Cigdem Toprak
Ein Textilstück beschäftigt die deutsche Debatte über den Islam, die Integration der muslimischen Bürger und die Grenzen der Religionsfreiheit seit einigen Jahren.
Das “Stück Stoff”
So argumentieren viele Muslima mit Kopftuch in der Öffentlichkeit, dass es sich nur um ein “Stück Stoff” auf ihrem Kopf handle, welches keineswegs ihrer Emanzipation und Integration in der deutschen Gesellschaft im Weg stehe. Sie seien selbstbewusste deutsche Frauen, die studieren und arbeiten und ein selbstständiges Leben führen. Dabei legen sie eben aus religiösen Gründen ein Tuch über die Haare, manchmal auch über die Schultern, oder über den ganzen Körper, wie die Muslima beim Frankfurter Bürgeramt.
Sie verteidigen sich weiter, indem sie gerne auf alte deutsche Omas in auf dem Land zeigen, die ein Kopftuch über ihre Haare binden oder christliche Nonnen, die schwarz-weiß verhüllt sind. Weshalb also auch nicht die muslimischen Frauen?
Abgesehen davon, dass es in einer aufgeklärten Gesellschaft keine theologische Auseinandersetzung über die Textpassage im Koran in Hinblick auf die Verhüllung der Muslima geben sollte, wird das religiöse Kopftuch mit seiner Bedeutung zusammen getragen. Es handelt sich also keineswegs um ein Stück Stoff, dass sich Frauen über die Haare legen, um ihre Schönheit ein wenig zu verbergen, weil es kulturell bedingt ist. Muslima tragen das Kopftuch vielleicht aus unterschiedlichen Motivationen, aus Zwang, Tradition oder als Identifikations-und Diffrenzierungsmittel. Sie vermitteln und vertreten aber exakt die Bedeutung, die im Kopftuch, und zwar im religiösen Kopftuch, enthalten ist: Die Aufgabe ihrer Vernunft und ihren Glauben an eine Welt, in der sie mit offenem Haar zur Hölle verdammt sind. Das religiöse Kopftuch symbolisiert das negative Männerbild und die Diskriminierung ihrer Nachbarn, ihrer Arbeitgeber, ihrer Verwandten und ihren Kommilitonen. Dieses “Stück Stoff” verdammt Muslima das Leben zu führen, das Gott für sie bestimmt hat, das ihre Familie oder ihre Gemeinschaft von ihr erwarten.
Dieses religiöse Kopftuch, das jede einzelne Haarsträhne von ihnen versteckt, entzieht der Muslima ihr selbstständiges und kritisches Denken, verhindert die Integration in jede Gesellschaft, in der Männer und Frauen zusammen leben.
Die Lippenstift-Frage
Deutsche, junge und gebildete Muslima mit Kopftuch versuchen in der deutschen Öffentlichkeit ein Bild zu suggerieren, das nicht existiert: Sie wollen aufzeigen, dass sie eine ganz normale deutsche Frau seien.
Um dieses Trugbild zu entlarven, benötigt man nur die richtigen Fragen. Wenn nämlich diese junge deutsche Muslima mit Kopftuch einen Minirock tragen, einen roten Lippenstift aufmalen und ein anderes Leben führen wollte, wie würde ihre Familie und ihre religiöse Gemeinschaft darauf reagieren? Was wäre, wenn sie einen Freund mit nach Hause nehmen, wenn dieser Freund ein Christ wäre, oder vielleicht Atheist, wie würde ihre Familie und ihre Gemeinschaft diesen Entschluss als emanzipierte und deutsche Frau aufnehmen?
Könnte die junge deutsche Muslima weiterhin studieren, durch die Welt reisen und ihre Menschenrechte leben? Würde ihre Familie und ihre Gemeinschaft ihr das Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit gewähren, wenn doch die deutsche Gesellschaft ihr das Recht auf Religionsfreiheit verweigert?
Eine bekannte muslimische Bloggerin wollte mir auf diese Frage nicht antworten, auf mein Drängen hin meinte sie schließlich, dass meine “Lippenstift-Frage” sie an ein bestimtes Milieu erinnere. Eine vernünftige Antwort einer ganz normalen emanzipierten deutschen Muslima.