Detlef Rogge, Gastautor / 25.12.2019 / 17:00 / Foto: Danilo Škofič / 17 / Seite ausdrucken

Die Leiden der Ärzte

Als ich vor zwanzig Jahren bei der morgendlichen Katzenklosanierung schwungvoll in die Hocke ging, goutierte das linke Kniegelenk meine Leichtfertigkeit mit einem morbiden Knacken. Das war’s dann, klassischer Meniskusriss, selbst unter Schmerzen ließ sich das Bein nicht mehr strecken. Noch für den Abend des gleichen Tages erhielt ich einen Termin bei einem mir noch unbekannten Orthopäden, der mir nach manueller Untersuchung und ernstem Blick auf das Röntgenbild die unheilschwangere Frage stellte: „Haben Sie morgen schon was vor?“ Am nächsten Tag fand ich mich zur ambulanten Operation ein, bei der mir der Medikus mit sachkundiger Hand wieder zu gewohnter Mobilität verhalf. Abgerechnet wurden seine Bemühungen über die gesetzliche Krankenversicherung.

Zwanzig Jahr später ist an eine derart rasche Vorsprache und Verarztung nicht einmal mehr im Traum zu denken. Gibt es weniger Ärzte, haben sich deren Sprechzeiten halbiert, hat sich die Anzahl ihrer Patienten erhöht oder gehen diese einfach öfter zum Arzt als früher? Gibt es gar einen Nexus zwischen schleppender Terminvergabe und pauschalierter Vergütung ärztlicher Leistungen? Eine erhellende Erklärung für das Phänomen, Arzttermin am Sankt Nimmerleinstag, steht für mich noch aus.

Bemerkenswert auch ein Trend bei der telefonischen Kontaktaufnahme, der mitunter stundenlanges Bemühen vorausgeht. Fragt man heutzutage bei Fachärzten wegen eines ersten Behandlungstermins an, hört man nicht selten die wie beiläufig klingende Frage: „Und wo/wie sind Sie denn versichert?“ Ob nun Mitglied der AOK, DAK oder BARMER ist ohne Belang, dechiffriert heißt es natürlich nichts anderes, als: „Kasse oder privat?“, was man sich im Klartext meist nicht zu fragen wagt. Je nach Einlassung entscheidet sich für den arglosen Patienten, mehrfach selbst getestet, ob man als Newcomer überhaupt genehm ist und die Terminvergabe sowieso.

Wirksamkeit von Selbstheilungskräften abwarten

Will man in die Sprechstunde, beispielsweise eines Kardiologen, Orthopäden oder Augenarztes, der obendrein sein Handwerk versteht, ist als Kassenpatient mit monatelangen Wartezeiten zu rechnen; genügend Abstand also, um bis zur Vorsprache geduldig die Wirksamkeit von Selbstheilungskräften abzuwarten oder den Weg alles Irdischen zu gehen. Beides erspart spätere ärztliche Konsultationen. Lange Wartezeiten müssen also nicht automatisch von Nachteil sein. Privat kann man meist schon binnen Wochenfrist sein Leid klagen.

Wer als gesetzlich Versicherter keine Geduld aufbringt, dem steht es immerhin frei, sich einen Privattermin zu kaufen. Europaweit und in Amerika ein völlig normaler Service (wussten Sie nicht?), so jedenfalls der offiziellen Website eines Augenarztes zu entnehmen:

„Viele Patienten beklagen sich über langfristige und manchmal auch zeitlich ungünstige Termine oder über zu wenig Zeit, die der Arzt für sie hat. Ursache sind neben der großen Nachfrage auch politisch gewollte Budgetierungen der Kassenleistungen. Wir bieten deshalb auch unseren Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen den Service, sie zu angemessenen Preisen (circa 50–100 Euro, circa 30 Minuten) in aller Ruhe und zum gewünschten Zeitpunkt ausführlich zu beraten und zu untersuchen (dies ist übrigens in allen europäischen und amerikanischen Ländern völlig normal). Sprechen Sie uns an oder vereinbaren Sie einen individuellen Termin unter ………. oder per Email.“

Den Unterschied zwischen kassen- und privatärztlichem Service kenne ich seit Jahrzehnten. Freiwillig gesetzlich versichert, zahle ich Beiträge wie ein Selbstständiger, also ohne Bezuschussung durch einen Arbeitgeber, allerdings habe ich als Pensionär Beihilfeansprüche gegen den Dienstherrn, sodass privatärztliche Behandlungen, jedoch mit dreißigprozentiger Eigenbeteiligung, notfalls machbar sind. Falls der geschätzte Leser in der absonderlichen Form meiner Risikoabsicherung im Krankheitsfall die Logik vermissen sollte, gebe ich ihm recht, es gibt keine. Als Auslaufmodelle dürften wohl nur noch wenige, meist ältere Beamte, derart abenteuerlich versichert sein.

