatsächlich ein solches, sich doch klar abzeichnendes Desaster anrichten wollen? Hat sie – als Probleme vom Ende her denkende Naturwissenschaftlerin – nicht doch einen Trumpf in der Hinterhand, der dem irrlichternden prognostischen Blick bisher bloß entgangen ist?
Hat sie nicht vielleicht auf dem gerade zu Ende gegangenen Davoser Weltwirtschafts-Forum, von allen unbemerkt, wieder etwas ausgekungelt? Hat sie gar von ihren multilateralen Verbündeten die Zusage dafür bekommen, dass Deutschland, sollte es wirklich bis zum Stichtag im Jahr 2038 nach den AKWs auch alle Kohlekraftwerke abgeschaltet haben, nicht nur den Titel „UN-Klimaschutzweltmeister“, sondern auch, und darauf kommt es an, ganz offiziell den Status eines Schwellenlandes erhält – wenngleich auf der Schwelle nach unten. Aber egal. Auf jeden Fall sprudeln dann endlich mal für uns die Milliarden aus den Klimaschutzfonds – und auch die Rente ist wieder sicher. Kurz: wieder mal eine typische Win-Win-Situation.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.