Von Okko tom Brok.
Die inzwischen systematische, offenbar vollkommen skrupelbefreite Täuschung der Bürger dieses Landes stellt eine existentielle Bedrohung für die Demokratie und einen kaum für möglich gehaltenen Kulturbruch dar.
„Lügen haben kurze Beine“, Lügen sind im Verdacht, hässlich zu machen, und bekanntlich stirbt (nicht nur) im Krieg die Wahrheit immer zuerst. Die Auseinandersetzung um Wahrheit und Lüge begleitet die Menschheit seit Anbeginn aller Geschichtsschreibung. Das griechische Wort für Lüge (ψεῦδος – Pseudos) schwingt noch heute in unserem Sprachgebrauch mit, wenn wir zum Beispiel von falschen Ärzten und Medizintechnikern als „Pseudo-Medizinern“ sprechen.
Doch selten waren die Lügen so unverhohlen, so rücksichtslos, so blitzartig wie nach der letzten Bundestagswahl in Deutschland. Binnen weniger Tage zerriss die CDU die eigenen Versprechen – Migrationswende, Haushaltsdisziplin, Kernkraft – als hätte sie sich am Wahlabend von ihrer eigenen Identität verabschiedet. Ist das bloß politische Notwendigkeit, oder betreten wir eine Ära der vollkommenen Täuschung?
Die Politikwissenschaft weiß: Wahlversprechen sind oft bewusst vage formuliert, um Deutungsspielräume zu schaffen. Aber der schiere Umfang des gegenwärtigen Wortbruchs geht über bloße „Flexibilität“ hinaus. Wir erleben den Triumph der Simulation über die Realität: Wähler werden nicht nur getäuscht, sie werden bewusst in eine Illusion gelenkt. Dies erinnert an Jean Baudrillards Konzept der „Simulacra“ – die Realität wird ersetzt durch ein Trugbild, das als Realität verkauft wird.
Politik ist stets auch die Kunst des Machbaren, aber wann schlägt sie in reine Manipulation um? Hannah Arendt differenzierte zwischen Wahrheit und Lüge in der Politik als zwei konkurrierenden Prinzipien: Wahrheit ist tatsächlich „alternativlos“, Lügen hingegen kennen unendlich viele Variationen. Die heutige Demokratie lebt viel zu oft nicht mehr von der Wahrheit, sondern von der Pluralität der Lügen.
Formen der Unwahrheit und ihre politische Funktion
1. Die direkte Lüge: Eine bewusste Falschbehauptung, etwa das Versprechen, eine Migrationswende einzuleiten, während bereits feststeht, dass dies nicht geschehen wird. Dies ist die klassische politische Lüge – moralisch verwerflich, demokratisch gefährlich.
2. Die Halbwahrheit: Eine selektive Darstellung von Fakten, die den Eindruck einer bestimmten Realität erzeugt. Beispielsweise kann eine Regierung betonen, dass die „Nettozuwanderung“ zurückgeht, während die Gesamtzahl der Migranten steigt. Halbwahrheiten sind besonders perfide, weil sie schwer zu widerlegen sind.
3. Die Notlüge: Im privaten Leben oft akzeptabel, in der Politik jedoch fragwürdig. Ist es legitim, eine drohende Haushaltskrise zu verschweigen, um keine Panik zu erzeugen? Oder führt dies nur zu noch größerem Schaden? Die Grenze zwischen Notlüge und Manipulation ist fließend. In jedem Fall verschafft die politische Notlüge nur einen geringen Zeitgewinn, dem ein umso schärferer Vertrauensverlust zu folgen droht.
4. Die Verschleierung durch Sprache: Euphemismen wie „Sondervermögen“ statt „Schulden“ oder „Fachkräftezuwanderung“ statt „Massenmigration“ dienen dazu, unangenehme Wahrheiten zu verharmlosen. Diese Form der Lüge manipuliert das Denken, indem sie die Sprache selbst verdreht.
