Nico Hoppe, Gastautor / 14.06.2019 / 06:20 / Foto: Pixabay / 28 / Seite ausdrucken

Die konforme Rebellion der gefühlten Nonkonformisten

Von Nico Hoppe.

Kürzlich ließen Muslime den Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch auf Twitter trenden, um gegen ein Kopftuchverbot für Schulmädchen zu demonstrieren. Neben den gewohnt strengen Anmahnungen zum Schutz der Ehre der muslimischen Mädchen lasen sich einige Tweets wie Beichten der eigenen Paranoia: Aufgewärmt wurde die Legende von den Muslimen als unterdrückte Minderheit, die an allen Ecken mit vernichtender Kritik oder körperlicher Gewalt zu rechnen habe und sich nun gegen das in der Debatte um ein Kopftuchverbot gipfelnde Kreuzfeuer von Gesellschaft und Medien zur Wehr setze. Mit dauerempörtem Gesäusel über die Freiheit, die den Anhängern des Islam verwehrt werden würde, stilisierte man sich zur Opfergruppe, die sich gegen eine islamophobe und damit rassistische Mehrheitsgesellschaft zur Wehr setze.

Der Wahn, der in dieser grotesken Fehleinschätzung zum Ausdruck kommt und von einigen antirassistischen Weggefährten des Islam mit Vehemenz geteilt wird, ist seit Jahren bereits bekannt durch Aussprüche wie "Muslime sind die neuen Juden", die selbst im linksliberalen Milieu angesichts ihrer dreisten Relativierung nicht immer gut ankommen. Doch einig ist man sich spätestens darin, dass alle, die glauben, dass der Islam nicht zu Deutschland – oder besser: in keinen zivilisierten, westlichen Staat – gehöre (und dazu gehören partiell sicherlich auch die Menschen, die sich für ein Kopftuchverbot an Schulen einsetzen), fiese hinterwäldleriche Rechtspopulisten seien, die den Rest des Landes, also die anständige, bunte Bevölkerung vor sich hertriebe.

Ausgerechnet also in dem Land, in dem der islamistische Kampfbegriff der Islamophobie bei jeder Antidiskriminierungsstelle zum Lackmustest für „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ taugt, in dem man sich über islamischen Antisemitismus ausschweigt, in dem man Religionsfreiheit noch für die obskurste islamische Praxis fordert und von den vermeintlich progressiven und aufgeklärten Antirassisten Applaus dafür bekommt – in diesem Land sollen Muslime eine gesellschaftlich an den Rand gedrängte Gruppe ausmachen. Dass der Terminus "Islamkritik" immer noch als tendenziell rassistische Vokabel wahrgenommen wird, dass Ex-Muslime oft nur als skeptisch beäugte Exoten zu Wort kommen, dass der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 30. April die Vertreter des IGS – des Dachverbands der Schiiten in Deutschland – traf, denen eine große Nähe zum iranischen Regime nachgesagt wird – all das scheinen dann also Lappalien zu sein, irre Zufälle in einem ansonsten islamophoben Staat.

Wie kann es sein, dass diese Art der Opfermentalität nicht strikt zurückgewiesen wird, wenn offenkundig ist, dass sie ausschließlich der Fantasie islamischer Tugendwächter entspringen?

Die Sehnsucht nach der Opferrolle

Die Inszenierung als Opfer, das sich fortwährend einer unterdrückerischen, ignoranten Mehrheit ausgesetzt sieht, ist kein genuines Produkt dieser Debatte um das Kopftuchverbot. Viel eher bewährt sich die Dissonanz zwischen Eigenwahrnehmung und Realität sowie das daraus hervorgehende Selbstverständnis als nonkonforme Minderheit, als Ticket par excellence, um in Diskussionen überhaupt noch ausreichend Gehör zu finden.

