Als Vorsitzende des Ethikrates bemühte sich Alena Buyx in den Corona-Jahren diensteifrig, jede Grundrechtseinschränkung und alle Verbote und Nötigungen „ethisch“ zu rechtfertigen. Jetzt würde die Chef-Ethikerin diese Spuren wohl gern verwischen.
Der deutsche Ethikrat spielte in den Jahren 2020 bis 2022 die Rolle des Stichwortgebers der Politik für restriktive Maßnahmen wie Lockdowns, Masken- und Impfpflicht. Die Zeitpunkte seiner Kehrtwenden passten stets perfekt mit weiteren Grundrechtseinschränkungen zusammen. Als Vorsitzende des Ethikrates trug Alena Buyx alle Entscheidungen mit und hatte offenbar keine Einwände, als freundliches Gesicht des Nannystaates immer genau jene Entscheidungen „ethisch“ zu umklingeln, die Lauterbach und Konsorten treffen wollten. Mir ist zumindest keine Buyx-Rede erinnerlich, in der sie dem Gesundheitsminister, der Kanzlerin, dem Kanzler, den „Experten“ oder einem maßnahmenaffinen Ministerpräsidenten verbal in die Parade gefahren wäre. Ethik, so scheint es, ist für den Ethikrat etwas für ruhige Zeiten, die man, wenn es zur Krise kommt, als erstes über Bord wirft.
Ich habe das immer genau andersherum und offenbar falsch verstanden und Ethik als etwas solides wie ein Sturmsegel betrachtet, als das letzte Mittel, mit dessen Hilfe man einen Orkan abwettern kann, in dem alle alltäglichen Regeln und jede Rationalität versagen. Jetzt erleben wir nach drei Jahren Dauerpandemiemodus, wie sich ein Steuermann nach dem anderen absetzt und dabei versucht, gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu laufen. Denn einerseits möchte man die eigenen gut dokumentierten Aussagen und Entscheidungen nicht infrage stellen und andererseits so tun, als hätte man sie nie vertreten. Alena Buyx hat der ZEIT ein langes und, wie ich finde, verstörendes Interview gegeben, und ich hatte die Gelegenheit, kurz hinter die Bezahlschranke zu schauen. „Eine von Wut getriebene Suche nach Schuldigen hilft überhaupt nicht“, meint Buyx. Doch leider wünscht Frau Buyx auch keine sachliche und faktenbasierte Suche nach den Schuldigen. Hätte ich den Artikel bloß nie gelesen!
„Quälend aber richtig“
ZEIT ONLINE: „Wurden dem Gesundheitsschutz zu viele Freiheiten geopfert?“
Buyx: „Weil ich diese Gegenüberstellung nicht gut finde, kann ich die Frage nicht so umfassend beantworten. Ich würde mir ein solches Urteil außerdem niemals anmaßen, und das gilt auch für uns im Ethikrat. Wir haben auf einzelne Dinge hingewiesen, etwa dass unser Rechtsstaat und die parlamentarisch-demokratische Kontrolle im Großen und Ganzen gut und belastbar funktioniert haben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat meines Erachtens nicht in dieser Absolutheit geantwortet, genauso wenig wie der Sachverständigenausschuss beim Infektionsschutzgesetz.“
Schon die Frage enthält einen Kategoriefehler. Denn sie unterstellt, dass die Opferung von Freiheiten dem Gesundheitsschutz tatsächlich zuträglich war. Die Antwort ist einer der wenigen Momente im Interview, in denen Buyx die Deckung fallen lässt. Denn die Frage beinhaltet den Vorwurf einer misslungenen Güterabwägung und den findet die Vorsitzende des Ethikrates nicht gut.
Buyx: „Unsere Gesellschaft hat ständig über das beste Verhältnis zwischen Freiheit und Gesundheit diskutiert – und zwar in einer Art und Weise wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Live und in Farbe. Zweieinhalb Jahre lang. Und das hat uns belastet. Das hat die öffentliche Diskussion belastet. Sie ist nachweislich ruppiger, gereizter und polarisierter geworden. Trotzdem ist meine Einschätzung, dass wir das insgesamt als Gesellschaft, als Land ernsthaft getan haben, immer wieder. Das zeigt sich auch darin, dass die Maßnahmen bei uns im internationalen Vergleich nicht die striktesten waren, aber sicherlich auch nicht die lockersten. Zudem wurde ständig nachjustiert. Das war quälend, ist aus ethischer Perspektive aber richtig, weil es eben darum geht, die Verhältnismäßigkeit zu wahren in der Balance von Freiheit, Gesundheit und all den anderen wichtigen Gütern wie Kultur- und Partizipationsrechten.“
Einige sind nicht mitgemeint
Buyx findet zurück in den Verteidigungsmodus und argumentiert, als seien Freiheit und Gesundheit – wie in der Frage unterstellt – kommunizierende Röhren, und wenn man das eine verbessern wolle, müsse man zwangsläufig das andere verschlechtern. Wenn sie von „wir insgesamt als Gesellschaft“ spricht, sind einige nämlich nicht mitgemeint, wie wir noch lesen werden.
