Rainer Bonhorst / 17.01.2019 / 13:59 / Foto: Matt Brown / 16 / Seite ausdrucken

Die Leiden der armen Theresa

Kann Europa versehentlich in ein totales Brexit-Chaos schlittern? In der Politik sind solche folgenschweren Versehen keine Seltenheit. Historiker gehen heute davon aus, dass Europa aus Versehen (also aus Dummheit) in den Ersten Weltkrieg geschlittert ist. Während des Kalten Krieges wäre beinahe ein Atomkrieg zwischen Amerika und Russland (also zwischen uns allen) ausgelöst worden, hätte ein russischer Offizier nicht klüger gehandelt als die von der Politik eingerichtete Automatik. Aber wir wollen nicht schwarz sehen. Ein Brexit ohne Abkommen wäre kein Welt- und kein Atomkrieg. Er wäre saublöd, aber er wäre zu überleben.

Dass Theresa May die letzten Tage überlebt hat, ist ein Phänomen anderer Art. Sie überlebt als Opfer einer politischen Variante der chinesischen Wasserfolter: Man bereitet der Armen Höllenqualen, hält sie aber sorgfältig am Leben. Die Höllenqual war das Abschmettern ihres Brexit-Abkommens in extrem schmerzhafter historischer Rekordhöhe. Das Überlebenlassen war das anschließende Überstehen des Misstrauensvotums. Die Folterknechte aus den eigenen Reihen, die sie quälten, hielten sie grinsend im Amt.

Um sie weiter zu quälen? Ein Fall von Sadismus also? Nein, ein klarer Fall von Bewusstseinsspaltung. Und zwar bei den Tories und bei Labour. Beide Parteien sprechen mit mehrfach gespaltener Zunge, und lassen Theresa May dafür leiden. Und warum läuft die Gequälte nicht einfach weg? Es hat sie ja keiner eingesperrt oder gefesselt. Ein Fall von Masochismus? Vielleicht. Mrs. May sagt sich offenbar: Ein bisschen halte ich noch aus. Vielleicht kriegen die Folterknechte am Ende doch Angst vor der eigenen Courage. Vielleicht kommt doch noch etwas Gescheites heraus. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Charles für die Alt-Briten, William für Jung-Britannien

Da aber Rettung im Moment aussichtslos erscheint, haben wir eine Situation, in der man nicht linear, sondern lateral denken sollte. Hier also meine – zugegeben nicht ganz ernst gemeinten – lateralen Lösungsvorschläge:

Erstens: Schottland trennt sich doch noch von England und bekommt im Schnellverfahren eine eigene EU-Mitgliedschaft. Das hat bisher nicht geklappt, weil die Schotten nur halbherzig mitspielten und die EU auf stur schaltete.

Zweitens: Der Südwesten Englands, also die europafreundlichen Regionen um London herum, in denen man das wunderbare „Estuary-Englisch“ spricht, lösen sich vom provinziellen Rest Englands und bekommen – wie Schottland – eine eigene EU-Mitgliedschaft im Schnellverfahren.

Drittens: Das Vereinigte Königreich teilt sich in einen Jugend-Staat und in einen Staat der alten Knacker auf. Die Jungspunde – sagen wir: bis 40 – bekommen ihre eigene EU-Mitgliedschaft im Schnellverfahren. Die Alten dürfen draußen bleiben und können die Kontakte mit den Ländern des Empires wiederbeleben. Ob Queen Elizabeth in diesem Fall Königin beider Generationen bleibt, ist ihre Entscheidung. Vielleicht teilt sie ihr Erbe ja auf: Charles für die Alt-Briten, William für Jung-Britannien.

Flexibilität ist nicht die Stärke der EU

In all diesen Fällen müsste Brüssel über seinen Schatten springen und sich als höchst flexibel erweisen. Flexibilität ist allerdings nicht die Stärke der Europäischen Union. Im Gegenteil: Brüsseler Kleinkariertheit hat über Jahre hinweg kräftig daran mitgewirkt, dass eine knappe Mehrheit der britischen Wähler genug Frust angesammelt hat, um die Scheidung einzureichen. Zu einer Scheidung gehören immer zwei, auch wenn einer, in diesem Fall Brüssel, das Unschuldslamm spielt. Hätte sich die Europäische Union mehr um das große Ganze gekümmert und weniger um das kleine Karo, dann hätten wir heute den Salat gar nicht.

Nun gut, das ist der Schnee von gestern. Wäre, wäre, Fahrradkette, um Lothar Matthäus zu zitieren. Wir werden wohl weiter schlittern. Wohin? In eine irgendwie geartete Tragikomödie. Und eines muss der Neid den Briten ja lassen: Ihr Unterhaus bietet erstklassiges Entertainment. 

Die beiden Tage des Abschmetterns und des Lebenlassens waren ganz großes Kino. Allein schon der altehrwürdige Trick, dass nur ein Teil der Abgeordneten einen Sitzplatz im Unterhaus hat, sorgt für eindrucksvolle Inszenierungen. Wenn es drauf ankommt, müssen jede Menge Abgeordnete stehen. Da herrscht dann ein Gedränge wie beim Rugby. Und dann diese Zwischenrufe. Das „yeah“ und das „hear, hear“! Und der Speaker. Er wirkt wie der Dirigent eines eigensinnigen Orchesters. Das ist das Drama der Demokratie mit der dazugehörigen permanenten Chaos-Gefahr. Das macht den Briten so schnell keiner nach. Die Show wäre Eintrittspreise wie in Bayreuth wert.