So zeigt sich bei den seit mehreren Monaten omnipräsenten Fridays-for-Future Demonstrationen ein ähnliches Geschehen: Denn obwohl das Thema Klimaschutz aus dem politischen Mainstream nicht mehr wegzudenken ist und selbst die Bundeskanzlerin den Protest lobte, weil sie sehr unterstütze, "dass Schülerinnen und Schüler für den Klimaschutz auf die Straße gehen und dafür kämpfen", waren die Proteste andauernd von dem Ruf nach mehr Aufmerksamkeit begleitet, als wären die demonstrierenden Jugendlichen medial ignoriert worden. Das Gegenteil war der Fall: eine permante mediale Fokussierung auf die Proteste bei gleichzeitiger Abschottung gegenüber jeglicher Kritik.

Die Immunisierung gegenüber den zwar teils ebenso hörbaren Einwänden war ein Paradebeispiel dafür, wie Feindbilder am Reißbrett entworfen werden, die in dieser Verfasstheit wahrscheinlich gar nicht oder zumindest nicht im imaginierten Ausmaß existieren. Im Falle der Klimaproteste nahm diese Rolle der ominöse "Klimaleugner" ein. Dabei handelt es sich um einen verschwommenen Begriff, den man nicht nur für Leute adaptierte, die den menschengemachten Klimawandel für eine große Lüge halten, sondern auch für alle, die beim derzeit populären Ruf nach drastischen Einschränkungen des persönlichen Lebens zugunsten des Klimas nicht mit einstimmten.

Doch auch reichlich trübe Feindbilder können eine große Karriere machen. Anfang des Jahres gab der Grünen-Politiker Michael Cramer beispielsweise unfreiwillig Einblick in die dubiose Wahrnehmung grüner Prediger für radikalen Klimaschutz um jeden Preis: "Es gibt Leute, die leugnen den Klimawandel. Es gibt Leute, die leugnen den Holocaust. Es gibt Leute, die leugnen, dass Feinstaub und Feinstaubpartikel und C02 und Stickoxide gesundheitsschädlich sind, das gehört dazu."

Die Erbarmungslosigkeit, mit der alle als "Klimaleugner" markierten Personen in Diskussionen um zum Beispiel Fridays-for-Future ausgeschlossen wurden, zeugt davon, dass der Kommentar Cramers symbolisch für eine horrende Aversion gegen alle steht, die beim Gemeinschaftsprojekt "Klimaschutz" nicht fleißig mit anpacken. Solange man sich auf ein Feindbild einigen kann, das fernab jeder Empirie zum großen Buhmann aufgeblasen wird, erscheint die wohlig-warme Nestwärme der Eigengruppe gleich umso behaglicher. Besonders, wenn man sich als nonkorforme Minderheit zu inszenieren weiß, während in Wahrheit alle beim Spiel mitspielen und man selbst auf einem guten Weg ist, in Zukunft nicht nur die relevanten Themen zu setzen, sondern auch über ihre Lösungen zu bestimmen.

Das Selbstbild der Anständigen und Progressiven

Doch man würde ja nicht zu den neuen selbsternannten Revolutionären gehören, wenn man sich neben der drohenden Apokalypse in Form des Klimawandels nicht auch mutig einer gefährlichen gesellschaftlichen Dynamik entgegenstellen würde. Seit einigen Jahren ist der Terminus vom Rechtsruck aus keiner Talkshow und keiner Auswertung eines jeden Wahlausgangs mehr wegzudenken. Suggeriert wird das Bild einer seit Jahren stetig nach rechts driftenden Gesellschaft, der sich nur ein minoritäres Kollektiv aufrechter Anständiger entgegenstellen würde.

Allerdings scheint es viel plausibler, dass rechtskonservative Meinungen in den letzten Jahren schlicht genauso hörbar wurden wie ihre linken Pendants, anstatt quantitativ anzusteigen. Darüber hinaus lässt sich auch anhand vergangener Wahlen kein glaubhaftes Bild einer drohenden Neuauflage von 1933 zeichnen. Denn bei der Europawahl blieb der große Sieg der Nationalisten, wie er wochenlang prophezeit worden war, aus.

