Hannes Stein / 15.02.2013 / 05:05 / 0 / Seite ausdrucken

Die Liebeskatastrophe

Heute passieren drei Dinge gleichzeitig, die nichts miteinander zu tun haben.

a) Ich trete meine 49. Sonnenumrundung an.

b) Ein Asteroid schrammt haarscharf an der Erde vorbei, siehe hier: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wissen/natur/524333_Asteroid-gefaehrdet-Satelliten.html

c) Mein Roman „Der Komet“ erscheint im Galiani-Verlag. Die junge österreichische Schriftstellerin Vea Kaiser befand über ihn:
»Absurd und glaubhaft, skurril und irrwitzig, durchdacht und überraschend, herrlich und bizarr, höchstkomisch und tieftragisch, vollkommen unkonventionell: ein fabelhaftes Buch, das von einer fantastischen Welt handelt, in deren Schrägheit man sich sofort verliert.«
Hier exklusiv für die Konsumenten der „Achse des Guten“ eine Geschmacksprobe aus dem ersten Kapitel: „Die Liebeskatastrophe“. Voilà:


 

Das Scherengitter rasselte in seiner Führungsschiene vorwärts und schnappte mit einem sanft-metallischen Klicken ins Schloss – trotzdem rührte sich der Aufzug nicht von der Stelle. Er brauchte einen verdutzten Augenblick, bevor er kapierte: Es handelte sich um einen jener altmodischen Aufzüge, wo es im Inneren der Kabine ein zweites Scherengitter gab, das man einrasten lassen musste. Leider blieb der Aufzug danach aber immer noch eisern stehen. Ihn kitzelten die Blicke der anderen Fahrgäste im Nackenhaar, er drehte sich um, und nun erst sah er ihn im Halbdunkel: einen kleinen alten Mann in einer nachtblauen Livrée, dem die Schirmmütze schief im Haar hing. Neben dem Männlein wuchs etwas aus dem Boden des Aufzugs, das so aussah wie ein Maschinentelegraf. Ein Maschinentelegraf? Auf Schiffen hatten solche Geräte früher der Verständigung zwischen Brücke und Maschinenraum gedient: wenn der nautische Offizier den Hebel umwuchtete, hatte es tief drunten im Schiffsbauch gebimmelt, dann wusste die Mannschaft gleich, ob die gewaltigen Schrauben sich hierhin oder dorthin drehen sollten. Volle Kraft zurück – so hatte manches Unglück (erinnern wir uns an die Jungfernfahrt des größten Passagierdampfers aller Zeiten, der „Titanic“) im letzten Moment noch abgewendet werden können. Dieser Maschinentelegraf hier drinnen hatte allerdings rein gar nichts mit Weltmeeren oder Wogengang zu tun; er zeigte keine Fahrgeschwindigkeiten an, sondern Stockwerke. Die hüfthohe Messingsäule kulminierte in einem Ziffernblatt, dem schwarz auf weiß diese Wörter eingestanzt waren: Souterrain, Parterre, Mezzanin; es folgten die römischen Ziffern von eins bis fünf. „G´schamster Diener“, sagte der kleine alte Mann in der Dienstuniform. (Er sagte es wirklich genau so – „g´schamster Diener“. Dabei näselte er auch noch.) „Bitte, wohin darf ich die Herrschaften führen?“
