Orit Arfa, Gastautorin / 14.10.2023 / 06:00 / Foto: Marko Bußmann / 24 / Seite ausdrucken

„Die Leichen in meiner Heimatstadt“

Die israelische Schriftstellerin Adi Kaslasy-Way lebt in Berlin und stammt aus dem Süden Israels. Atemlos verfolgte sie den Hamas-Angriff auf ihre Heimatstadt Sderot, wo ihre Familie lebt. Auch in ihrem Umfeld gab es viele Opfer.

Als Adi Kaslasy-Way (siehe Foto) mir vor ein paar Tagen die Tür ihrer Berliner Wohnung öffnete, versuchte sie ein Lächeln aufzusetzen, aber sie war sichtlich erschüttert. Geboren und aufgewachsen in Sderot, einer Stadt im Süden Israels, die in den letzten zwei Jahrzehnten die Hauptlast der Raketenangriffe getragen hat, hat sie die meiste Zeit ihres Lebens im Schatten der Hamas-Angriffe gelebt.

Wenn sie in diesen Tagen auf ihr Telefon schaut, weiß sie nicht, welche weiteren schlechten Nachrichten sie erwarten. Der Vater eines Freundes: von der Hamas entführt. Einer ihrer Lehrer: tot aufgefunden. Schwiegervater und Neffe eines Freundes: ermordet (nach dreitägiger Suche nach ihnen).

Als wir in ihrer Küche das Interview führen, nimmt sie ihr Telefon und schreit ihre Mutter an: „Geh nicht raus!“ Ihre Eltern, beide über 70, leben in Sderot und haben seit Samstag kaum einen Schritt aus dem kleinen, beengten und schwülen Luftschutzkeller gewagt. Aber das Heimatfront-Kommando hatte eine Anweisung an die Israelis geschickt, sich mit genügend Wasser und Lebensmitteln für 72 Stunden sowie mit Taschenlampen, Funkgeräten, Bargeld und Ausweispapieren einzudecken. Doch nun müssen ihre Eltern wieder einkaufen. Es ist ein Dilemma.

„Gott bewahre, dass du rausgehst und ein Terrorist dich erschießt“, sagte sie dann zu ihrem Vater ins Telefon. „Wir wissen nicht, ob die Stadt von Terroristen befreit ist.“ – „Die kann man aber nur schwer erkennen“, erwiderte er unbekümmert und versicherte ihr in typischer Manier: „Sie könnten ihre Kleidung gewechselt haben.“

Während früherer Konflikte – und seit Israels Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 gab es mindestens vier größere Militäroperationen in Gaza – ist Kaslasy-Way nach Israel zurückgekehrt. Dieses Mal nicht. „Die Dinge sind jetzt anders, wegen meines Sohnes“, sagte sie. „Er ist zu meiner obersten Priorität geworden. Trotzdem habe ich Schuldgefühle. Im Laufe der Jahre habe ich mich oft schuldig gefühlt, weil ich hier war und nicht dort, aber vielleicht sind meine Schuldgefühle jetzt geringer, weil ich mich in erster Linie für seine Sicherheit verantwortlich fühle.“ Sie versucht, stark zu sein und manchmal ein Lächeln aufzusetzen, ihm zuliebe.

Trauma-Bewältigung in Berlin

In Berlin versuchte sie, das Trauma ihrer Erfahrungen als Überlebende von Hamas-Raketenangriffen und auch von Vergewaltigung zu überwinden. Mit 18 Jahren wurde sie in Israel von einem Touristen vergewaltigt. Wenn sie Bilder von Frauen sieht, die von der Hamas nicht nur angegriffen, sondern auch vergewaltigt wurden und deren Hosen durch die Verletzung blutig sind, bricht es ihr das Herz.

Ihr Heilungsprozess ist Gegenstand ihres autobiografischen Romans, „BeSadot Chita“ („Weizenfelder“), der im Juli auf Hebräisch erschienen ist. Sie hätte nie gedacht, dass die Themen ihres Romans nur wenige Monate nach seiner Veröffentlichung so aktuell sein würden.

Als sie 2011 zu ihrem Mann nach Berlin zog, bekam sie Panikattacken, wenn sie Kinder auf Spielplätzen sah. Schließlich wurde ihr klar, dass sie nicht befürchten musste, jeden Moment in einen Luftschutzkeller rennen zu müssen. Sie ist immer noch dankbar für den Frieden, den Berlin ihr gegeben hat, auch wenn dieser Frieden heutzutage angesichts der Gefährdung von Juden durch Übergriffe selbst hier ins Wanken geraten ist.

