Thilo Sarrazin
Im Jahre 1997 zerschellte eine koreanische Verkehrsmaschine beim nächtlichen Landeanflug auf den Flughafen von Guam an einem Berg. Es gab 228 Tote. Die Untersuchung konnte ein technisches Versagen ausschließen. Es handelte sich um einen Pilotenfehler. Der Pilot war sehr erfahren und an dem betreffenden Tag ziemlich früh aufgestanden. Vielleicht war er übermüdet. Rätselhaft blieb, weshalb die beiden Begleiter im Cockpit, der Copilot mit über 4000 Flugstunden und der Flugingenieur mit mehr als 13.000 Flugstunden, nicht eingriffen, als der Pilot den Sichtanflug einleitete und weiter durchführte, ohne den Flughafen zu sehen.
Die Vermutung war, dass das Autoritätsgefälle zwischen Chef und Mitarbeiter sie daran hinderte, Einwände zu erheben. Der Dialog im Voice-Recorder zeigte, dass sie offenbar im Vertrauen auf den erfahrenen Chefpiloten ihre eigenen Zweifel zurückstellten. Dazu passt der langfristige Vergleich der Unfallhäufigkeit und der Todesfälle zwischen Air France und Lufthansa. Der Vorsprung der Lufthansa kann durch die technische Geräteausstattung nicht erklärt werden kann. Experten machen dafür die unterschiedliche Führungskultur verantwortlich. Das kleinere Autoritätsgefälle im Lufthansa-Cockpit ermutigt offenbar den kritischen Einwand und fördert die Selbstkritik.
Bei großen Wirtschaftsführern sehen wir immer wieder, dass ihr Unternehmen häufig dann in eine Schieflage kommt, wenn sie gerade zum Manager des Jahres gewählt wurden oder auf andere Weise in einen öffentlichen Sonderstatus gerieten, der sie der Kritik enthob. Offenbar werden dann die kritischen Stimmen um sie herum leiser oder sie hören nicht mehr so darauf. So können Fehler leichter geschehen und ihre Folgen länger verdrängt werden.
In der Politik ist das grundsätzlich ähnlich. Deshalb kann ein durch die Demokratie erzwungener regelmäßiger Machtwechsel segensreich sein. Große politische Autorität erhöht die Handlungsfähigkeit, aber sie erhöht eben auch die Risiken, wenn die Machthaber an falschen Entscheidungen festhalten und ihre Folgen so lange kleinreden können, bis es kracht.
Bildhafte Vergleiche sind meistens schief. Aber beim Blick auf die deutsche Flüchtlingspolitik lässt mich das Bild der koreanischen Boeing 747 im Anflug auf das nächtliche Guam nicht los: Im Cockpit eine müde Angela Merkel, die genau weiß „Wir schaffen das“, vor den Fenstern die schwarze Nacht, der Flughafen nicht in Sicht, weil die Wand des unbekannten Berges im Blickfeld steht. Um sie herum zögern Seehofer, Kauder und Gabriel je auf ihre Weise: Seehofer sieht, dass er den Kurs nicht ändern kann und schnallt schon mal heimlich den Fallschirm an. Kauder als Fraktionsvorsitzender verlöre seine Existenzberechtigung, wenn er die Chefin nicht mehr stützt, er übt sich im ratlosen Gerede. Und dem Kopiloten Sigmar Gabriel ist der Kurs mit seinen Risiken gar nicht so wichtig. Er ordnet alles der Frage unter, wie er selbst Chefpilot werden kann.
Hinten, in der Passagierkabine, üben sich einige kritische Passagiere in folgenlosem Gelärme, darunter der Verfasser dieser Zeilen, und werden von den Stewardessen ermahnt, sich doch ordentlich zu benehmen und der Mannschaft im Cockpit zu vertrauen. So nimmt das Verhängnis in Ruhe seinen Lauf. Am Ende sagt ein neuer Goethe – wie einst nach der Kanonade von Valmy - zu den Überlebenden der Katastrophe: „Von hier und heute beginnt eine neue Epoche der Weltgeschichte, und ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.“
Aber halt, wir wissen natürlich nicht, was geschehen wird, auch nicht wann oder wie. Wir wissen nur, dass es so nicht mehr lange gut gehen kann. Aus dem Scheitern von ehemals Erfolgreichen können wir lernen, dass die Quellen ihres Scheiterns und die Quellen ihres Erfolges zumeist identisch sind. So könnte das auch bei Angela Merkel sein: Sie hatte stets ihre großen Durchbrüche, wenn sie sich überraschend an die Spitze einer Bewegung setzte, deren Zeit gekommen schien, auch wenn sie selber zu ihr gar nichts beigetragen hatte: So wurde 1989 beim Untergang der DDR aus der stillen Anpasserin die Wendefrau, so wurde 1999 aus „Kohls Mädchen“ die Denkmalstürzerin. 2003 war sie die Neoliberale, die auf dem Leipziger Parteitag die FDP rechts überholte. 2011 wurde sie nach Fukushima zur Obergrünen und entschied im Alleingang den deutschen Ausstieg aus der Kernenergie.
Jedes Mal hatte sie Erfolg, und erneut schien sie durch eine unvermutete Wendung an der Spitze der Bewegung zu stehen, als sie im September 2015 das geltende Recht aussetzte und die deutschen Grenzen öffnete. Diese letzte Wendung könnte jene sein, die am Ende zu Abstieg und Niederlage führt.
In der Mediengesellschaft sind die Gesetze der Macht sind so elementar wie ungerecht: Erfolg zeugt den Erfolg: Wem das Meiste zu gelingen scheint und wer alle hinter sich lässt, wird gelobt für Erfolge, die gar nicht die seinen sind, so wie Angela Merkel für die neue Stärke der deutschen Wirtschaft, die allenfalls Gerhard Schröders Reformen am Arbeitsmarkt zuzuschreiben ist. Wen dagegen das politische Glück verlässt, der muss bald auch für Misserfolge büßen, die er gar nicht zu verantworten hat.
Der Aufbau politischen Kapitals dauert lang, verbraucht ist es schnell. Ab einem bestimmten Punkt hat die politische Talfahrt ihre Eigendynamik und ähnelt dem Schicksal eines Skifahrers, dessen Ski auf der vereisten Steilpiste ihren Halt verlieren. Ein guter Indikator sind die Karikaturen. Danach hat Angela Merkel den Beginn der Eispiste erreicht. Der Spott beginnt zu überwiegen, nur mit Glück kann sie sich jetzt noch halten.
Vielleicht ist das eine Ermutigung für die feigen Offiziere rund um sie herum, ihr das Steuer zu entwinden und den Kurs zu ändern. Die Steilwand ist da, und der Blindflug bringt sie ständig näher.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche