Detlef Rogge, Gastautor / 25.12.2019 / 17:00 / Foto: Danilo Škofič / 17 / Seite ausdrucken

Die Leiden der Ärzte

Als ich vor zwanzig Jahren bei der morgendlichen Katzenklosanierung schwungvoll in die Hocke ging, goutierte das linke Kniegelenk meine Leichtfertigkeit mit einem morbiden Knacken. Das war’s dann, klassischer Meniskusriss, selbst unter Schmerzen ließ sich das Bein nicht mehr strecken. Noch für den Abend des gleichen Tages erhielt ich einen Termin bei einem mir noch unbekannten Orthopäden, der mir nach manueller Untersuchung und ernstem Blick auf das Röntgenbild die unheilschwangere Frage stellte: „Haben Sie morgen schon was vor?“ Am nächsten Tag fand ich mich zur ambulanten Operation ein, bei der mir der Medikus mit sachkundiger Hand wieder zu gewohnter Mobilität verhalf. Abgerechnet wurden seine Bemühungen über die gesetzliche Krankenversicherung.

Zwanzig Jahr später ist an eine derart rasche Vorsprache und Verarztung nicht einmal mehr im Traum zu denken. Gibt es weniger Ärzte, haben sich deren Sprechzeiten halbiert, hat sich die Anzahl ihrer Patienten erhöht oder gehen diese einfach öfter zum Arzt als früher? Gibt es gar einen Nexus zwischen schleppender Terminvergabe und pauschalierter Vergütung ärztlicher Leistungen? Eine erhellende Erklärung für das Phänomen, Arzttermin am Sankt Nimmerleinstag, steht für mich noch aus.

Bemerkenswert auch ein Trend bei der telefonischen Kontaktaufnahme, der mitunter stundenlanges Bemühen vorausgeht. Fragt man heutzutage bei Fachärzten wegen eines ersten Behandlungstermins an, hört man nicht selten die wie beiläufig klingende Frage: „Und wo/wie sind Sie denn versichert?“ Ob nun Mitglied der AOK, DAK oder BARMER ist ohne Belang, dechiffriert heißt es natürlich nichts anderes, als: „Kasse oder privat?“, was man sich im Klartext meist nicht zu fragen wagt. Je nach Einlassung entscheidet sich für den arglosen Patienten, mehrfach selbst getestet, ob man als Newcomer überhaupt genehm ist und die Terminvergabe sowieso.

Wirksamkeit von Selbstheilungskräften abwarten

Will man in die Sprechstunde, beispielsweise eines Kardiologen, Orthopäden oder Augenarztes, der obendrein sein Handwerk versteht, ist als Kassenpatient mit monatelangen Wartezeiten zu rechnen; genügend Abstand also, um bis zur Vorsprache geduldig die Wirksamkeit von Selbstheilungskräften abzuwarten oder den Weg alles Irdischen zu gehen. Beides erspart spätere ärztliche Konsultationen. Lange Wartezeiten müssen also nicht automatisch von Nachteil sein. Privat kann man meist schon binnen Wochenfrist sein Leid klagen.

Wer als gesetzlich Versicherter keine Geduld aufbringt, dem steht es immerhin frei, sich einen Privattermin zu kaufen. Europaweit und in Amerika ein völlig normaler Service (wussten Sie nicht?), so jedenfalls der offiziellen Website eines Augenarztes zu entnehmen:

„Viele Patienten beklagen sich über langfristige und manchmal auch zeitlich ungünstige Termine oder über zu wenig Zeit, die der Arzt für sie hat. Ursache sind neben der großen Nachfrage auch politisch gewollte Budgetierungen der Kassenleistungen. Wir bieten deshalb auch unseren Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen den Service, sie zu angemessenen Preisen (circa 50–100 Euro, circa 30 Minuten) in aller Ruhe und zum gewünschten Zeitpunkt ausführlich zu beraten und zu untersuchen (dies ist übrigens in allen europäischen und amerikanischen Ländern völlig normal). Sprechen Sie uns an oder vereinbaren Sie einen individuellen Termin unter ………. oder per Email.“

Den Unterschied zwischen kassen- und privatärztlichem Service kenne ich seit Jahrzehnten. Freiwillig gesetzlich versichert, zahle ich Beiträge wie ein Selbstständiger, also ohne Bezuschussung durch einen Arbeitgeber, allerdings habe ich als Pensionär Beihilfeansprüche gegen den Dienstherrn, sodass privatärztliche Behandlungen, jedoch mit dreißigprozentiger Eigenbeteiligung, notfalls machbar sind. Falls der geschätzte Leser in der absonderlichen Form meiner Risikoabsicherung im Krankheitsfall die Logik vermissen sollte, gebe ich ihm recht, es gibt keine. Als Auslaufmodelle dürften wohl nur noch wenige, meist ältere Beamte, derart abenteuerlich versichert sein.