ZEIT ONLINE: „Es gibt die Kritik, dass rote Linien überschritten wurden. Als Beispiel wird oft die 2G-Regelung genannt, die Ungeimpfte zeitweise aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen hat. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?“
Buyx: „Ja. An der meisten Kritik, die man hört, kann ich etwas finden – weil es wirklich schwierige Entscheidungen waren. Kritik zeigt, dass wir eine lebendige Gesellschaft sind. Und es wurde in der Pandemie alles immer und auch oft sofort kritisiert. Nehmen Sie die berühmten Ministerpräsidentenkonferenzen: Die waren noch nicht zu Ende, da hagelte es schon Kritik, weil irgendwer die Unterlagen durchgestochen hatte.“
Ob die Entscheidungen schwierig waren, ist unerheblich. Sie waren falsch!
ZEIT ONLINE: „Und die 2G-Regelung – war die aus ethischer Sicht, aus heutiger Perspektive fragwürdig?“
Buyx: „Ich finde es sehr schwierig, Maßnahmen und Entscheidungen rückblickend so zu bewerten.“
Ich nicht. Schon weil ich das nicht nur rückblickend so sehe, sondern von Anfang an.
„Wer das unbefangen tut, macht es sich zu leicht. Das Wissen, das wir heute haben, färbt unsere Bewertung massiv ein.“
Das Wissen hatten wir auch damals schon, doch es wurde ausgeblendet und unterdrückt.
„Deshalb darf man nie ahistorisch auf die Dinge blicken.“
Aber afaktisch und einseitig ist erlaubt?
„Das heißt nicht, dass man nicht hinterfragen, analysieren und kritisieren darf. Aber es verfestigt sich gerade ein wenig das Narrativ, dass die ganze Corona-Politik problematisch war. Und das stimmt nicht. Bei aller Kritik muss man redlich bleiben.“
„Die mildere Maßnahme“
Doch man durfte nicht hinterfragen, die ganze Corona-Politik war problematisch und den Kritikern sprach man von Anfang an jede Redlichkeit ab! Buyx fordert hier, was den Kritikern verweigert wurde.
„Nun aber zu 2G. Das ist eine schwierige Maßnahme. Ich habe damals gesagt, dass staatliches und flächendeckendes 2G wenn, dann nur maßvoll und so kurz wie irgend möglich eingesetzt werden sollte, auch andere Ethikratsmitglieder haben das betont. Dabei habe ich immer wieder unterstrichen, dass grundsätzlich 3G, also dass auch Getestete Zugang bekommen, besser ist, weil es mehr gesellschaftliche Teilhabe erlaubt. Ich glaube trotzdem, dass es gerechtfertigt war, 2G phasenweise einzuführen. Denn die Alternative war, alles für alle dichtzumachen, auch für diejenigen mit deutlich weniger Risiken. Da war dann 2G im Vergleich die mildere Maßnahme. Wir dürfen nicht vergessen, dass 2G zu einer Zeit eingeführt wurde, in der die Impfungen die Transmission des Virus noch deutlich reduzierten, nämlich in der Delta-Welle. Und ein Test ist nun einmal kein Schutz. 2G war übrigens auch keine krasse deutsche Erfindung, sondern galt zeitweise in vielen Ländern, auch in der verhältnismäßig liberalen Schweiz.“
Buyx war dafür, Maßnahmen „hocheskalieren“ zu lassen. Der Ethikrat war auch für die Impfpflicht. Ob die kurz oder lang gelten solle, ist so unerheblich wie die Dauer einer Vergewaltigung. Das klingt so gar nicht nach Teilhabe, sondern nach eiskalter Folter. Wo steht geschrieben, dass die Alternative zu 2G „alles dichtmachen“ ist? Und seit wann genügt es als Begründung für Grundrechtseinschränkungen, dass andere Länder genauso verfahren? Zu der Geschichte mit der Delta-Welle komme ich gleich noch.