Offenbar handelte es sich bei diesem Aufzug um ein Relikt aus einer längst verwehten Epoche; dabei hatte man die Wende zum neuen Jahrtausend doch auch im I. Bezirk längst überschritten! Es war ein bisschen unglaublich, schließlich lebte man im Zeitalter der Mondflugs, auch der Mikrowellenherd war längst erfunden. Aber wenn die anderen Fahrgäste über solch altmodischen Luxus staunten, ließen sie sich das jedenfalls nicht anmerken. Ein junger Chassid im Kaftan, der als Letzter zugestiegen war, sagte nonchalant: „Dritter.“ Und „fünfter Stock“ wünschte sich der Herr mit den melancholischen Kulleraugen, der dauernd mit dem Seidentaschentuch über seine Spiegelglatze fuhr. Dorthin, also in den Fünften, wollten er und sein Freund auch. Es schoss ihm durch den Kopf, dass er den Herrn mit der Glatze schon irgendwo einmal gesehen hatte, nur wollte ihm partout die Schublade seines Gedächtnisses nicht einfallen, in der er die verstaubte Fotografie mit seinem Gesicht aufbewahrte. Wenn dieser Aufzug nun gar kein Aufzug war, überlegte er eine Sekunde später, sondern eine Zeitmaschine – in welcher Richtung bewegten sie sich jetzt? Fuhren sie beschleunigt der Zukunft entgegen, weil die Reise nach oben ging? Sollte man also behaupten, sie bewegten sich zeitaufwärts? „Zeitabwärts“ würde dann in Richtung Vergangenheit bedeuten. Aber vielleicht hatten solche der räumlichen Vorstellungswelt entlehnte Begriffe überhaupt keinen geraden Sinn, wenn man sie auf andere Dimensionen übertrug. Der Aufzug ächzte in den Seilen. Im dritten Obergeschoß blieb er mit einem Ruck stehen, der chassidische Jude stieg mit wippenden Schläfenlocken aus. Im fünften Stock äußerte das livrierte Männlein: „Endstation, Herrschaften, habe die Ehre.“ Dass die Filmindustrie diesem Faktotum noch zu keiner Karriere verholfen hatte, war eine schreiende Ungerechtigkeit, dachte er.
Aber nun kam der Augenblick, vor dem er sich eigentlich schon seit dem Morgen gefürchtet hatte; jedenfalls fürchtete er ihn, seit er zusammen mit seinem Freund den Stephansplatz überquert, seit er den großen gotischen Dom im Vorübergehen kaum eines Blickes gewürdigt hatte, und die Furcht fuhr ihm noch gewaltiger in beide Knie, als sie in die Rotenturmstraße mit ihren hohen Wohnpalästen einbogen – mit einem Schock wurde ihm bewusst, welch vornehme Adresse die Einladung meinte, der sie an diesem drückend heißen Sonntagvormittag im August gefolgt waren. Das Schlimmste daran: die Einladung galt im Grunde nur seinem Freund und gar nicht ihm. Sein Freund, der Thomas hieß, ein so schöner wie unauffälliger Name, kannte nämlich wichtige Leute. Überhaupt bewegte sich Thomas in Wien wie eine muntere Flussbarbe in der Donau. Thomas überragte ihn um Haupteslänge; Thomas war ein wenig breit in den Hüften und gemütlich. Goldenes Wallehaar fiel ihm in Locken über die Schultern. Im Übrigen war Thomas ein herzensguter Mensch; ganz ohne Ironie und ohne falsches Pathos gesprochen: von Herzen gut. Und wie war Thomas an diese Einladung gelangt? Er hatte einen Onkel, der bei einem berühmten Psychoanalytiker in Behandlung war; und jener Psychoanalytiker frequentierte jetzt schon seit Jahren die Matinéen im Salon der Barbara Gottlieb. Der Psychoanalytiker hatte irgendwann kurzerhand den Onkel mitgenommen, der Onkel wiederum hatte seinen für kulturelle Dinge sehr aufgeschlossenen Neffen mitgeschleppt, und Frau Gottlieb hatte zumindest nicht gegen diesen sanften Überfall protestiert.