Die große Mehrheit meiner Berufsgruppe ist kostengünstig privat versichert (50–80 Prozent der Krankheitskosten bei in der Regel 2,3- bis 3,5-fachem Hebesatz der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) trägt der Dienstherr aus Steuermitteln), die gemeinsam mit Angehörigen rund die Hälfte der PKV-Mitglieder ausmacht. Erst dieses Reglement, mehr als fragwürdig abgeleitet aus den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ – Art.33 Abs. 5 GG –,  garantiert privaten Krankenversicherungen seit Jahrzehnten auf Kosten der Steuerzahler ihre auskömmliche Existenz.

Bedürftige Mediziner

Ohne eine derartige Subventionierung und dem Abschieben „schlechter Risiken“ in die GKV wären die privaten Krankenkassen längst Sanierungsfälle. Der selbst so versicherte Prof. Karl Lauterbach (SPD) erklärte in der SZ vom 17. Mai 2010: „Die PKV lebt im Grund parasitär von den gesetzlichen Kassen, dieses Verhalten ist nicht schützenswert“, und in der WirtschaftsWoche vom 1. September 2019 kritisierte er eine „ungerechte“ Subventionierung der privaten Krankenversicherung durch Beihilfe für Staatsdiener. Ansonsten kein Fan des Professors, teile ich in dieser Angelegenheit ausnahmsweise seine Meinung. Was eine von ihm favorisierte, für alle verbindliche Bürgerversicherung an Tücken birgt, weiß niemand; die Freiheit, sich privat zusätzlich abzusichern, bliebe dem Patienten jedenfalls unbenommen.

Die meisten Kassenärzte klagen seit Einführung der Fallpauschale über nicht mehr leistungsgerechte Vergütung ihrer Bemühungen. Ein vorwitziger Vertreter der orthopädischen Zunft entblödete sich nicht, seinen Patienten im Warteszimmer mittels eines selbstgebastelten Aushangs in unterhaltsamer Form seinen drohenden Bankrott zu verdeutlichen. Ein variabler schwarzer Zeiger auf grünrotem Grund informierte gleich einem Wasserstandspegel über das aktuelle Kassenbudget und damit fraglos über die Motivation des Heilkünstlers, im laufenden Quartal weitere gesetzlich versicherte Patienten zu empfangen. Meine provokante Anregung zum Aufstellen eines Sparschweins im Sprechzimmer beendete erwartungsgemäß das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis, noch ehe es begonnen hatte.

Ein anderer bedürftiger Mediziner – Facharzt für Augenheilkunde – erklärte mir zur Kurzweil während eines kleinen ambulanten Eingriffs – Wartezeit mehrere Monate –, dass er für solcherart Bemühungen nur draufzahlen würde, selbst die Stromkosten der OP-Lampen (sic) würden durch den Kassensatz nicht gedeckt. Nur aus reiner Barmherzigkeit würde er Leistungen wie diese – eine Hagelkorn-OP – überhaupt noch anbieten. Angesichts seines Skalpells hielt ich es für ratsam, ihn für seine Großherzigkeit zu loben. Weil mich operationsreife Hagelkörner mindestens einmal jährlich heimsuchen, gehe ich seitdem in eine Privatpraxis, Konsultationstermin binnen einer Woche, Behandlungstermin im angeschlossenen ambulanten Operationscenter nach Wunsch inklusive Händchen haltender, adretter Weiblichkeit. Restkosten für mich, etwa 100 Euro, Nervenersparnis, 100 Prozent.