ZEIT ONLINE: „2G ist nur ein Beispiel: Haben Medien, Politik und Gesellschaft zu viel Druck auf Ungeimpfte ausgeübt?“
Buyx: „Meine Wahrnehmung war, dass wir zunächst, also Anfang bis Mitte 2021, über die Geimpften gesprochen haben: Wie toll es ist, geimpft zu sein; wer die Impfung schon hat und wer sie als Nächstes bekommt. Aber das hielt nicht lange: Parallel zur Delta-Welle im frühen Herbst 2021, als es in den Krankenhäusern bald richtig unangenehm wurde und wieder Maßnahmen erörtert wurden, ging es plötzlich ganz verstärkt um die Perspektive der ungeimpften Menschen und was wir denen mit den Maßnahmen zumuten. Das hat mich damals erstaunt. Ich habe das nicht als direkten Druck empfunden. Aber wahrscheinlich hat es indirekt Druck erzeugt, weil auf einmal diese unglaubliche Aufmerksamkeit und mediale Kraft auf diese Gruppe gerichtet wurden. Da hatten die Medien tatsächlich einen Anteil dran. Ich habe in Vorgesprächen zu Interviews immer wieder gesagt: Wir sollten viel mehr erklären, dass sich die Risiken zwischen geimpften und ungeimpften Menschen so stark unterscheiden. Dass es nicht um ein Bestrafen geht, sondern um Schutz und um eine faire Verteilung von Risiken und Belastungen. Und wir sollten viel positiver über das Geimpftsein reden. Aber die Medien haben damals in meiner Wahrnehmung vornehmlich über ungeimpfte Menschen reden wollen.“
„Schrittweise hocheskalieren“
Möchte da jemand seine Spuren verwischen? Es lief längst nicht mehr Delta, sondern die „Omikron-Welle", als Buyx bei Lanz Folgendes sagte: „Diese freie Entscheidung, sich nicht zu impfen, die hat eben Effekte auf uns alle. […] Das, was man jetzt machen muss, ist, dass man schrittweise schaut, dass man es so grundrechtsschonend wie möglich hinkriegt, aber dennoch genug Maßnahmen einführt. Und da muss man die sozusagen schrittweise hocheskalieren.“ Schonen ist nicht verschonen, biegen ist nicht brechen und dem „schrittweise hocheskalieren“ auszuweichen, ist nicht dasselbe, wie eine Entscheidung frei von rechtswidrigen Erpressungen zu fällen. Aber wenn Frau Buyx das nicht als direkten Druck empfindet – dem sie ja selbst nicht ausgesetzt war – muss mir das als Rechtfertigung nicht genügen.
ZEIT ONLINE: „Der Druck war nicht nur indirekt. Ungeimpfte wurden verbal angegangen – Karl Lauterbach sagte: ‚Das ganze Land wird in Geiselhaft dieser Menschen sein.‘ Und 2G etwa zielte erklärtermaßen darauf, dass sie sich impfen lassen.“
Buyx: „Sätze wie diesen habe ich damals viel aus Krankenhäusern gehört, von wahnsinnig frustrierten Ärzten und Pflegekräften. Und klar, die Maßnahmen sollten wohl auch ein Anreiz sein. Das hat die Politik ja gesagt. Ich will also gar nicht abstreiten, dass da auch ein sozialer Druck entstanden ist. Was man aber nicht vergessen darf, wenn man jetzt 3G und 2G vergleicht: Es ging um Schutz. Ein Test ist kein individueller Schutz, eine Impfung schon, damals sowohl vor Ansteckung als auch vor schwerer Erkrankung. In der Zeit, als die Maßnahmen galten, lagen vor allem ungeimpfte Menschen auf der Intensivstation. Und der Druck entstand auch, weil viele die durchaus nachvollziehbare moralische Intuition teilten: Wer sich jetzt nicht impfen lässt, ist unsolidarisch.“
Nochmal zum Mitschreiben, Frau Buyx: Diese Impfung schützt nicht vor Covid. Auch nicht vor der Übertragung. Die Hersteller haben diesen Aspekt nicht mal getestet, wie Pfizer vor dem EU-Parlament unlängst zugab. Und hätte die Politik die kritischen Stimmen nicht ausgeknipst, würde sich diese Erkenntnis deutlich schneller durchgesetzt haben. Wir reden hier ja nicht vom Nebel der Unkenntnis, in dem wir uns bis Mitte 2020 noch befanden, sondern von einer Phase, in der die Politik auf alle Fragen und Probleme nur eine Antwort zuließ: impfen, boostern, auffrischen! Wer diesen Druck als „Anreiz“ verkauft, kann genauso gut Schulden zu „Sondervermögen“ erklären!