Die große Mehrheit meiner Berufsgruppe ist kostengünstig privat versichert (50–80 Prozent der Krankheitskosten bei in der Regel 2,3- bis 3,5-fachem Hebesatz der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) trägt der Dienstherr aus Steuermitteln), die gemeinsam mit Angehörigen rund die Hälfte der PKV-Mitglieder ausmacht. Erst dieses Reglement, mehr als fragwürdig abgeleitet aus den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ – Art.33 Abs. 5 GG –,  garantiert privaten Krankenversicherungen seit Jahrzehnten auf Kosten der Steuerzahler ihre auskömmliche Existenz.

Bedürftige Mediziner

Ohne eine derartige Subventionierung und dem Abschieben „schlechter Risiken“ in die GKV wären die privaten Krankenkassen längst Sanierungsfälle. Der selbst so versicherte Prof. Karl Lauterbach (SPD) erklärte in der SZ vom 17. Mai 2010: „Die PKV lebt im Grund parasitär von den gesetzlichen Kassen, dieses Verhalten ist nicht schützenswert“, und in der WirtschaftsWoche vom 1. September 2019 kritisierte er eine „ungerechte“ Subventionierung der privaten Krankenversicherung durch Beihilfe für Staatsdiener. Ansonsten kein Fan des Professors, teile ich in dieser Angelegenheit ausnahmsweise seine Meinung. Was eine von ihm favorisierte, für alle verbindliche Bürgerversicherung an Tücken birgt, weiß niemand; die Freiheit, sich privat zusätzlich abzusichern, bliebe dem Patienten jedenfalls unbenommen.

Die meisten Kassenärzte klagen seit Einführung der Fallpauschale über nicht mehr leistungsgerechte Vergütung ihrer Bemühungen. Ein vorwitziger Vertreter der orthopädischen Zunft entblödete sich nicht, seinen Patienten im Warteszimmer mittels eines selbstgebastelten Aushangs in unterhaltsamer Form seinen drohenden Bankrott zu verdeutlichen. Ein variabler schwarzer Zeiger auf grünrotem Grund informierte gleich einem Wasserstandspegel über das aktuelle Kassenbudget und damit fraglos über die Motivation des Heilkünstlers, im laufenden Quartal weitere gesetzlich versicherte Patienten zu empfangen. Meine provokante Anregung zum Aufstellen eines Sparschweins im Sprechzimmer beendete erwartungsgemäß das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis, noch ehe es begonnen hatte.

Ein anderer bedürftiger Mediziner – Facharzt für Augenheilkunde – erklärte mir zur Kurzweil während eines kleinen ambulanten Eingriffs – Wartezeit mehrere Monate –, dass er für solcherart Bemühungen nur draufzahlen würde, selbst die Stromkosten der OP-Lampen (sic) würden durch den Kassensatz nicht gedeckt. Nur aus reiner Barmherzigkeit würde er Leistungen wie diese – eine Hagelkorn-OP – überhaupt noch anbieten. Angesichts seines Skalpells hielt ich es für ratsam, ihn für seine Großherzigkeit zu loben. Weil mich operationsreife Hagelkörner mindestens einmal jährlich heimsuchen, gehe ich seitdem in eine Privatpraxis, Konsultationstermin binnen einer Woche, Behandlungstermin im angeschlossenen ambulanten Operationscenter nach Wunsch inklusive Händchen haltender, adretter Weiblichkeit. Restkosten für mich, etwa 100 Euro, Nervenersparnis, 100 Prozent.

„Das Medikament kann ich empfehlen, nehme ich auch selbst.“

Völlig absurd das Erlebnis in der Sprechstunde eines Nervenarztes. Mit offenkundig nicht nur servilem Naturell geschlagen und, wie ich erst später erfuhr, legendär, weil sich gern selbst von Patienten in akuten Sinn- und Lebenskrisen beraten zu lassen, lockte dieser in einschlägigen Portalen mit durchweg exzellenten Bewertungen. Der Praxisbetreiber eröffnete mir bei meinem ersten und zugleich letzten Besuch – Termin binnen weniger Tage bei privatärztlicher Konsultation –, er wäre zu arm, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Er hätte deshalb schon des Öfteren im Auto und in den Praxisräumen übernachten müssen, jetzt wohne er immerhin schon zur Untermiete.