„Das Medikament kann ich empfehlen, nehme ich auch selbst.“

Völlig absurd das Erlebnis in der Sprechstunde eines Nervenarztes. Mit offenkundig nicht nur servilem Naturell geschlagen und, wie ich erst später erfuhr, legendär, weil sich gern selbst von Patienten in akuten Sinn- und Lebenskrisen beraten zu lassen, lockte dieser in einschlägigen Portalen mit durchweg exzellenten Bewertungen. Der Praxisbetreiber eröffnete mir bei meinem ersten und zugleich letzten Besuch – Termin binnen weniger Tage bei privatärztlicher Konsultation –, er wäre zu arm, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Er hätte deshalb schon des Öfteren im Auto und in den Praxisräumen übernachten müssen, jetzt wohne er immerhin schon zur Untermiete.

Schuld an seiner zeitweisen Obdachlosigkeit sei überwiegend die geringe Vergütung für seine meist kassenversicherten Patienten. Die Zahlungsmoral seiner Privatpatienten wäre katastrophal, viele würden gar nichts zahlen, manche nur schleppend in Raten und seine geschiedene Ehefrau ihn obendrein mit horrenden Unterhaltsforderungen aus purer Boshaftigkeit in den Ruin treiben wollen. Alle würden ihn seiner bekannten Gutherzigkeit wegen nur ausnutzen. Mindestens neunzig Prozent seiner Patienten wären schlimme Simulanten, die nichts unversucht ließen, sich mit Hilfe seiner allseits anerkannten Gutachten vor rechtschaffener Arbeit zu drücken.

Angesichts der aussichtslosen Lage des durchaus sympathischen Mediziners ging es mir schlagartig um einiges besser, so dass ich mir weitere Konsultationen ersparen konnte. Jahre später hörte ich von einer Bekannten, die den Nervenarzt paradox gleichfalls wegen einer depressiven Verstimmung aufgesucht hatte, er hätte ihre Skepsis gegenüber Antidepressiva mit der grotesken Ausführung zerstreuten können: „Das Medikament kann ich Ihnen wirklich empfehlen, nehme ich auch selbst.“

Ich bin im Berliner „Brunnenviertel“ zu Hause, hier ist die Arztdichte im Verhältnis zu bürgerlich geprägten Bezirken eher mäßig. Das erklärt sich leicht. Einerseits tendiert hier die Anzahl der Privatpatienten gegen Null, andererseits kann sich die Verarztung landessprachunkundiger Patienten, meist orientalischer Provenienz, als nervenzehrend und mitunter riskant erweisen und, so meine Erfahrung, schon mal Ewigkeiten dauern. Verständlicherweise ist kein Mediziner mit auch nur ansatzweisem Verstand und Talent willens, hier langfristig sein berufliches Dasein zu fristen. Zur Konsultation von Fachärzten mit guter Reputation bin ich es längst gewohnt, durch die halbe Stadt zu fahren, das macht auch nichts, denn solcherart Besuche sind eher selten und planbar.

Früher war alles besser: Sprechzeiten unbekannt

Mediziner sind längst zu austauschbaren Dienstleistern abgehalftert, denen man sich immer weniger verbunden fühlt und deren Fertigkeiten, Manieren und Geschäftsgebaren sich auf Internetportalen ungeniert bewerten lassen. Wie war es mit ärztlicher Ethik und der Sorge des Berufsstandes, insbesondere der Hausärzte, um das Patientenwohl früher bestellt? Brachte man Ärzten mehr Respekt entgegen, war die Anspruchshaltung der Patienten und Mediziner einfach noch eine andere? Folgen Sie mir in die Praxis eines Hausarztes in den fünfziger und sechziger Jahren, in eine Zeit, in der zwischen Privat- und Kassenpatienten noch nicht unterschieden wurde. Alles ist wahr, meine einundneunzigjährige Mutter half eigenen, noch guten Erinnerungen auf die Sprünge.