ZEIT ONLINE: „Eine kürzlich erschienene Studie zeigt, dass in verschiedenen Ländern Geimpfte diskriminierende Einstellungen gegenüber Ungeimpften haben: Sie wollen nicht, dass sie in die Familie einheiraten oder in ihre Nachbarschaft ziehen.“
Buyx: „Ja, das kam leider von beiden Seiten. Nicht alle, die sich nicht impfen lassen wollen, sind Impfgegner. Aber aus dem radikalen Impfgegnerlager, einem lauten Völkchen, kamen die absurdesten Sachen. Keine Blutspenden von Geimpften und keinen Sex mit ihnen, da gab es Angst, dass geimpfte Menschen irgendwelche Partikel verbreiten, die gefährlich sein können. Da gab es auch eine Selbstabgrenzung. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass dies kein neues Phänomen ist. Leider zeichnet es uns Menschen auch aus, andere einfach aufgrund bestimmter Eigenschaften abzulehnen.“
Die einen hatten Macht und die anderen nicht
Da kommt der kleine ABC-Schütze zur Schule und wird vom großen Fünftklässler verprügelt, damit er sein Essensgeld rausrückt, und die Lehrerin Frau Buyx tritt zwischen beide und sagt: „Vertragt euch wieder und gebt euch die Hand! Es wurden Fehler auf beiden Seiten gemacht!“ Es geht hier aber darum, dass jene mit Macht, die gegen jene ohne Macht zu verschiedenen Stufen der Gewalt griffen. Da gibt es keine „zwei Seiten“! Spricht Buyx an anderer Stelle noch versöhnlich davon, dass nicht jeder ein Impfgegner sei, der die Präparate von Pfizer und Moderna ablehnt, fällt sie hier wieder zurück ins Ausgrenzungsvokabular der letzten Jahre: „radikales Impfgegnerlager“, „lautes Völkchen“, „absurdeste Sachen“.
Sicher, es gab absurde Vorwürfe. Doch was ist mit absurden Behauptungen wie „die Impfung ist praktisch nebenwirkungsfrei“ angesichts der Tatsache, dass mit einem Fall ernster Nebenwirkungen auf 800 Verabreichungen (Dr. John Campbell, Neuanalyse der mRNA-Versuchsdaten) zu rechnen ist? Was ist mit „die Impfung verhindert die Übertragung“? Doch Buyx wiegelt ab. So ist er eben, der Mensch! Er grenzt andere aufgrund bestimmter Eigenschaften aus. Zufällig ist dies wörtlich Bestandteil jeder Definition für Rassismus. Nun ist es zutreffend, dass es Rassisten gibt und immer gab. Doch wenn ein Staat sich dieses Mittel zu eigen macht, ist es systemisch und damit ein Problem.
ZEIT ONLINE: „Trotzdem ist ein neuer Riss in der Gesellschaft entstanden, oder?“
Buyx: „Dieses Gerede von einer gespaltenen Gesellschaft halte ich für Quatsch, weil es impliziert, wir würden komplett auseinanderfallen. Trotzdem gibt es natürlich Spaltungsphänomene. Wir sehen nachweislich eine stärkere Polarisierung in der öffentlichen Diskussion, die Leute buddeln sich stärker in ihren Gräben ein. Es entwickeln sich neue Einstellungen und Formen der Abwertung, die uns Sorgen machen müssen. Das hat einen Effekt auf das Vertrauen und die Resilienz der Gesellschaft, insbesondere in den Krisen, in denen wir bereits sind und auch in denen, die noch vor uns liegen. Der wahrgenommene gesellschaftliche Zusammenhalt hat messbar abgenommen.“
Spaltung? Quatsch! Es gibt nur Spaltungsphänomene und der Zusammenhalt nimmt ab. Das sind semantische Hütchenspiele mit bedeutungsgleichen Aussagen, wie wir sie von sogenannten „Faktencheckern“ nur zu gut kennen.
