Vera Lengsfeld / 19.03.2023 / 11:00 / Foto: Selby / 24 / Seite ausdrucken

Die letzte Reise des Matthias Domaschk

Der Schriftsteller Peter Wensierski schildert die letzten drei Tage von Matthias Domaschk, der sich am Freitag, dem 10. April 1981, vom Bahnhof Jena-Paradies auf den Weg nach Berlin machte, bis zum 12. April, an den er im Besucherzimmer der MfS-Dienststelle Gera erhängt aufgefunden wurde. 

Das Buch „Jena Paradies – Die letzte Reise des Matthias Domaschk" von Peter Wensierski ist das Beste, das ich über die Jungendopposition in der DDR kenne. Wensierski, dem wir eine ganze Reihe sehr guter Bücher über die DDR-Opposition verdanken – es seien nur „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ und „Die verbotene Reise“ genannt –, ist noch einmal über sich hinausgewachsen. Lag es daran, dass er sich diesmal wegen der Corona-Zwangspause drei Jahre Zeit nehmen konnte, in der er 60.000 Seiten Akten, teils zum ersten Mal, durchsah und mit 160 Zeitzeugen, Freunden, Bekannten, Verwandten von Domaschk, aber auch Stasileuten, Transportpolizisten und Volkspolizisten, die mit Domaschk zu tun hatten, befragte? Sogar der Rezensent von MDR-Kultur musste heute Morgen eingestehen, dass dies das bestrecherchierte Buch sei, das er zum Thema kenne. 

Nach mehr als dreißig Jahren Vereinigung ist die DDR immer noch ein unbekanntes Territorium für Westdeutsche. Die Freiheitsrevolution von 1989/90 ist keineswegs in eine gemeinsame Erzählung der ehemaligen beiden deutschen Teilstaaten eingegangen. Die erscheint für die meisten im Herbst 1989 aus dem Nichts. Dass es in den 70er und 80er Jahren eine rege, zum Teil sehr kreative Opposition gegen den SED-Staat gab, ohne die der Revolutionsherbst 1989 nicht zustandegekommen wäre, ist weitgehend unbekannt. 

Auch dass es unter der totalitären Oberfläche ein Leben in der DDR gab, jenseits der von der SED vorgegebenen Normen und der Nischengesellschaft, weiß man nicht. Um so verdienstvoller ist es, dass Wensierski diese Lücke füllt. Er zeichnet das Bild vom Leben und Wirken einer Jugendopposition, als wäre er dabei gewesen. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich den Autor unter den damaligen Akteuren vermutet. 

„In Jene lebt sichs bene“, nicht nur das. Die malerische Saalestadt war immer wieder Anziehungspunkt für unabhängige Geister. Ich erinnere nur an den Kreis junger Schriftsteller und Philosophen um die Gebrüder Schlegel und ihre Frauen, der sogar Goethe und Schiller anzog. 

Am Ende standen die ersten Abschiebungen in den Westen

In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts formierte sich ein großer Kreis Jugendlicher, die in diversen Abbruchhäusern wohnten und ein gemeinsames Leben ausprobierten. Domaschks Wohnung Am Rähmen war nur einer der Treffpunkte, ein anderer war ein Haus in der Gartenstraße oder die Junge Gemeinde Jena-Mitte. Man feierte und wanderte gemeinsam, las, diskutierte, plante aber auch Proteste gegen das SED-Regime. Anlässe gab es genügend: Ein Überfall auf ein Fest in der Gartenstraße, mit heftigen Prügeleien und Festnahmen, führte dazu, dass viele Beteiligte Eingaben gegen die ausgeübte Gewalt schrieben. Das wiederum war Vorwand für die Staatssicherheit, die Eingabenschreiber zu verhaften und zum Teil ins Gefängnis zu stecken. Am Ende standen die ersten Abschiebungen in den Westen. 

Als der Liedermacher Wolf Biermann, der in den 70ern häufig nach Jena kam, um seine damalige Geliebte Sybille Havemann zu besuchen, nach seinem Kölner Konzert ausgebürgert wurde, gab es die nächste große Aktion. Die jungen Leute unterstützten den Brief prominenter Schriftsteller wie Christa Wolf, Sarah Kirsch und Jurek Becker, der erstaunlich milde war und lediglich darum bat, die Ausbürgerung zu „überdenken“, mit Unterschriftensammlungen, nicht nur in Jena, sondern in allen Orten, in denen die Jenenser Kontakte hatten. Domaschk war in dieser Angelegenheit viel unterwegs. Es gab wieder eine Festnahmewelle, Verhöre, Verhaftungen, Abschiebungen. Auch Domaschk wurde stundenlang verhört und erwies sich den Methoden der Staatssicherheit nicht gewachsen. Ein Plan, ihn als IM – Inoffiziellen Mitarbeiter – anzuwerben, wurde jedoch nicht ausgeführt. 

Übrigens ließen die prominenten Schriftsteller jegliche Solidarität mit ihren jugendlichen Unterstützern vermissen. 