Mitte der fünfziger Jahre waren Arztpraxen in Berlin rar gesät. Der erste Hausarzt meiner Familie praktizierte nur einige hundert Meter entfernt von unserer im Berliner Bezirk Wedding gelegenen Wohnung. Von den meisten praktizierenden Medizinern war in jenen Jahren sicher anzunehmen, dass ihnen als ehemalige Militärärzte das Elend in Feldlazaretten wohl vertraut war. Folglich hielten sich deren Verständnis und Mitgefühl für gesundheitliche Lappalien wehleidiger Zivilisten in engen Grenzen. Dr. Artur Geisler stand als Prototyp für jene Gattung. Auf dem weißen Emailleschild am Hauseingang war neben seiner Fachrichtung – Praktischer Arzt – der Zusatz „Oberstabsarzt a.D.“ zu lesen, weswegen er von ehemaligen Militärs unter seinen Patienten, so auch von meinem Vater, mit „Herr Oberstabsarzt“ angeredet wurde. Sein hohes Alter ließ durchaus die Annahme zu, dass er sich den militärärztlichen Rang bereits im kaiserlich-preußischen Heer erworben haben konnte.

Dr. Geisler praktizierte in der ersten Etage eines Mietshauses, das den Krieg bis auf kleinere Blessuren wundersam überstanden hatte. Auf der gleichen Etage befand sich auch seine Privatwohnung. Das war praktisch, ersparte es ihm Zeit und Wege. Den Warteraum der Praxis, spartanisch bestuhlt mit weiß lackierten polsterlosen Holzbänken ohne Rückenlehnen, betrat man mit der Frage: „Wer war der Letzte?“ Terminvergaben waren damals noch völlig unbekannt, kaum jemand besaß ein Telefon, das Ende der Sprechzeiten richtete sich nach der Anzahl der Patienten. Dr. Geisler behandelte grundsätzlich alle Krankheiten; Überweisungen zu Fachärzten waren eher die Ausnahme und Krankschreibungen selten. Das Praxispersonal bestand einzig aus der mindestens um zwanzig Jahre jüngeren Ehefrau des Mediziners, staffiert mit schneeweißem Häubchen, die wartende Patienten mit der Aufforderung, „der Nächste bitte“, in den Behandlungsraum komplimentierte.

Dichte Rauchschwaden im Behandlungszimmer

Hatte man diesen betreten, wähnte man sich, gemessen an heutigen Ausstattungsstandards und Umgangsformen, in einem anderen Zeitalter. Die Mitte des eng bemessenen Raumes dominierte eine vorsintflutliche, abgeschlagene Allzweckliege, vermutlich aus ehemaligen Militärbeständen, die sich, so weit ich mich entsinnen kann, wohl auch für gynäkologische Untersuchungen geeignet haben muss. An den Wänden standen diverse weiß lackierte Metallschränke, durch deren Verglasung man allerlei furchteinflößender medizinischer Gerätschaften gewahr wurde. Über dem massiven Gründerzeit-Schreibtisch des Praxisbetreibers hingen völlig nikotinversiffte schwarz-weiß Portraits beider im Krieg gefallenen Söhne mit Trauerband.

Der weiß bekittelte Allgemeinmediziner von recht kleinem Wuchs – seine Frau überragte ihn mindestens um Kopfgröße – war wegen dichter Rauchschwaden im Behandlungszimmer zunächst schwer auszumachen. Denn der Doc war unverbesserlicher Kettenraucher, ich jedenfalls habe ihn nie ohne brennende Zigarette zu Gesicht bekommen. Auf seinem Schreibtisch lagerten rechter Hand präzise aufgereiht Unmengen selbst gedrehter, filterloser Zigaretten, die vermutlich seine Frau vor Praxisbeginn mühselig bereitzustellen hatte. Selbstverständlich wurden auch während der Konsultationen kleine Rauchpausen eingelegt. Besonders schlimm waren die klimatischen Zustände im Behandlungsraum in den Wintermonaten, da ofenbeheizte Räume damals selten gelüftet wurden. Meiner Mutter ist erinnerlich, dass Dr. Geisler während der Sprechzeiten zur Erfrischung auch gern mal eine Flasche Bier getrunken hätte.

Der Doktor, am Schreibtisch sitzend, in vor ihm liegende Krankenakten vertieft, fragte kurz und knapp, ohne den Patienten zuvor auch nur eines Blickes gewürdigt zu haben, mit krächzender Stimme: „Worum handelt es sich?“ Nach kurzem Vortrag der Beschwerden hielt es der Angesprochene endlich für nötig, sich dem Patienten zuzuwenden. Der Mediziner muss für neue Patienten einen zumindest leicht irritierenden Gesamteindruck geboten haben. Das von diversen Mensuren zerfurchte Gesicht zeigte sich in auffallend ungesundem Rotton und ließ befürchten, der Monokelträger könnte jeden Moment, einen Schlaganfall erleidend, tot vom Stuhl fallen. Seine chronische Raucherbronchitis führte regelmäßig zu beängstigenden Hustenanfällen, die ausgedehnte Konversationen mit Patienten von vornherein ausschlossen.