ZEIT ONLINE: „Was kann man dagegen tun?“
Buyx: „Alles fängt damit an zu sagen: Wir haben keine monolithischen Blöcke in der Gesellschaft, die sich gegenüberstehen. Wir vom Ethikrat haben immer betont: Sieh den Menschen, lehne Andersdenkende nicht sofort ab, sondern frag, warum sie anders denken.“
Warum denken Andersdenkende anders?
Ihr habt „Andersdenkende“ zum Schimpfwort gemacht. Niemand hat gefragt, warum Andersdenkende anders denken, auch der Ethikrat nicht. Die Ausgrenzung war pauschal, umfassend und falsch.
ZEIT ONLINE: „Wie genau soll das gehen?“ [Frage auf die Aussage, nicht nur die Politik, die ganze Zivilgesellschaft müsse bei der Versöhnung mithelfen. Anmerkung des Autors]
Buyx: „Mit weniger Lust an der Empörung. Wir sollten in den öffentlichen Diskussionen viel mehr betonen, was uns verbindet. Gegenwärtig betonen wir lustvoll die Unterschiede: Lastenrad versus SUV, Elon-Musk-Jünger versus Social-Media-Verweigerer, Klimakleber gegen Atomkraft-Fan. Da sind auch die Medien gefragt. Es braucht mehr Geschichten darüber, dass es auch WGs gibt, in denen geimpfte und ungeimpfte Menschen entspannt zusammenleben. Und dass es nicht nur Familien gibt, die zerrüttet sind, weil es einen Querdenker-Onkel gibt, sondern auch Familien, die wieder zusammenkommen. So etwas sieht man kaum.“
„Ich mag hier keine Medienkritik veranstalten, das ist nicht meine Kompetenz, aber ich wünsche mir durchaus ein bisschen mehr Verantwortungsgefühl und Blick auf das große Ganze. Medien gestalten die öffentliche Diskussion, entsprechend besteht auch die Verantwortung, darüber zu reflektieren, welche Auswirkungen diese Arbeit hat. Das passiert natürlich auch, aber angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen muss vielleicht noch stärker in den Blick genommen werden, dass es direkt zur Polarisierung beiträgt, wenn Aussagen zu sehr pointieren und verkürzen. Der Eindruck der gesellschaftlichen Spaltung, der in den letzten zweieinhalb Jahren entstanden ist, kommt auch daher. Verstärkt wird das noch von Social-Media-Plattformen, die spaltenden und polarisierenden Content hochranken, weil Menschen häufiger draufklicken und länger auf der Plattform bleiben, wenn der Algorithmus so funktioniert. Auch da sollten wir gesellschaftlich gegensteuern.“
Natürlich ist nach wie vor der „Querdenker-Onkel“ das Problem. Allein schon die Verwendung dieses Begriffs als Konzentrat von Ausgrenzung und Ressentiment zeigt, dass Buyx scheinbar noch immer nicht verstanden hat, wie Spaltung durch Vorurteile funktioniert. Wir sollen das Verbindende sehen, nicht das Trennende. Und das, nachdem drei Jahre lang das Trennende das Verbindende zu sein hatte! Es mag ja Ausgrenzung und Denunziation gegeben haben, aber sicher hatte der eine oder andere auch Ungeimpfte im Keller versteckt, und das müsse doch auch in die Waagschale!
Doch wir wissen längst, welcher Content in den Medienplattformen unterdrückt, und welcher hochgefiedelt wurde. Es war auch kein Algorithmus, der das tat. Die Kategorie „polarisierender Inhalt“ kann die KI nämlich noch nicht sinnvoll erkennen, wohingegen sich die offizielle Linie von Politik und Medien durch „manuellen Druck“ auf die Sozialen Netze durchsetzen ließ. Das wissen wir spätestens, seit Elon Musk interne Twitter-Dokumente untersuchen lässt. Hier hängen Buyx‘ Argumente also gefährlich in der Luft.