Von einem so unterhaltsamen Mitglied sollen wir nun also Abschied nehmen. Schade, schade, schade. 

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Leserpost

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Dirk Jungnickel / 17.01.2019

Mich wundert schon immer, dass die Abgeordneten im Unterhaus gezwungen sind, sich derartig auf die Pelle zu rücken. Soll das die Sitzungen verkürzen oder haben da die Deo - Produzenten ihre Hand im Spiel ?  Von Flexibilität kann möglicherweise schon deshalb keine Rede. Von erstklassigem Entertainment kann ja wohl keine Rede sein; ich habe schon beim Anblick der Bedauernswerten Schweißausbrüche, und ich kann die Mitleidstränen kaum unterdrücken. - Oder hat jemand eine plausible Begründung für diese Foltermethode ?

Klaus Reichert / 17.01.2019

Die Königskinder sind ja recht cool und lustig, besonders Harry, der ja schon mal scherzhaft eine Nazi - Uniform trug. Auch über die Vorfahren ist die Verbindung zu Deutschland recht eng. Ich erinnere mich, dass Kanzler Schröder einst in Britannien erwähnte, dass das Land ja schon mal von Hannover aus regiert wurde. Das kam gut an. Man sollte in diesem Zusammenhang aber gleich eine Klausel anbieten, die das englische Königshaus vor jeder Begegnung mit Prinz Ernst - August schützt. Daran könnte das sonst scheitern.

Ulli Drübbisch / 17.01.2019

Lieber Herr Bonhorst, ich denke, Sie sehen es mit einem Lächeln im Knopfloch aber doch eher aus der deutschen Scharte. Die Engländer sind selbstbewusst, haben eine hohe Leidenskapazität und grundehrliche Ur-Demokraten. Sie rechnen einfach genau, was möglich ist und pflegen eine hohe Verantwortung gegenüber ihrem Staat. Loyal nenne ich es. Ein Zehntel der Qualität von Th. May für unser Regierungswesen und wir hätten einen richtigen demokratischen Staat mit verantwortungsvollem Umgang mit der Staatsknete. Galt übrigens auch für Mrs.Thatcher, eine trockene Erz-Puritanerin aber für Ihr Land: “I want my money back!” Was ist denn nach deutscher gender-mainstream-Presse Grosses wirklich passiert? Die EU hat ein Wischiwaschi-Trennungsvertrag aufgesetzt und das britische Parlament hat ihn mit einfacher Mehrheit für Quatsch erklärt. Mrs.May hat via Vertauensvotum angefragt, ob sie weitermachen soll und das Parlament hat zugestimmt. So was nenne ich keine “Katastrophe” oder “Chaos” sondern GELEBTE DEMOKRATIE ! Ich wünschte wir Schlesw.-Holsteiner könnten auch zu unseren Angel-Sachsen auf der anderen Seite der Nordsee zurück. Mit dem Verlust Britanniens fehlt der EU nun ein “Einwand der Vernunft”. Die EU hat Ihre Not-Bremse weggeworfen….Das wird nun richtig interessant. Ulli Drübbisch

Karla Kuhn / 17.01.2019

Zu dem ganzen Brexit Theater sollte man gar keine Stellung meh nehmen. Raus aus der EU und fertig. Die Welt dreht sich weiter und England geht mit Sicherheit nicht unter. Für mich ist das alles nur Angstmacherei. England bleibt Finanzplatz Nr. Eins, die “Reichen und Schönen” werden sich weiterhin die sündhaft teuren Immobilien kaufen, besonders in London und damit die Alteingesessenen vertreiben, weil die sich diese Wohnungen nicht leisten können. Und vielleicht wird sich England wirtschaftlich auch China und Amerika zuwenden. Deutschland hat ernste Probleme bis zur Halskrause und sollte erst mal vor der eigenen Türe kehren !!

H. Otten / 17.01.2019

Die EU verhält sich wie ein Monopolist: Die Briten werden höchst unfrei und unfein aus der EU entlassen. Norwegen zahlt jährlich einen hohen dreistelligen Millionenbetrag, um am EU-Binnenmarkt teilnehmen zu können. Die Schweiz soll in ein ähnliches Rahmenabkommen gezwungen werden. Eine interne Weisung der EU-Kommission vom 10.01.2019 besagt, dass der heutige Marktzugang der Schweiz ohne Rahmenabkommen zu erodieren droht. So wird der Abschluss neuer Verträge über die Beteiligung der Schweiz an Teilen des EU-Binnenmarkts ohne Rahmenvertrag ausgeschlossen. Die EU versucht, systematisch die Souveränität der europäischen Länder zu untergraben. Sie denkt gar nicht daran, ihre zentralistische Bürokratie auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Im Gegenteil setzt sie den „Kurs der Vertiefung“ stärker denn je fort. Im Umgang mit den Briten wird jetzt vorgeführt, dass kein weiteres EU-Land es jemals wagen sollte auszutreten. Koste es, was es wolle. Das EU-Imperium forciert seinen totalitären Kurs. Erst recht, sobald die Wahlen zum EU-Parlament abgehakt sind. Und die Demokratien in den EU-Ländern bleiben auf der Strecke.

edmund amergin burke / 17.01.2019

ERSTENS : Ulster hört auf, die älteste britische Kolonie zu sein !  One Island - One Ireland !

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