Schuld an seiner zeitweisen Obdachlosigkeit sei überwiegend die geringe Vergütung für seine meist kassenversicherten Patienten. Die Zahlungsmoral seiner Privatpatienten wäre katastrophal, viele würden gar nichts zahlen, manche nur schleppend in Raten und seine geschiedene Ehefrau ihn obendrein mit horrenden Unterhaltsforderungen aus purer Boshaftigkeit in den Ruin treiben wollen. Alle würden ihn seiner bekannten Gutherzigkeit wegen nur ausnutzen. Mindestens neunzig Prozent seiner Patienten wären schlimme Simulanten, die nichts unversucht ließen, sich mit Hilfe seiner allseits anerkannten Gutachten vor rechtschaffener Arbeit zu drücken.

Angesichts der aussichtslosen Lage des durchaus sympathischen Mediziners ging es mir schlagartig um einiges besser, so dass ich mir weitere Konsultationen ersparen konnte. Jahre später hörte ich von einer Bekannten, die den Nervenarzt paradox gleichfalls wegen einer depressiven Verstimmung aufgesucht hatte, er hätte ihre Skepsis gegenüber Antidepressiva mit der grotesken Ausführung zerstreuten können: „Das Medikament kann ich Ihnen wirklich empfehlen, nehme ich auch selbst.“

Ich bin im Berliner „Brunnenviertel“ zu Hause, hier ist die Arztdichte im Verhältnis zu bürgerlich geprägten Bezirken eher mäßig. Das erklärt sich leicht. Einerseits tendiert hier die Anzahl der Privatpatienten gegen Null, andererseits kann sich die Verarztung landessprachunkundiger Patienten, meist orientalischer Provenienz, als nervenzehrend und mitunter riskant erweisen und, so meine Erfahrung, schon mal Ewigkeiten dauern. Verständlicherweise ist kein Mediziner mit auch nur ansatzweisem Verstand und Talent willens, hier langfristig sein berufliches Dasein zu fristen. Zur Konsultation von Fachärzten mit guter Reputation bin ich es längst gewohnt, durch die halbe Stadt zu fahren, das macht auch nichts, denn solcherart Besuche sind eher selten und planbar.

Früher war alles besser: Sprechzeiten unbekannt

Mediziner sind längst zu austauschbaren Dienstleistern abgehalftert, denen man sich immer weniger verbunden fühlt und deren Fertigkeiten, Manieren und Geschäftsgebaren sich auf Internetportalen ungeniert bewerten lassen. Wie war es mit ärztlicher Ethik und der Sorge des Berufsstandes, insbesondere der Hausärzte, um das Patientenwohl früher bestellt? Brachte man Ärzten mehr Respekt entgegen, war die Anspruchshaltung der Patienten und Mediziner einfach noch eine andere? Folgen Sie mir in die Praxis eines Hausarztes in den fünfziger und sechziger Jahren, in eine Zeit, in der zwischen Privat- und Kassenpatienten noch nicht unterschieden wurde. Alles ist wahr, meine einundneunzigjährige Mutter half eigenen, noch guten Erinnerungen auf die Sprünge.

Mitte der fünfziger Jahre waren Arztpraxen in Berlin rar gesät. Der erste Hausarzt meiner Familie praktizierte nur einige hundert Meter entfernt von unserer im Berliner Bezirk Wedding gelegenen Wohnung. Von den meisten praktizierenden Medizinern war in jenen Jahren sicher anzunehmen, dass ihnen als ehemalige Militärärzte das Elend in Feldlazaretten wohl vertraut war. Folglich hielten sich deren Verständnis und Mitgefühl für gesundheitliche Lappalien wehleidiger Zivilisten in engen Grenzen. Dr. Artur Geisler stand als Prototyp für jene Gattung. Auf dem weißen Emailleschild am Hauseingang war neben seiner Fachrichtung – Praktischer Arzt – der Zusatz „Oberstabsarzt a.D.“ zu lesen, weswegen er von ehemaligen Militärs unter seinen Patienten, so auch von meinem Vater, mit „Herr Oberstabsarzt“ angeredet wurde. Sein hohes Alter ließ durchaus die Annahme zu, dass er sich den militärärztlichen Rang bereits im kaiserlich-preußischen Heer erworben haben konnte.