Stattdessen wurde eine übergreifende Polarisierung in der Parteienlandschaft deutlich, sichtbar daran, dass eine recht konstante Zahl der Wähler einer Partei ihre Stimme gab, die sich einen Rechtsruck herbeisehnt: nämlich die AfD. Währenddessen entschieden sich jedoch wesentlich mehr Menschen zugunsten einer Partei, die das genaue Gegenbild zur AfD darstellt und unter den Wählern der anderen Parteien, auch der geschwächten "Volksparteien", nicht wenige Sympathisanten haben dürfte. Dass währenddessen europaweit liberale Parteien insgesamt riesige Erfolge feierten, blieb in der deutschen Medienlandschaft dagegen weitgehend unerwähnt. Wenn das nun also der angekündigte, um sich greifende Rechtsruck sein soll, dann muss man einen sehr weiten Begriff von "rechts" haben. Wer jenes Maß jedoch anlegt, braucht sich nicht zu wundern, dass der Rechtsruck letztlich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Umso verschrobener wirkt das Selbstbild der Anständigen und Progressiven als sich dem autoritären Backlash nicht unterordnende, kleine Gemeinschaft, angesichts riesiger Massendemonstrationen wie bei der letztjährigen Unteilbar-Demonstration mit einer Viertel-Million Teilnehmern. Auch Hashtags wie #wirsindmehr künden nur davon, dass man sich das eigene Narrativ selbst nicht so recht glaubt, es aber dennoch genießt, einerseits mindestens unbewusst zu wissen, dass man den Ton angibt, während man sich andererseits kleiner macht, um die eigenen Erfolge als umso größer zu empfinden. Denn wer Aufmerksamkeit bekommen will, der gibt sich als wehrhaftes Opfer – als Rebell, der gegen den Mainstream und das Establishment kämpft.

Nichts ist heute öder, als mit dem Strom zu schwimmen. Dass Nonkonformismus und Konformismus jedoch kein spezifischer Inhalt abseits von der jeweiligen historischen Situation zugute kommen kann, wird selbstverständlich nicht beachtet, um zu dementieren, dass gerade der Nonkonformismus mit dem Zeitgeist so verschmolzen ist wie noch nie. Wer sich heute für besonders nonkonform hält, der hat sich meist bereits umso bedingungsloser dem Gang der Geschichte und dem kulturellen Mainstream angebiedert.

Mehr schlecht als recht kann sich der alte Nonkonformismus so kaschieren, dass er heute zum neuen Konformismus transformiert: War der Konformismus einmal Ausdruck eines konservativen, privatistischen, jede Auflehnung ablehnenden Lebensstils, so ist er heute Zeugnis eines neuen, veränderten Zeitgeistes: hin zur Betonung von kultureller Vielfalt, strikter Ablehnung von allem, was im Verdacht steht, "rechts" zu sein und zur Weltoffenheit für per se jedes Phänomen. Schon vor mehreren Jahrzehnten schrieb der Philosoph Max Horkheimer, dass radikal sein, heute konservativ sein heiße. Seine Sentenz erfüllt sich erst jetzt, wenn der angeblich nonkonforme Mainstream nun nur noch auf Pappkameraden eindrischt, und das in vollem Umfang.

 

Nico Hoppe ist freier Journalist und Autor und schrieb bisher u.a. für die NZZ, die Jungle World, den Standard.

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Johannes Schuster / 14.06.2019

Ein Antagonist als Schauspieler ist auch nur ein Inventar des Theaters. 68 ,nicht alle darunter, jedoch der Großteil waren auch nur die Protesturinierer aus bürgerlichem Hause, denen nicht mehr vorschwebte als die bürgerliche Revolution in Rot. Einen neuen Systementwurf macht übrigens auch Achgut nicht. Damit ist es keine alternative Meinung, sondern bloße Reaktion auf das Gegebene. Und selbst das kann man als gesellschaftliche Verarmung betrachten.

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