„Dreimal täglich einnehmen, in drei Tagen wiederkommen. Ab.“

Sein noch volles, schneeweißes Kopfhaar disziplinierte ein militärischer Kurzhaarschnitt, während die wuchernden, buschigen Augenbrauen sich selbst überlassen blieben. Stets trug er am Stirnband einen nach oben geklappten Hohlspiegel, um den Hals das unvermeidbare Stethoskop. In der Brusttasche des Kittels steckte der besonders bei Kindern gefürchtete eiserne Rachenspatel, den er nach Gebrauch wohl lediglich mit einem Tuch oberflächlich abgewischt haben dürfte. Noch anhaftende Keime und Bakterien wären ohnehin alsbald dem nikotinschwangeren Raumklima zum Opfer gefallen.

Untersuchungen beschränkten sich auf Abhören, Abtasten und Inspektion der Zunge, das genügte meist für Diagnosestellungen. Des Doktors Jargon orientierte sich an dem blasierter preußischer Gardeleutnants. Wenn überhaupt, hörte der Patient auf das Wesentlichste beschränkte fragmentarische Halbsätze, meist jedoch nicht einmal das. „Temperatur? Stuhlgang? Appetit?“ Ratschläge und Verordnungen glichen einer zackigen Befehlausgabe, an zeitraubende Konversationen, Nachfragen oder gar Widerspruch war überhaupt nicht zu denken. „Dreimal täglich einnehmen, warm halten, keine Hülsenfrüchte, nicht rauchen, in drei Tagen wiederkommen. Ab.“

Rettete mir ohne Frage das Leben

Dr. Geislers Kompetenz und Umgangsformen wurden von seinen Patienten nicht infrage gestellt. Der war trotz rauem Habitus und Kommandojargon durchaus fürsorglich bemüht, ein guter Diagnostiker, und, heutzutage kaum vorstellbar, auch jederzeit für seine Patienten verfügbar. Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages 1955, kurz vor meinem zweiten Geburtstag, hatte ich schlimme Bauchbeschwerden, und mein Vater wandte sich in seiner Not an den Doktor, der für Notfälle in seiner Privatwohnung erreichbar war. Der diagnostizierte durch Abtasten des Bauches einen lebensbedrohlichen Darmverschluss, entschied, dass sofort operiert werden müsse, chauffierte mich mit meinem Vater, höchstwahrscheinlich mit brennender Zigarette, in seinem schwarzen Ponton-Benz zum Kinderkrankenhaus Wedding und rettete mir damit ohne Frage das Leben.

Als mein Vater Jahre später mit schwerer Grippe daniederlag, erschien der damals sicher schon achtzigjährige Medikus täglich spätabends zum beschwerlichen Hausbesuch in unserer im dritten Obergeschoss-Hinterhof gelegenen Wohnung, um stärkende Spritzen zu verabreichen. Abschließend immer kurze, militärische Verabschiedung, von meiner Mutter noch heute parodiert: „Wird schon, Obergefreiter, bald wieder k.v. (kriegsverwendungsfähig).“ Mein Vater, selbst im Fieberwahn noch um Haltung bemüht: „Jawoll, Herr Oberstabsarzt!“

Ich entsinne mich, als Vierzehnjähriger letztmalig Dr. Geisler konsultiert zu haben, der, zu dieser Zeit wohl schon fünfundachtzigjährig, kettenrauchend bei eiserner Gesundheit immer noch praktizierte. Mit dem Umzug meiner Familie verliert sich seine Spur. Ich wünsche ihm einen besonders schönen Platz im Ärztehimmel mit Raucherlaubnis zu allen Anlässen.

Seine äußere Entsprechung fand Dr. Geisler zu meiner Verblüffung in Professor Winterhalter (Sig Ruman in Billy Wilders Komödie, „The Fortune Cookie“, deutsch, „Der Glückspilz“, von 1966).

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Jürgen Probst / 25.12.2019

Ich kann den Unterschied gesetzlich/ privat nicht bestätigen. Kenne beides. Übertrieben!