Dr. Geisler praktizierte in der ersten Etage eines Mietshauses, das den Krieg bis auf kleinere Blessuren wundersam überstanden hatte. Auf der gleichen Etage befand sich auch seine Privatwohnung. Das war praktisch, ersparte es ihm Zeit und Wege. Den Warteraum der Praxis, spartanisch bestuhlt mit weiß lackierten polsterlosen Holzbänken ohne Rückenlehnen, betrat man mit der Frage: „Wer war der Letzte?“ Terminvergaben waren damals noch völlig unbekannt, kaum jemand besaß ein Telefon, das Ende der Sprechzeiten richtete sich nach der Anzahl der Patienten. Dr. Geisler behandelte grundsätzlich alle Krankheiten; Überweisungen zu Fachärzten waren eher die Ausnahme und Krankschreibungen selten. Das Praxispersonal bestand einzig aus der mindestens um zwanzig Jahre jüngeren Ehefrau des Mediziners, staffiert mit schneeweißem Häubchen, die wartende Patienten mit der Aufforderung, „der Nächste bitte“, in den Behandlungsraum komplimentierte.

Dichte Rauchschwaden im Behandlungszimmer

Hatte man diesen betreten, wähnte man sich, gemessen an heutigen Ausstattungsstandards und Umgangsformen, in einem anderen Zeitalter. Die Mitte des eng bemessenen Raumes dominierte eine vorsintflutliche, abgeschlagene Allzweckliege, vermutlich aus ehemaligen Militärbeständen, die sich, so weit ich mich entsinnen kann, wohl auch für gynäkologische Untersuchungen geeignet haben muss. An den Wänden standen diverse weiß lackierte Metallschränke, durch deren Verglasung man allerlei furchteinflößender medizinischer Gerätschaften gewahr wurde. Über dem massiven Gründerzeit-Schreibtisch des Praxisbetreibers hingen völlig nikotinversiffte schwarz-weiß Portraits beider im Krieg gefallenen Söhne mit Trauerband.

Der weiß bekittelte Allgemeinmediziner von recht kleinem Wuchs – seine Frau überragte ihn mindestens um Kopfgröße – war wegen dichter Rauchschwaden im Behandlungszimmer zunächst schwer auszumachen. Denn der Doc war unverbesserlicher Kettenraucher, ich jedenfalls habe ihn nie ohne brennende Zigarette zu Gesicht bekommen. Auf seinem Schreibtisch lagerten rechter Hand präzise aufgereiht Unmengen selbst gedrehter, filterloser Zigaretten, die vermutlich seine Frau vor Praxisbeginn mühselig bereitzustellen hatte. Selbstverständlich wurden auch während der Konsultationen kleine Rauchpausen eingelegt. Besonders schlimm waren die klimatischen Zustände im Behandlungsraum in den Wintermonaten, da ofenbeheizte Räume damals selten gelüftet wurden. Meiner Mutter ist erinnerlich, dass Dr. Geisler während der Sprechzeiten zur Erfrischung auch gern mal eine Flasche Bier getrunken hätte.

Der Doktor, am Schreibtisch sitzend, in vor ihm liegende Krankenakten vertieft, fragte kurz und knapp, ohne den Patienten zuvor auch nur eines Blickes gewürdigt zu haben, mit krächzender Stimme: „Worum handelt es sich?“ Nach kurzem Vortrag der Beschwerden hielt es der Angesprochene endlich für nötig, sich dem Patienten zuzuwenden. Der Mediziner muss für neue Patienten einen zumindest leicht irritierenden Gesamteindruck geboten haben. Das von diversen Mensuren zerfurchte Gesicht zeigte sich in auffallend ungesundem Rotton und ließ befürchten, der Monokelträger könnte jeden Moment, einen Schlaganfall erleidend, tot vom Stuhl fallen. Seine chronische Raucherbronchitis führte regelmäßig zu beängstigenden Hustenanfällen, die ausgedehnte Konversationen mit Patienten von vornherein ausschlossen.