Vom gebrochenen Versprechen zur Täuschung
Juristisch gesehen ist die Täuschung der Wähler bedauerlicherweise nicht direkt strafbar – politisches Versagen ist keine Betrugsstraftat. Doch wie lange kann eine Demokratie überleben, wenn ihre Grundvoraussetzung, das Vertrauen, systematisch unterminiert wird? In der Vertragslehre gilt: Wer einen Vertrag unter falschen Voraussetzungen abschließt, kann diesen anfechten. Doch Wahlen haben keine Rücktrittsklausel.
Der Rechtsstaat unterscheidet zwischen Lüge und Betrug. Betrug setzt eine Schädigungsabsicht voraus. Doch wo liegt die Grenze zwischen Täuschung und einem kalkulierten Machtkalkül? Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch sprach vom „Unrechtsstaat“, wenn der Wille zur Gerechtigkeit einem bloßen Machterhalt weicht.
Ein juristisch besonders interessanter Fall ist die Unterlassungslüge, also das bewusste Verschweigen entscheidender Informationen. Auch wenn sie keinen klassischen Tatbestand erfüllt, ist ihre Wirkung oft gravierender als eine offene Lüge – weil sie den Bürgern die Möglichkeit nimmt, informierte Entscheidungen zu treffen.
Warum wir betrogen werden wollen
Die Täuschung wäre nicht so effektiv, wenn Menschen nicht bereitwillig darauf hereinfielen. Der Psychologe Daniel Kahneman zeigte, dass Menschen systematisch kognitiven Verzerrungen erliegen – etwa dem Bestätigungsfehler (confirmation bias), der dazu führt, dass wir nur das glauben, was unsere Vorannahmen stützt.
Ein tiefes Bedürfnis nach Sicherheit führt dazu, dass wir Politikern eher glauben wollen, wenn sie uns eine einfache Lösung präsentieren. In der Migrationsfrage etwa klammern sich viele an Narrative der Kontrollierbarkeit – selbst wenn sie durch die Realität längst widerlegt werden.
Die Lüge als Fundament der Macht
Platon war der erste politische Denker, der die „edle Lüge“ (γενναῖον ψεῦδος - gennaion pseudos) rechtfertigte – eine Täuschung, die dem Staatswohl diene. Aber wann wird die edle Lüge zur Tyrannei? Nietzsche hingegen entlarvte die öffentlich postulierten Wahrheiten als eine bloße Funktion der Macht: „Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen.“ Wer die Erzählung (neudeutsch: das Narrativ) dominiert, beherrscht die Realität.
Doch kann eine Gesellschaft auf Lügen aufgebaut sein? Der Philosoph Karl Jaspers warnte vor einer „Vernebelung der Wahrheit“ als Vorstufe totalitärer Herrschaft. Wer nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden könne, sei leicht manipulierbar. Immanuel Kant betrachtete die Lüge sogar als ein absolutes moralisches Übel. In seiner Metaphysik der Sitten schreibt er:
„Die Lüge ist schlechterdings verwerflich und verunehrt den Menschen in seiner eigenen Person.“
Nach Kant ist Wahrheit keine bloße Option, sondern eine kategorische Pflicht, die unter keinen Umständen gebrochen werden darf. Selbst eine Notlüge, etwa um ein Menschenleben zu retten, wäre für ihn unmoralisch, weil sie das Fundament der Vertrauenswürdigkeit untergräbt. Wenn jeder lügen dürfte, wäre Sprache als Mittel der Verständigung zerstört.
Sein berühmtes Beispiel: Wenn ein Mörder an die Tür klopft und nach seinem Opfer fragt, wäre es nach Kant dennoch moralisch falsch zu lügen – denn dadurch könnte eine unvorhergesehene Kette von Ereignissen ausgelöst werden, die womöglich erst recht zum Tod des Opfers führt.