Domaschk war, was man heute einen begabten Netzwerker nennen würde. Er reiste nicht nur kreuz und quer durch das Land, sondern nach Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, um Kontakte zu knüpfen. Er erlebte in Danzig an der Leninwerft die Entstehung von Solidarność mit und kam mit den Adressen führender polnischer Oppositioneller zurück. Er besuchte Peter Uhl, den Mitbegründer von Charta 77 und hatte sogar Verbindungen nach Westberlin, nicht nur zu den ehemaligen Jenensern um Jugenddiakon Thomas Auerbach, sondern auch zu linksradikalen Kreisen.

Im Besucherzimmer des MfS-Gera erhängt aufgefunden

Wensierski schildert die letzten drei Tage von Domaschk, vom Freitag, dem 10. April 1981, an dem er sich, Feuchtwangers „Falschen Nero“ im Gepäck, mit seinem Freund Peter Rösch, genannt Blase, auf den Weg nach Berlin machte, um dort an einer Geburtstagsfeier teilzunehmen. Das Buch endet am Sonntag, dem 12. April, an dem er am frühen Nachmittag, im Besucherzimmer der MfS-Dienststelle Gera – in das er gebracht worden war, weil er dort unkontrolliert auf die Fahrt nach Jena in die Freiheit warten sollte – erhängt aufgefunden wurde.

In den Rückblenden dazwischen erzählt Wensierski die Vorgeschichte abwechselnd aus der Sicht von Domaschk und seinen Freunden oder der Stasimänner. Erstaunlich, wie Wensierski die Stasileute zum Reden gebracht hat. Ein besonderes Erlebnis war für mich die Schilderung einer Kaffeerunde mit Mandarinentörtchen in der MfS-Dienststelle Jena, wo die Teilnehmer über abwesende Kollegen herziehen, und sich über ihre vielen Sondereinsätze beschweren.

Zum Verhängnis wurde Domaschk, dass der X. Parteitag der SED in Berlin tagte, als er dorthin wollte. Die Stasi wusste, dass er Kontakt zu einem Mitglied einer Thüringer Terrorgruppe hatte, die tatsächlich Anschläge verübt hat, unter anderem auf den Weimarer Zwiebelmarkt. Freilich wies nichts im Gepäck von Domaschk und Rösch darauf hin, dass sie einen Anschlag auf den Parteitag geplant haben könnten, aber die Jenaer Stasi, die unter besonderem Erfolgsdruck stand, weil sie als ineffektiv galt, wollte die Gelegenheit nutzen, um in Verhören mehr Informationen zu sammeln. Das gelang leider bei Domaschk so gut, dass sie am Ende Material in der Hand hatten, das für einen Prozess ausgereicht hätte: Feindliche Verbindungsaufnahme wäre nur ein Anklagepunkt gewesen. Aber die Stasi entschied sich, Domaschk stattdessen als IM anzuwerben. Der junge Mann war am Ende so gebrochen, dass er die Verpflichtung unterschrieb.

Junge Menschen in den Tod getrieben

Der Letzte, der mit Domaschk gesprochen hat, war sein Bearbeiter aus Jena. Dabei muss er Domaschk klar gemacht haben, dass es kein Zurück für ihn gab. Als Domaschk endlich allein war, muss ihm klar geworden sein, zu was er sich hatte nötigen lassen. Er konnte das nicht ertragen und erhängte sich mit seinem Hemd am Heizungsrohr. Sein Vater sagte später, sein Sohn hätte ihm angekündigt, sich aufzuhängen, wenn ihn die Stasi noch einmal abhole. Er wüsste, wie man das machen muss. Er muss es gewusst haben, denn so einfach ist das nicht. 

Es ist erschütternd, wie das SED-Regime mit seiner paranoiden Angst vor Widerspruch, seiner Unduldsamkeit gegenüber anderen als den vorgesehenen Lebensentwürfen und der Brutalität des Vorgehens seiner „Organe“ besonders junge Menschen in den Tod getrieben hat. Die Selbstmordrate in der DDR war die zweithöchste in Europa.

Beim Jenaer Kreis handelte es sich keineswegs um Feinde des Sozialismus. Im Gegenteil, sie waren alle links und wollten lediglich ihren Traum von einer besseren Welt verwirklichen. Sie hofften immer noch, auch nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, auf den Sozialismus mit menschlichem Antlitz und bekamen eine Fratze zu spüren, die das Gegenteil war. 