„Dreimal täglich einnehmen, in drei Tagen wiederkommen. Ab.“

Sein noch volles, schneeweißes Kopfhaar disziplinierte ein militärischer Kurzhaarschnitt, während die wuchernden, buschigen Augenbrauen sich selbst überlassen blieben. Stets trug er am Stirnband einen nach oben geklappten Hohlspiegel, um den Hals das unvermeidbare Stethoskop. In der Brusttasche des Kittels steckte der besonders bei Kindern gefürchtete eiserne Rachenspatel, den er nach Gebrauch wohl lediglich mit einem Tuch oberflächlich abgewischt haben dürfte. Noch anhaftende Keime und Bakterien wären ohnehin alsbald dem nikotinschwangeren Raumklima zum Opfer gefallen.

Untersuchungen beschränkten sich auf Abhören, Abtasten und Inspektion der Zunge, das genügte meist für Diagnosestellungen. Des Doktors Jargon orientierte sich an dem blasierter preußischer Gardeleutnants. Wenn überhaupt, hörte der Patient auf das Wesentlichste beschränkte fragmentarische Halbsätze, meist jedoch nicht einmal das. „Temperatur? Stuhlgang? Appetit?“ Ratschläge und Verordnungen glichen einer zackigen Befehlausgabe, an zeitraubende Konversationen, Nachfragen oder gar Widerspruch war überhaupt nicht zu denken. „Dreimal täglich einnehmen, warm halten, keine Hülsenfrüchte, nicht rauchen, in drei Tagen wiederkommen. Ab.“

Rettete mir ohne Frage das Leben

Dr. Geislers Kompetenz und Umgangsformen wurden von seinen Patienten nicht infrage gestellt. Der war trotz rauem Habitus und Kommandojargon durchaus fürsorglich bemüht, ein guter Diagnostiker, und, heutzutage kaum vorstellbar, auch jederzeit für seine Patienten verfügbar. Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages 1955, kurz vor meinem zweiten Geburtstag, hatte ich schlimme Bauchbeschwerden, und mein Vater wandte sich in seiner Not an den Doktor, der für Notfälle in seiner Privatwohnung erreichbar war. Der diagnostizierte durch Abtasten des Bauches einen lebensbedrohlichen Darmverschluss, entschied, dass sofort operiert werden müsse, chauffierte mich mit meinem Vater, höchstwahrscheinlich mit brennender Zigarette, in seinem schwarzen Ponton-Benz zum Kinderkrankenhaus Wedding und rettete mir damit ohne Frage das Leben.

Als mein Vater Jahre später mit schwerer Grippe daniederlag, erschien der damals sicher schon achtzigjährige Medikus täglich spätabends zum beschwerlichen Hausbesuch in unserer im dritten Obergeschoss-Hinterhof gelegenen Wohnung, um stärkende Spritzen zu verabreichen. Abschließend immer kurze, militärische Verabschiedung, von meiner Mutter noch heute parodiert: „Wird schon, Obergefreiter, bald wieder k.v. (kriegsverwendungsfähig).“ Mein Vater, selbst im Fieberwahn noch um Haltung bemüht: „Jawoll, Herr Oberstabsarzt!“

Ich entsinne mich, als Vierzehnjähriger letztmalig Dr. Geisler konsultiert zu haben, der, zu dieser Zeit wohl schon fünfundachtzigjährig, kettenrauchend bei eiserner Gesundheit immer noch praktizierte. Mit dem Umzug meiner Familie verliert sich seine Spur. Ich wünsche ihm einen besonders schönen Platz im Ärztehimmel mit Raucherlaubnis zu allen Anlässen.

Seine äußere Entsprechung fand Dr. Geisler zu meiner Verblüffung in Professor Winterhalter (Sig Ruman in Billy Wilders Komödie, „The Fortune Cookie“, deutsch, „Der Glückspilz“, von 1966).

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A. Nöhren / 25.12.2019

Wenn die Leute keine Termine beim Arzt bekommen oder lange auf einen Termin warten müssen, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Leute in die Notaufnahmen der Kliniken gehen und diese so überfüllt sind. Es ist dann doch allemal viel besser, einige Stunden im Warteraum der Notaufnahme auf eine Behandlung zu warten, als wochenlang auf einen Termin in einer Arztpraxis. Das System ist krank. Es beruht einzig auf Business wobei die Patienten nur als Geldbringer angesehen werden. Der Mensch als Patient spielt dabei keine Rolle.