Als Thomas ihm vor ein paar Tagen erzählt hatte, er habe zusammen mit seinem Onkel den intellektuellen Salon besucht, der in der Stadt das höchste Ansehen genoss, und als er ihn dann in seiner niederösterreichischen Mundart fragte: „Kummst mit?“, da hatte er spontan geantwortet: „Wie kann man denn da nein sagen?“ Aber wie, um des lieben Himmels willen, hatte er nun wiederum das sagen können? Diese Frage rumorte in seinem Hinterstübchen, seit er heute Morgen seine käsweißen Beine aus dem Bett geschwungen hatte. Die Gottlieb gehörte zur feinen Gesellschaft, er hatte ihr Foto in Klatschmagazinen gesehen; er aber war ein kleiner, ganz unbedeutender Student, der etwas ungeheuer Brotloses studierte: Kunstgeschichte – ein Fremdling war er, ein krummer Ausländer, der in einer dumpfen Bude in Meidling hauste. Und was sollte er überhaupt anziehen? Er besaß nur ein gutes Jackett, aber das hatte leider Saucenflecken am Ärmel; keine seiner Krawatten taugte etwas.
Er hatte nichts in diesem Salon verloren, wo er keine Menschenseele kannte; wahrscheinlich würde er nach Art der Schüchternen über Stunden hinweg beharrlich-trotzig schweigen. Außerdem sollte es an diesem Sonntagvormittag um Lyrik gehen. Er verstand nichts von Lyrik. Und jetzt ließ der Augenblick sich nicht mehr länger wegschieben, auf den sich seine angesammelte Furcht konzentrierte wie auf den perspektivischen Fluchtpunkt in einem Gemälde: der Herr mit dem Taschentuch, sein herzensguter Freund Thomas und er selbst standen vor der Wohnungstür, und der Zeigefinger seines Freundes bewegte sich unerbittlich auf den perlmutternen Klingelknopf zu, und dann schellte es hinten in der Wohnung, und seine Beine, diese erbärmlichen Feiglinge, wollten unter ihm davon- und zurück zum Aufzug laufen – aber der war ja längst wieder in die Tiefe der unteren Stockwerke versunken –, und nun war es zu spät, denn die hohe Wohnungstür tat sich auf, und die Gastgeberin stand im Türrahmen und lächelte.
Zunächst einmal begrüßte Barbara Gottlieb den melancholischen Herrn: „Exzellenz“, sagte sie, während er sich zum Kuss über ihre Hand beugte. Mit einem Mal wurde ihm klar, in welche Schublade seines Gedächtnisses er dieses freundlich-dunkle Mondgesicht sortieren durfte: aber selbstverständlich doch, es handelte sich um den Gesandten des Osmanischen Reiches – hieß er nicht Kevork Bagradian? Seine eindringlichen Armenieraugen waren oft im Fernsehen zu bewundern, er saß in verschiedenen Gesprächsrunden unter lauter besorgt dreinblickenden Fachleuten, wenn es darum ging, die mitunter etwas erratische Politik der Hohen Pforte zu erläutern. (Und wer hätte sich wohl besser zu diesem Berufe geeignet als ein Angehöriger jenes uraltehrwürdigen christlichen Volkes, das seit bald dreitausend Jahren in Anatolien siedelte?) Als nächstes war der goldene Jüngling an der Reihe, von Barbara Gottlieb in den erlesenen Kreis der Kulturmenschen aufgenommen zu werden: „Grüß dich, Thomas“, sagte sie; um ihn auf die Wangen zu küssen, musste sie sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen. „Wo ist denn dein Onkel geblieben?“ Der habe eines geschäftlichen Projektes wegen verreisen müssen, meldete Thomas, so etwas komme bei Ingenieuren ja leider häufig vor; quasi zum Ausgleich habe er aber einen Studienfreund mitgebracht. Und nun wandte die Gastgeberin sich mit ihrem ganzen Wesen ihm zu.
Barbara Gottlieb war eine stadtbekannte Schönheit: Mittelmeeraugen, Olivenhaut, dunkle Locken, volle Lippen. Sie hätte vielleicht Italienerin – aber aus dem Süden, nicht aus dem Norden des Landes – oder eher noch Portugiesin sein können; in Wahrheit stammte sie aus einem sefardischen Geschlecht, das schon seit Jahrhunderten in Wien lebte (ihr Geburtsname war d´Acosta gewesen). Barbara Gottlieb gehörte zu jener Art von Frauen, deren Schönheit nicht matt wird, sondern mit den Jahren eigentlich immer weiter aufblüht; als junge Studentin war sie nur hübsch gewesen, jetzt – im reiferen Alter von 36, nach sieben Ehejahren und nachdem sie zwei kleinen Töchtern das Leben geschenkt hatte – war sie unwiderstehlich. Allerdings führt der Begriff der Schönheit schnell in die Irre und auf gedankliche Abwege. Denn im Gehirn des Schüchternen verbindet dieses Attribut sich beinahe immer mit der Aura der Unnahbarkeit. Schön nennt der Schüchterne also Frauen, die als marmorkühle Statuen in einem Museum für erotische Kunst herumstehen, und auf jedem Sockel warnt eine Tafel in unsichtbarer Frakturschrift: Anfassen verboten. Welcher Reiz könnte davon je ausgehen? Aber Barbara Gottlieb war eben alles andere als reizlos. Belassen wir es für den Moment bei der züchtigen Andeutung, dass sie ein rotweißes Dirndl mit gewagtem Ausschnitt trug – und dieses Dirndl stand ihr ausgezeichnet. Gegen eine kalte Schönheit hätte unser Held sich mit einem Panzer aus Zynismus wappnen können; auf eine arrogante Gesellschaftsdame wäre er mit dem Speer der heimlichen Verachtung losgegangen. Aber den frechen Grübchen in ihren Wangen war er nun wehrlos ausgeliefert. Gegen die Freundlichkeit, die aus der Tiefe ihrer Mittelmeeraugen heraufleuchtete, war kein bitteres Kraut gewachsen. Nichts schirmte seine empfindliche Jungmännerseele vor dem Strahlen ihres Lächelns ab. Und dann roch sie auch noch so gut!


Weiter, wie gesagt, hier.

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