 

Peter Wensierski: „Jena Paradies“

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Jürgen Frohwein / 19.03.2023

“sie waren alle links” Liebe Frau Lengsfeld, als damaliger Thüringer kannte ich Peter Rösch und einige andere aus Jena, ja sie waren oppositionell und wollten ihren ganz persönlichen Lebensentwurf verwirklichen aber “links” wie wir es heute verstehen waren diese Menschen ganz gewiß nicht, und verquaste Theoretiker des ” besseren” Sozialismus habe ich nicht kennen gelernt. Das Schicksal von Matthias Domaschk ist kein Einzelfall, es wurden viele Menschen durch Staasi und SED deformiert und zerstört, die Täter leben z.T. noch heute unbehelligt unter uns, den meisten heute geht das am A. vorbei, im Gegenteil ist es erschreckend zu beobachten wie große Teile der Gesellschaft “zurück in die Zukunft” und damit zu Parteidiktatur und Staasi-Methoden wollen.

Wilfried Düring / 19.03.2023

Peter Wensierski bürgt für Qualität! Er ist einer der wenigen West-Journalisten, die unbestritten Ahnung vom Osten haben. Wensierski redet, schreibt und richtet nicht ÜBER den Osten; sondern spricht ganz einfach MIT den Dunkel-Deutschen - wie er das auch zu DDR-Zeiten schon getan hat. Auch die Vorlage für den späteren Films ‘Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution’ über die Leipziger-Oppositionsszene stammt aus Wensierskis Feder. Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung - gerade im Westen und gerade bei den jüngeren Semestern. Liebe Frau Lengsfeld, vielen Dank für diese Besprechung. - Peter Wensierski ist auch ein begabter Moderator. Er hat versucht, was sich nicht viele trauen. Als gute Deutsche wissen wir: Mit Schmuddelkinder spielt und redet man nicht. In der Ostzone war in diesem Sinne Matthias Domaschk ein typisches Schmuddelkind. HEUTE sind ‘Schmuddelkinder’ (natürlich) rächtzs - was auch sonst? Wer mit ihnen spricht, gerät unter Verdacht (das war in der DDR auch schon so). Peter Wensierski schaffte es im Rahmen der ‘Wir müssen reden!’-Kampagne der ‘Bundesstifung Aufarbeitung’ (kein schlechter youtube-Kanal) zwei über die Jahre zu politischen Gegnern gewordene ostdeutsche Oppositionelle, die von 1990-1994 auch in einer gemeinsamen Bundestagsfraktion gearbeite hatten, am 15.09.2021 an einen Tisch zu holen: Vera Lengsfeld und Werner Schulz. Wensierski moderierte sachlich und voller Empathie für beide Lebenswege. Der Gesprächsversuch scheiterte, weil Werner Schulz mehrfach ausfallend wurde und seine ehemalige Kollegin mit Verdächtigungen, Verleumdungen und haltlosen Unterstellungen geradezu überzog. Da Schulz inzwischen verstorben ist, will ich nicht noch konkreter werden ... - Das Video dieser Veranstaltung (über die auch die Achse berichtet hat) war 48h im Netz und ist seitdem verschwunden. Ich würde schon gerne wissen: Wer hat dafür gesorgt, daß dieses Video/Interview aus dem Internet entfernt wurde? Wen glaubt man damit zu schützen?

Peter Thomas / 19.03.2023

Nach dem Glückstaumel des Mauerfalls setzte Anfang der 90er Jahre die große Frustration bei mir ein: Als mir klar wurde, daß es praktisch keine Strafen für die verbrecherischen Herrscher der DDR geben würde, daß die Herrscher und ihre Schergen vielmehr anstandslos in die “neuen Strukturen” eingegliedert wurden und ihre Karrieren nach einer eleganten “Wende um 360 Grad” (das Trampolin) fortsetzen konnten. Die Herrscher und ihre Schergen (Stasi: knapp 100.000 Hauptamtliche!) waren letztlich die größten Nutznießer der Wiedervereinigung, und den Unterdrückten der DDR blieb allzumeist die Arschkarte. // Über den Zusammenhang der nicht delegitimierten DDR und dem furchtbaren Zustand des heutigen Deutschlands darf nachgedacht werden.

Gerhard Schmidt / 19.03.2023

Terroranschläge in der DDR? Dazu wüsste ich gerne mehr!

Dirk Jäckel / 19.03.2023

Man muss nicht nur die Namen der SED-Opfer nennen, sondren auch die Namen derer, die dem Regime als Zuträger gedient haben und noch immer in der SED hohe Positionen innehaben.  Etwa Torsten Koplin in Mecklenburg-Vorpommern (andere Beispiele bei der Thüringer SED). Gut, der hat sein Bedauern ausgedrückt, aber es ist schon dreist, unter den Umständen weiter Politik mitgestalten zu wollen. Größer ist aber meine Verachtung solchen Leuten gegenüber, die keinerlei Probleme damit haben, mit einstigen Stasispitzeln Koalitionsverhandlungen zu führen. Ihr Name: Manuela Schwesig. So als würde sie dem großen Sozialdemokraten Kurt Schumacher ins Gesicht speien.

A.Schröder / 19.03.2023

“Beim Jenaer Kreis handelte es sich keineswegs um Feinde des Sozialismus”. Diese beständige Gleichheit, zu allen Zeiten, und auch Heute, wer ein Feind ist entscheiden andere.

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