Diese radikale Position erscheint praxisfern. Doch Kant ging es nicht darum, in Extremsituationen moralische Dilemmata zu lösen, sondern darum, das Fundament des menschlichen Zusammenlebens zu sichern: Die Lüge zerstört das Vertrauen, auf dem jede Gesellschaft basiert.
Wahrhaftigkeit statt absoluter Wahrheit
Dennoch erkannte Kant ein Problem: Der Mensch ist nicht allwissend. Er kann oft gar nicht mit Sicherheit sagen, was die „reine Wahrheit“ ist. Daher fordert Kant weniger die absolute Wahrheit als vielmehr die Wahrhaftigkeit – das ehrliche Bemühen, das, was man für wahr hält, ohne Täuschung oder Manipulation zu kommunizieren.
In der Politik bedeutet das: Kein Politiker kann die Zukunft kennen, aber er kann versuchen, redlich zu argumentieren, anstatt absichtlich Illusionen zu erzeugen. Wahrhaftigkeit wäre das Gegenmodell zur heutigen Praxis, in der Politiker gezielt Halbwahrheiten und Euphemismen nutzen, um die Wähler zu steuern.
Die Wahrheit als Fundament der Gerechtigkeit
Die Bibel ist unmissverständlich: Die Lüge, das „falsche Zeugnis“ wird im sog. Dekalog im 8. Gebot (Ex 20, 16) apodiktisch verurteilt. Interessanterweise ist das 8. Gebot wie die meisten biblischen Gebote negativ als Verbot („Du sollst nicht...“) formuliert, da es dem Menschen der Verhaltensforschung des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet und seinem berühmten Libet-Experiment zufolge leichter zu fallen scheint, eine Handlung abzulehnen und zu vermeiden, als positiv formulierte Anordnungen zu befolgen. Der Mensch habe demnach zwar keinen „freien Willen“ zum Guten, aber quasi eine ethische „Veto-Freiheit“ des Neinsagens.
„Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein“, lässt dazu passend der Evangelist Matthäus seinen Herrn Jesus in der berühmten Bergpredigt fordern (Matthäus 5,37). Wahrheit ist in dieser Sichtweise nicht verhandelbar. Der nordafrikanische Kirchenvater Augustinus definierte die Lüge als vorsätzliche Täuschung – und ein Staatswesen, das darauf beruhe, führe sich selbst ad absurdum.
Im Johannesevangelium, dem sprachlich und gedanklich vielleicht „faszinierendsten“ Text des Neuen Testaments, wird die menschliche Existenz beschrieben als „Kampfzone“ zwischen Extremen. Die vier großen Gegensatzpaare des Johannesevangeliums verdeutlichen die fundamentale Entscheidung zwischen Gottes Wahrheit und der Täuschung der Welt. Licht und Finsternis (φῶς – σκοτία, phōs – skotia) stehen für göttliche Offenbarung versus Sünde und Unwissenheit. Geist und Fleisch (πνεῦμα – σάρξ, pneuma – sarx) kontrastieren himmlische Wiedergeburt mit vergänglicher, sündiger Natur. Leben und Tod (ζωή – θάνατος, zōē – thanatos) trennen das ewige Leben in Christus von der Gottesferne. Wahrheit und Lüge (ἀλήθεια – ψεῦδος, alētheia – pseudos) schließlich markieren den Gegensatz zwischen göttlicher Erkenntnis und bewusster Täuschung. Das Evangelium stellt diese Gegensätze nicht als gleichwertige Kräfte dar – Wahrheit, Licht, Geist und Leben haben das letzte Wort.
Diese Gegensatzpaare durchziehen das gesamte Johannesevangelium und verdeutlichen die grundsätzliche Entscheidung (κρίσις - krisis) zwischen Gottes Wahrheit und einer gefallenen Welt der Täuschung. Eine „Krise“ ist demzufolge also schon begrifflich immer ein Wendepunkt, der die Chance zum Neuanfang bietet.