Buyx: „Es gibt ein tiefes, umfassendes Bedürfnis, diese Pandemie zu bearbeiten. Und offenbar auch, irgendwelche Schuldigen zu finden. Und zwar für ganz unterschiedliche Aspekte. Schuldige für einzelne Entscheidungen oder die gesamte Politik. […] Ich persönlich habe kein Problem damit, um Entschuldigung zu bitten dafür, dass wir vom Ethikrat die Jungen nicht genug in den Fokus genommen haben. Aber dieses Bedürfnis, Schuldige zu finden, hat zum Teil etwas Unstillbares, da scheint es gelegentlich eher um Rachegefühle, um Sühne zu gehen. Eine von Rache und Wut getriebene Suche nach Schuldigen ist eine gefährlich einfache, also keine Lösung, die hilft überhaupt nicht weiter.“
[…]
„Wir brauchen eine Trias: analysieren, lernen, heilen. Das muss man nach einer Krise machen, aber das haben wir als Gesellschaft nie gemacht und konnten wir auch nicht machen. Erst, weil die Krise noch nicht vorbei war. Und dann, weil der Krieg und die anderen Krisen kamen. Wobei man bedenken muss, dass die Pandemiepolitik auch eine Projektionsfläche geworden ist für alles Mögliche, das in der Gesellschaft nicht gut ist. Also darf man sich auch nicht zu viel von so einem Prozess versprechen.“
„Suche nach Schuldigen ist demokratiegefährend“
Die einen möchten die Pandemie bearbeiten, während andere sie noch beackern. Auch Buyx argumentiert noch mit der Wirksamkeit der Covid-Impfungen, und die „Entschuldigung“ des Ethikrates bezog sich auf einen zwar wichtigen, aber nur kleinen Teilaspekt: Kinder und Schulschließungen. Auch gab es bisher keine Konsequenzen, weder personeller noch strafrechtlicher Art.
Zu dumm aber auch, dass die Krisen gerade so dicht aufeinander folgen, dass keine Zeit für Aufarbeitung oder „Heilung“ bleibt! Von Verantwortung ist erst gar nicht die Rede, weil sowas doch nur benutzt würde, um „alles Mögliche“ mit auf die Rechnung zu setzen. Und nun ist sowieso Krieg, also Klappe halten! Ich frage mich gerade, in welchem zeitlichen Abstand zur Krise man dereinst von „vergessen“ auf „erinnern“ umschalten wird. Vermutlich wird es mit wachsendem Abstand zu einer ähnlichen Vermehrung von Maßnahmenkritikern kommen, wie erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg die Antifaschisten immer zahlreicher wurden.
„Damit etwas heilen kann, muss man innehalten und den Schmerz spüren. Wir müssen anerkennen, was wir alle in dieser Pandemie verloren haben. Diese vielen Verluste zu benennen und festzuhalten, ist total wichtig für den Heilungsprozess. Wenn das nicht passiert, dann gärt es, dann eitert die Wunde und heilt nicht. Dann werden Menschen wütend und wollen einen Schuldigen haben. Die Suche nach dem Schuldigen entzündet sich ja häufig an konkreten Verlusten. Dieses Bedürfnis ist nachvollziehbar, aber wahnsinnig toxisch. Es hat einen tiefen Effekt auf die Polarisierung der Gesellschaft. Und es ist demokratiegefährdend. Denn Menschen mit unverarbeiteter Wut neigen nachweislich stärker zu Gewalt und extremen politischen Positionen.“
Der bereits gespürte und absichtlich zugefügte Schmerz zählt jedoch nicht. Man kann aber kein Messer aus einer Wunde ziehen, ohne zu fragen, wie es dorthin kam. „Wir haben alle verloren“ ist in mehrfacher Hinsicht verlogen. Denn einige haben mehr verloren als andere und so mancher ist bei all dem Verlieren ziemlich reich geworden. Die Suche nach Schuldigen entzündet sich auch nicht an konkreten Verlusten, sondern an Schuld. Buyx versucht, die staatlichen Übergriffe in den drei Pandemiejahren als eine Art „opferloses Verbrechen“ hinzustellen, so, als sei jemand um drei Uhr nachts über eine einsame rote Ampel gefahren.
Nun ist es halt da, das Messer im Rücken, und zu fragen, wer es dort hineingestoßen hat, ist toxisch und demokratiegefährdend. Den Schmerz zu verarbeiten, bedeutet nach dieser Logik im Umkehrschluss, ihn zu ignorieren und zu vergessen, weil sonst die Demokratie in Gefahr sei. Oder noch kürzer: Demokratie bedeutet, schweigend Schmerz zu erleiden, und das ist auch gut so. Wer möchte da nicht ein guter Demokrat sein? Heute ist erst der dritte Januar und ich habe jetzt schon genug Buyx und Ethikrat für ein ganzes Jahr gelesen.
Dieser Beitrag erschien zuerst hier auf Roger Letschs Blog unbesorgt.de.