Michael Hansen / 25.12.2019

Früher waren die Gummistiefel aus Leder! Ich schließe mich der Meinung von Herrn Fett an. Die Medizin der 1950er zu vermissen, ist selbst für hartgesottene Nostalgiker ein starkes Stück und arg verklärt! Das Mysterium „Wartezeit auf Termine“ löst sich indes sehr einfach. Je schlechter die Vergütung, desto weniger Ärzte. Oder finden Sie etwa, daß ca. 15 Euro pro Patient und Quartal (das heißt 0 Euro ab dem zweiten Besuch) angemessen sind nach ungefähr 11 Jahren Studium und Facharzt? Wußten Sie schon, daß operierende Ärzte, die also zusätzlich qualifiziert sind, um beispielsweise ihre Gerstenkörner zu entfernen, dafür mit einer niedrigeren Fallpauschale bestraft werden? Wußten sie, daß GKV-Ärzte ein Leistungsvolumen pro Quartal haben, über welches hinaus nicht mehr vergütet wird? Sollen Ärzte ihrer Meinung nach kostenlos arbeiten, um das gesundheitspolitische Versagen in Deutschland aufzufangen? Eine Aufhebung der Beschränkung des Leistungsvolumens zum Beispiel würde schlagartig die Terminknappheit beseitigen, aber dafür ist Geld nötig. Und das ist für Gesundheit nicht übrig. Rationierung ist hier das Stichwort. Abgesehen davon sind Ärzte sind in der deutschen Neidkultur eines der beliebtesten Ziele, was ihren und viele andere dümmliche Artikel zu dem Thema erklärt.

A. Ostrovsky / 25.12.2019

Hochinteressant. Nun muss ich nur noch herausfinden, ob ich einen Dienstherren habe. Wahrscheinlich nicht. Ich bin ein freier Mensch, mit allen Nachteilen. Also der Artikel gibt mir wenig. Er macht anfänglich den Eindruck, ein allgemeines Problem zu behandeln, verliert sich aber dann in den Rändern der Normalverteilung. Ich habe keine Probleme mit Arztterminen. Ich habe einen Allgemeinarzt, dem ich vertraue. Da müßte ich lange suchen, das ist wahr. Und sobald es dann in den Bereich eines Spezialisten geht, ist das Bild durchwachsen. Da gibt es solche, zu denen mich mein Allgemeinmediziner überweist und auch von seiner Seite bereits einen Termin bucht. Da vertraue ich seiner Ausbildung, wenn der etwas weiter in der Zukunft liegt, dass es dann doch nicht so dringend ist. Es gibt aber auch Fälle, wo man zwar mit allen möglichen Süd- und Ostländern in den Warteraum gesetzt wird, die anschließende Diagnose dann aber eher fragwürdig ausfällt. Was den verbeamteten Patienten betrifft, kann ich nicht ausschließen, dass sich bei einzelnen Ärzten über die Zeit eine Allergie aufgebaut hat. Wie man in den Wald hinein ruft… Wobei ich da nicht unterstütze. Nur weil mich mal ein Handwerker über den Tisch gezogen hat, hätte ich nicht grundsätzlich eine Abneigung gegen Handwerker. Anders wäre es, wenn mir im Leben alle Handwerker nur blöd gekommen wären. Menschen lernen durch Wiederholung und Abstraktion. Daraus bilden wir Erfahrungen und Erwartungen.

Lutz Faßmann / 25.12.2019

Fortsetzung : Sie treffen mit Ihrem Artikel die Falschen. Oder sollten Sie als Beamter auch auf Ihr Salär verzichtet haben ? Und vom wirtschaftlichen Risiko einer Selbständigkeit dürften Sie auch keine Ahnung haben ? Sie dürfen uns gern Ihre Erlebnisse als Patient schildern. Die Analyse des Gesundheitssystems verlangt aber gründliche Recherche.

Gabriele Klein / 25.12.2019

Um im akuten Fall bei einem Arzt den erstmaligen Termin zu bekommen, scheint mir nicht klug sich durchzutelefonieren um bei 12 Ärzten nach der Verneinung der Frage, ob man schon mal in ihrer Praxis war, aufzulegen. Mein Tipp, machen Sie es doch einfach so wie die Kollegen von der “Vorsorge”.  Diese verschicken einfach ihre Termine an die gewünschten Patienten, ohne zu fragen ob und wann sie wollen oder können.  Hierzulande frägt man nämlich nicht, man verfügt und rechnet anschließend ab.