Die Verarbeitung ihres Traumas durch Therapie, Schreiben und die Unterstützung ihres Ehemannes hat ihr die Kraft gegeben, die aktuelle Katastrophe zu bewältigen, ohne völlig zusammenzubrechen. „Als ich in der Oberstufe war, hatte ich immer wieder Alpträume, in denen Terroristen mich als junge Frau entführten“, erzählte sie. „Ich bin jedes Mal wie versteinert aufgewacht und habe mir gesagt: ‚Sowas wird nicht passieren.' Dass es selbst dort auf der anderen Seite, bei den Radikalen, Grenzen gibt. Doch der letzte Samstag hat mich wirklich erschüttert, weil sich mein ganzes Konzept des Konflikts geändert hat – hinsichtlich meiner Vorstellung, welche Grenzen nicht überschritten werden.“

Über 1.200 Israelis, darunter auch Kinder und Babys, wurden brutal ermordet, wobei die Hamas ihren Tod sogar über die Telefone der Opfer übertragen hat. Über 100 werden in der Gefangenschaft der Hamas vermutet. „Jeden Morgen sehe ich mein Kind an und kann kaum Luft holen, wenn ich an die Geschichten von Eltern denke, die gestorben sind, oder Eltern, die ihre Kinder verloren haben, oder von Kindern, die ohne Eltern entführt wurden, oder umgekehrt. Es ist das reinste Chaos.“

Meine Welt hat sich verändert

Kaslasy-Way lebt in einer engen Familienbande. Ein Bruder und eine Schwester wohnen in der südlichen Stadt Dimona, und ein weiterer Bruder lebt in Aschdod, einer Küstenstadt, die ebenfalls regelmäßig unter Raketenbeschuss steht. In ihrer Whatsapp-Familiengruppe tauschen sie normalerweise Rezepte aus, geben an und tratschen.

Am vergangenen Samstagmorgen, noch etwas benommen vom Aufwachen, bemerkte Kaslasy-Way eine Reihe von Nachrichten in der Gruppe, schenkte ihnen aber nicht allzu viel Aufmerksamkeit. „Schließlich, um 8 Uhr morgens, schaute ich mir die Nachrichten näher an, und es sah erstmal nach südlicher 'Normalität' aus, denn es wurden Raketen abgefeuert, und meine Nichte schrieb, dass Oma und Opa in die Schutzräume gehen. Doch dann wurde mir klar, dass es mehr als das ist. Es waren 100 Raketen, und das schien eine Menge zu sein.“

Dann sah sie sich Video an, das in der Gruppe gepostet wurde und das inzwischen viral gegangen ist, aufgenommen von einem Balkon in Sderot. Ein Mädchen schreit „Ima“ (Mama), während die Kamera auf schwarz gekleidete Terroristen zeigt, die auf einem Pick-up auf der Straße sitzen, einer Straße, auf der Kaslasy-Way einmal nur knapp einem Raketenangriff entgangen war. Die Raketen hatten dem Eindringen der Hamas Deckung gegeben.

„Alles, was man in dem Video sieht, sind bewaffnete Terroristen, und so dachte ich, dass die Armee bereits dort ist und sie jetzt tötet.“ Aber die Armee kam nicht, zumindest mehrere Stunden lang nicht, ein Misserfolg, den Israel aufarbeiten muss. Die Hamas besetzte die Stadt und übernahm irgendwann sogar die Kontrolle über die Polizeistation, eine Station, die Kaslasy-Way erst im August besucht hatte, als sie zur Buchvorstellung in ihrer Heimatstadt war. Berichten zufolge überlebte nur ein israelischer Polizist das Feuergefecht, bei dem die Kontrolle zurückerobert wurde.

Schließlich erhielt Kaslasy-Way am Samstag um 10:14 Uhr ein Bild von Einwohnern von Sderot, die tot in der Nähe einer Bushaltestelle lagen. Es stellte sich heraus, dass die Hamas-Terroristen auf jeden schossen, der ihnen über den Weg lief, egal ob Jogger und Synagogenbesucher. „Als ich den Pick-up-Truck mit den Terroristen sah, bekam ich Angst“, sagte sie. „Aber als ich die Bilder der Leichen in meiner Heimatstadt sah, wusste ich, dass sich meine ganze Welt verändert hat. Und die Welt hat sich verändert.“

 

Redaktioneller Hinweis: Adi Kaslasy-Way Bruder lebt in Aschdod und nicht in Aschkelon, wie es in einer früheren Version dieses Beitrags hieß.

 

Orit Arfa, geb. in Los Angeles, schreibt regelmäßig für die Jerusalem Post, das Jewish Journal of Los Angeles und den Jewish News Service. Ihr zweites Buch, „Underskin“, handelt von einer deutsch-jüdischen Liebesgeschichte.

Foto: Marko Bußmann

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Leserpost

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Sturm Peter / 14.10.2023

Darum haben die Europäer des Schwertes Al-Andalus beendet, aus denselben Gründen, bevor die weitverbreitete islamische Infrastruktur sich in der Volkskammer von Recht & Ordnung festsetzen konnte, um ihre Macht zu nutzen. Deswegen trennten alte weise Europäer den Islam von Europa.