Interessant ist die Unterscheidung zwischen schuldhafter und schuldloser Lüge: Die schuldhafte Lüge dient der Täuschung um eines eigenen Vorteils willen; die schuldlose Lüge könnte eine Notlüge sein, etwa um ein Leben zu retten. In der Politik gibt es jedoch kaum schuldlose Lügen, weil jede Manipulation langfristige Folgen hat. Politische Lügen sind der Versuch, die Realität zu manipulieren, doch am Ende zerstören sie das Vertrauen, das jede Gesellschaft zusammenhält.
Lüge in der fiktionalen Literatur: Orwell, Wilde und die Gegenwart
„Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke“ – mit diesen sprachlichen Paradoxien wird den bewusst unwissend gehaltenen Bürgern Ozeaniens in George Orwells 1984 eine Realität eingehämmert, die keine ist – eine Perfektion der Gehirnwäsche, in der Widersprüche zur Wahrheit umdeklariert werden. Sind wir nicht längst in einer sehr ähnlichen Gesellschaft angekommen, in der diese Form der zutiefst wahrheitswidrigen semantischen Umdeutungen, neudeutsch: Framing genannt, bedrückende politische Realität geworden sind? Derartige sprachliche Manipulationen („Fachkräftemigration“, „Sondervermögen“, „Klimaschutz-Subvention“) verfolgen das sophistisch anmutende Ziel, die Wahrheit zu verdrehen.
Aldous Huxleys Schöne neue Welt (Original-Titel: Brave New World) zeigt eine perfidere Strategie: Die Wahrheit wird nicht bekämpft, sondern durch ein Überangebot an Belanglosigkeiten und Vergnügungen wie der legal frei verfügbaren Droge Soma erstickt. Die Bürger werden nicht explizit unterdrückt, sondern betäubt. Es bestand seit Jahrzehnten unter Englischlehrern eine Kontroverse, ob nun 1984 oder Brave New World „die Zukunft“ realistischer abgebildet hätten. Die New York Times urteilte einst, Huxleys „Spaß-Dystopie“ sei die treffendere Zukunftsvision, weil sie die betäubende Wirkung grenzenloser Zerstreuung und Oberflächlichkeit erkannte, wobei diese vielleicht nur subtilere Formen der Lüge darstellen könnten.
Und doch beschädigt uns die Lüge unaufhaltsam, selbst wenn wir uns vorgaukeln, in der Wahrheit zu leben oder wahrhaftig zu handeln. Den unumkehrbaren moralischen Verfall eines Lebens in der Lüge skizzierte einst Oscar Wilde in seinem Roman The Picture of Dorian Gray: Der schöne, junge Dorian verkauft seine Seele im Gegenzug für ewige Jugend und überträgt seine Schuld und Verlogenheit auf das titelgebende Porträt, angefertigt von seinem Malerfreund Basil Hallward. Während Dorian äußerlich makellos bleibt, verkommt das Bild zu einem grausamen Spiegel seiner wahren Existenz – einer fratzenhaft verzerrten Verkörperung seiner moralischen Degeneration.
Von welcher Perspektive aus man sich dem Thema der Lüge auch nähert: Man wird keine auf Dauer tragfähigen, sturmfesten ethischen Legitimationen für sie finden können.
Lüge als Staatsprinzip?
Die inzwischen systematische, offenbar vollkommen skrupelbefreite Täuschung der Bürger dieses Landes stellt eine existentielle Bedrohung für die Demokratie und einen kaum für möglich gehaltenen Kulturbruch dar. Wahrhaftigkeit insbesondere von hochrangigen Amtsträgern eines demokratischen Rechtsstaates ist kein Luxusgut, sondern verfassungsmäßiger Auftrag und unser aller Lebensgrundlage. Ein politisches System, das permanent auf Lügen baut, steht dagegen auf Treibsand.
Für uns bleibt die Frage: Wann werden wir als Wähler vom Getäuschten zum Komplizen?
Der Autor ist Lehrer an einem niedersächsischen Gymnasium und schreibt hier unter einem Pseudonym.