Georg Dobler / 25.12.2019

Der Dr. Geisler ist sehr sympathisch, Sie haben ihn auch mit echtem Schreibertalent super beschrieben.  Warum schreiben Sie nicht mehr? Ein Buch? Nachdem die Keime in der rauchgeschwängerten Luft nicht lange überlebten, frage ich mich ob damals in solchen Praxen weniger Leute infiziert wurden wie heute in den Kliniken mit den verzweifelten Versuchen, diese keimfrei zu halten.

Gabriele Klein / 25.12.2019

Die beste Augenuntersuchung meines Lebens hatte ich vor vielen Jahren jenseits des Deutschen Versicherungssystems in den U.SA.  Sie war REIN privat finanziert, kostete etwa 20-40 Dollar war extrem gründlich, dauerte etwa 1 Stunde und ich bekam eine perfekte Brillenverschreibung. In Deutschland mit dem “besten Versicherungssystem” setzte ich vor vielen Jahren 2 Brillen im Wert von etwa 400-600 Euro in den Sand, auf Grund ärztlicher Verschreibungen die nur der ärztlichen Abrechnung dienten. Darauf ließ ich keine ärztlich verschriebenen Brillenwerte mehr umsetzen und tat gut daran. Mit den Werten der Optiker,(freier Markt) war ich immer hoch zufrieden. Sie nahmen sich sehr viel Zeit und verschrieben die Brille meist erst nach 2-3 Prüfungen.  Mir scheint, bis auf ein paar Ausnahmen sind die Kassenpatienten nur zur “Grundversicherung” der Ärzte da wenn sie keine Privatpatienten finden, dies dürfte erklären warum hierzulande zwar nicht immer, aber doch häufig die ärztliche Leistung weder im privaten, noch im Kassenbereich allzuviel taugt. Wer sich privat behandeln lässt tut vermutlich gut daran einen Arzt zu wählen der NUR Privatpatienten nimmt, d.h. sich ohne Kassen durch Leistung behauptet.   Das deutsche Kassensystem scheint mir schwerpunktmäßig Gymnastikmatten, allerdings nicht von jedem Anbieter zu versichern, ist ja auch eine Gesundheits und keine Krankenkasse….

Arnold Lange / 25.12.2019

Wenn man bedenkt, dass, in Abhängigkeit der jeweiligen Facharztgruppe, zwischen 12,50 & 69,00€ pro Patient und Quartal an GKV Leistungen + dem der facharztgruppe zu Verfügung stehenden Extrabudgetären Vergütung von - bis dem Arzt pro Patient „brutto“ verbleibt, müssen wir uns nicht wundern! Laut Statistik frequentiert der Durchschnitt ca. 18 mal pro Jahr einen Arzt. Alles wird teurer ( wie wir selbst erleben) , Personslkosten sind ein Hauptkostenfaktor in der Kosten & Leistungsrechnung, zudem bekommt man kaum noch leistungsbereites Personal ( MFA) wg. Work-Life Balance, und in grossstädten schon gleich gar nicht! Ich mag dieses Ärzte-Bashing nicht mehr hören! Dasgesundheitssystem ist krank! Wir subventionieren damit alles andere, nur nicht das System! Sachfremde Leistungen, überbordende Bürokratie ( Hygienevorschrifteb, an die sich von Haus auf jeder hält, Dokupflichten noch und nöcher, DSGV etc.) Ich schreibe hier nicht als Arzt, sondern als in der Pharmaindustrie tätiger AD‘ler, der mit seinen Kunden die gleichen Probleme ( Sozialbeiträge, Steuern, Vorschriften usw.) teilt! Es muss ein Systemwechsel her, sonst geht es weiter bergab! Vorschlag: grundversicherung für alle ( inclusive. Beamter) und analog dazug wie bei der KFZ Versicherung Haftpflicht mit, Teilkasko mit/ohne, Vollkasko mit/ohne Zuzahlung! Dies wäre gerecht und würde jedem sein persönliches Wohlbefinden ermöglichen! Denken wir darüber nach!

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