R.Camper / 14.10.2023

@Albrecht Pflüger “Wir sind alle “Ungläubige”. Wir sind alle gemeint, auch wenn wir im Koran nicht erwähnt werden,” Sorry, für’s rumklugscheißen.  Ich bin zwar kein Koranexperte, aber soviel wie ich weiß, werden zumindest die Christen im Koran erwähnt. Die Christen sollen auch nicht getötet werden, sondern als Dhimmis der Muslime, ihr Dasein fristen. Eigentlich sind wir ja schon Dhimmis, für eine große Anzahl der Muslime jedenfalls. Die Atheisten allerdings, ja, die werden mit Juden auf eine Stufe gestellt, zumindest was ihre Aussicht auf weiterleben betrifft.

W. Mertens / 14.10.2023

Ich sehe hier ueberall nur blau-gelbe Fahnen und keine blau-weissen. Und auf den Strassen keine hunderttausende, die Solidaritaet zeigen. Denn jetzt ist Mut nicht mehr gratis. Stattdessen unterstuetzt man die Erben des Muftis von Jerusalem, die in ungebrochener Linie ueber Arafat und PLO das menschenverachtende Weltbild der SS weiterleben. Lesen Sie mal den Wikipedia-Eintrag von Herrn Husseini, da wird vieles klarer. Die Hamas, und ich behaupte, ein Grossteil der Muslime, moechte die Juden ausrotten. Und danach die Christen. In Deutschland wurden fuer solche Verbrechen Grosstaedte samt der Zivilbevoelkerung in Schutt und Asche gelegt, und vielleicht war das sogar eine gerechte Strafe fuers feige Mitmachen. Dagegen geht die IDF human vor, ich persoenlich wuerde emotional dazu neigen, das Problemgebiet auszuradieren, waere ich Betroffener. Und dabei bin ich keineswegs unkritisch mit dem Staat Israel.

Harald Oczko / 14.10.2023

Wer immer noch Zweifel daran hegt, wer und as die Hams ist, dem sei mal deren Charta empfohlen. Es ist eine durch und durch entmenschlichte Bande von Mördern, die weder an Palästina, noch an einem Frieden und/oder einer wie auch immer gearteten Zweistaatenlösung im Nahen Osten interessiert sind. Deren Geschäftsmodell ist schlicht und ergreifend zu töten, zu foltern, zu demütigen, eben zu zerstören und zu unterdrücken. Sie schrecken vor nicht zurück. Die eigene Bevölkerung ist ihnen scheißegal. Sie dient nur als Deckung, hinter der sich die feigen Schlächter verbergen, wenn es für sie Ernst wird. Es kann und wird hoffentlich für dieses Phänomen nur ein Lösung geben: Auslöschung, totale Neutralisierung. Solange GAZA im Übrigen von der Hamas unangefochten (weil durch die dortige Bevölkerung mehr oder weniger unterstütz und hingenommen) beherrscht wird, so lange ist GAZA an sich als Ganzes auch das Problem. Eben so, wie es Nazi-Deutschland als Ganzes bis zum 08.05.45 auch war. Israel hat also keine Wahl, ein Einmarsch und die zu erwartenden Kollateralschäden (so wie einst in Nazi-Deutschland) sind alternativlos. Jedes und alle Opfer, auf welcher Seite auch immer, sind solche der Hamas. Hamas öffnete die Büchse der Pandora mit Wissen und Wollen darum, dass es möglicherweise zudem unüberschaubare Opferzahlen auf Seiten der Palastinänser, geben wird. Jetzt muss und wird abgerechnet. Und Hamas wird schmerzvoll erfahren, das die Toten immer erst am Ende der Schlacht gezählt werden.

Heino Mursi / 14.10.2023

Ich habe in meinem Leben und weltweit schon Einiges erlebt. Es waren auch schlimme Dinge dabei. Aber das, sehr geehrte Frau Arfa, worüber Sie hier schreiben, lässt mich stumm, entsetzt und erstarrt zurück. Mehr kann ich jetzt eigentlich dazu nicht schreiben.

Gerhard Schmidt / 14.10.2023

Ob ausgerechnet Berlin ein sicherer Ort für Juden ist…?

Chris Kuhn / 14.10.2023

Netanjahu ließ 1600 von 2400 Militärs von der 51 km langen Grenze zum Gazastreifen abziehen, um Angriffe auf ein Laubhüttenfest von Siedlern im Westjordanland abzusichern. Diesen Fehler dürfte er politisch nicht überleben, und daran ändert auch die übliche 10:1 Vergeltung auf ebenfalls vorwiegend Zivilisten in Gaza nichts.

R. Bunkus / 14.10.2023

Was in Israel passiert, ist einfach nur traurig und erschüttert. Wenn sich die Welt schon verändert, dann bitte schön auch die deutsche Politik, die muslimischen Antisemitismus immer als Israelkritik verbrämt und unterschätzt hat, die Israelfeinde hofiert und ihnen den Weg bereitet hat. Bevor der Islam zu Deutschland gehört, gehören Juden zu und nach Deutschland. Es sollte zuerst auch ihre Heimstatt sein.

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