Werner Fett / 25.12.2019

Früher war alles besser. Leider können wir keine Zeitreise machen, um festzustellen, ob das mit unseren heutigen Maßstäben auch stimmen würde oder ob uns unser Gehirn nicht da einen Streich spielt. Die Pferdekutsche erscheint uns heute auch sehr romantisch.  In der Medizin nicht anders. Mit dem medizinischen Standard der 50 er Jahre hätten die Ärzte zwar die Möglichkeit, mehr als doppelt so viele Patienten pro Zeiteinheit zu behandeln, würden sich heute aber strafbar machen. Von der bürokratischen Beanspruchung, die mindestens 30 % der Arbeitszeit ausmacht, nicht zu reden. Mit der Hervorhebung des Individuums möchte auch jeder, der einen banalen Schnupfen hat, als Individuum behandelt werden, sodaß der Arzt auf jeden „Rotz“ persönlich eingehen soll, als wäre es eine bedrohliche Erkrankung. Die Zeit des militärischen Tones: Stellen Sie sich nicht so an, das geht bald weg“ ist vorbei. Bei der Suche nach einem Kompagnon bzw. späteren Übernehmer meiner Praxis fiel spätestens im 2. Satz das Wort „work-life balance“. Nicht nur, daß kaum ein Arzt der jüngeren Generation bereit ist, mehr als 40 Stunden zu arbeiten, nein, denen wird auch nicht der Rücken freigehalten von einer Partnerin (welchen Geschlechts auch immer), die den Alltag organisiert. Die Gesellschaft muß sich derzeit damit abfinden, daß die Resource Arzt knapp geworden ist. Und daß die späte Terminierung keine Marotte der Ärzte darstellt, sondern diese Realität widerspiegelt. Mit Ihrem hämisch-ironischen Titel „Das Leiden der Ärzte“ haben Sie sich in die vielen Kommentare eingereiht, die allerorts zu finden sind. Mit Ihren absurden Beispielen, bilden Sie mehr als 99 % der Ärzte, die ihre Arbeit gut und gewissenhaft verrichten, nicht ab. Insofern, Ihr Artikel ist für mich weder amüsant noch informativ, sondern auf Stammtischniveau angesiedelt.

Steffen Huebner / 25.12.2019

Ein kostendeckender Krankenkassenbeitrag (GKV) wäre etwa 185,- Euro pro Versicherten, so konnte man vor einiger Zeit lesen. Der Bund zahlte aber pro gesetzlich versichertem ALG-II-Leistungsbeziehenden 2018 nur monatlich 98,43 Euro. Das heißt, die GKV- Versicherten übernehmen mit ihren Beiträgen faktisch einen Teil der Kosten, die eigentlich der Staat aus Steuermitteln finanzieren müsste - Tendenz dank Merkel weiter ansteigend…

R. Nicolaisen / 25.12.2019

Mensch, Herr Rogge, Sie wissen ja Bescheid und zitieren auch noch Herrn Lauterbach. Grandios. —Von nix ‘ne Ahnung und Pupen. Herzlichen Glückwunsch!

Matthias Bumann / 25.12.2019

Stichwort: Subvention. Die PKV spendiert der GKV ca. 12 Mrd. p.a.

Uwe Heinz / 25.12.2019

Bin zwar etwas jünger als der Autor, aber an Ärzte dieses Typs kann ich mich aus meiner Kindheit auch noch erinnern. Danke für Ihren Artikel! Habe mich amüsiert! Abtreten!

Klaus Demota / 25.12.2019

Ich denke, hier trifft das Wort von Armin Mohler über die “Glasglocke der alten Bundesrepublik” zu, unter der mancher Ketten- bzw. Zigarrenraucher gut konserviert war. Nach der Implosion dieser Glasglocke hat sich der Lebens- und Sterbensstandard dem Grossbritanniens angenähert, das zur Glasglockenzeit übrigens schon schlechter dastand als die DDR. Ich bin etwas jünger als der geschätzte Autor und kann zur Lösung des gestellten Rätsels nur den Hinweis beisteuern, dass von meinem Abitursjahrgang ca. 70% in den Staatsdienst getreten sind, davon auch einige in die Gesundheitsbürokratie. Das war ein Gymnasium von Vieren in der Stadt. Das über die nächsten Jahrzehnte hochgerechnet (und noch die Versicherungsmathematiker und -juristen dazu, damit auch die PKV nicht ungeschoren davon kommt) zeigt schon an, wo die Kassenbeiträge evtl. - anstatt in der Versorgung - verblieben sein könnten.

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