Die Konferenz von Évian 1938 und syrische Flüchtlinge

Das Verbrechen des Holocaust ist universal bekannt. Die Flüchtlingskonferenz von Évian von 1938, die große Auswirkungen auf das Schicksal der von den Deutschen verfolgten Juden hatte, ist hingegen weniger im kollektiven Gedächtnis verankert. Der Journalist Hans Habe, einer der jüdischen Konferenzteilnehmer, hat seine Erinnerungen 1965 im Roman „Die Mission“ verarbeitet. Dieser wurde nun von Andrea Hopp und Katja Gosdek in „Die Flüchtlingskonferenz von Évian 1938“ in einer Bildgeschichte neu herausgegeben. Maßgeblichen Anteil an der Auswahl der Passagen hatten syrische Flüchtlinge unter dem Eindruck ihrer persönlichen Fluchterfahrungen. Was ist das Ergebnis? Ein tolles Buch mit einem sperrigen Konzept.

Auf der Konferenz von Évian berieten insgesamt 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen den Umgang mit den steigenden Zahlen jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und dem gerade „angeschlossenen“ Österreich. Die Staaten West- und Nordeuropas, Kanada, die USA, die meisten Länder Mittel- und Südamerikas sowie Australien und Neuseeland hatten sich auf Initiative von US-Präsident Roosevelt im französischen Kurort Évian-les-Bains zusammengefunden. Polen und Rumänien hatten Beobachter entsandt. Deutschland, die Sowjetunion sowie mit Deutschland verbündete Staaten waren aus politischen Gründen nicht eingeladen. Man ließ jedoch Helmut Wohlthat, einen NS-Staatsbeamten unter Göring, als Vertreter Nazi-Deutschlands der Versammlung beisitzen.

Im Jahr 1938 war für 500.000 deutsche und österreichische Juden Auswanderung die einzige Alternative, um Repressalien zu entgehen. Doch statt Ordnung ins Chaos zu bringen, führte die Konferenz in eine Sackgasse. Die Länder fanden alle möglichen Gründe, warum sie eine Aufnahme jüdischer Flüchtlinge nicht oder nur begrenzt leisten können: Entweder sahen sie sich nicht als Einwanderungsland, fürchteten sich vor wirtschaftlichen Problemen oder politischen Schwierigkeiten mit Nazi-Deutschland oder hatten Sorge, die jüdischen Flüchtlinge würden ethnisch beziehungsweise religiös nicht in ihr Land passen. Selbst die Angst vor ansteigendem Antisemitismus in der eigenen Bevölkerung wurde als Ablehnungsargument angeführt. Auch die Vereinigten Staaten waren nicht bereit, ihre Jahresquote von 27.370 Einwanderern aus Deutschland und Österreich zu erhöhen. Die Gründung des Intergovernmental Committee on Refugees (ICR) war der einzige konkrete Konferenzbeschluss, der jedoch ebenfalls erfolglos blieb.

Für Flüchtlinge besonders geeigneter Zugang

Das Buch „Die Flüchtlingskonferenz von Évian 1938“ nähert sich dem Thema mit einer sehr ungewöhnlichen Methode: Die Autorinnen führten 2016 und 2017 ein Pilotprojekt namens „Jüdische Geschichte für Flüchtlinge“ mit 200 Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und anderen, vordergründig arabischen Ländern durch. Finanziert wurde das ganze vom Leo-Baeck-Institut in Deutschland. Zum Programm gehörte unter anderem eine Einführung in Geschichte, Bedeutung und Inhalt des Grundgesetzes sowie der Besuch von Ausstellungen zum Thema Antisemitismus. Auch die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin wurde besichtigt, die ebenfalls die Konferenz von Évian thematisierte. Letztere wurde teils in arabischer Sprache begleitet, ansonsten dienten die Veranstaltungen als Ergänzung zum Deutschunterricht. Schließlich widmete sich „ein Workshop mit bis zu 15 muslimischen Geflüchteten aus Syrien“ dieser Konferenz „mit Rückbezügen zum eigenen Flüchtlingsschicksal“. 

Zentrales Thema wurde der Roman „Die Mission“ von Hans Habe. Dieser hatte als damaliger Korrespondent des Prager Tagblatts die Konferenz von 1938 besucht. 1965 schrieb der österreichisch-ungarische Journalist, Roman- und Drehbuchautor jüdischer Herkunft besagten Roman auf Grundlage seiner Zeitungsberichte und Konferenzbeobachtungen. Die Handlung wird aus der Sicht von Heinrich von Brenda erzählt, welcher dem Konferenzteilnehmer Heinrich Neumann Ritter von Héthars nachempfunden ist. Neumann war ein angesehener Hals-Nasen-Ohrenarzt aus Wien. In seiner internationalen Praxis behandelte er sogar Könige. Im Zuge des „Anschlusses“ Österreichs wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft verhaftet. Nach seiner Freilassung war er Mitbegründer des „Komitees zur Regelung der jüdischen Auswanderung aus Österreich“. In dieser Eigenschaft reiste er als einer der Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (und damit der österreichischen Juden) zur Konferenz nach Évian. Noch im selben Jahr emigrierte er in die USA, wo er 1939 starb.

Hans Habe entwarf „Die Mission“ als sehr persönlichen Blick auf die Évianer Konferenz aus der Perspektive eines unmittelbar Betroffenen. Die Autorinnen Andrea Hopp und Katja Gosdek bemerkten während des Workshops, dass der Roman aus diesem Grund für Flüchtlinge einen besonders geeigneten Zugang zur jüdischen Geschichte bietet. Somit entstand die Idee, den Stoff in einer Bildergeschichte neu zu erzählen – und die zu übernehmenden Szenen maßgeblich von den Geflüchteten bestimmen zu lassen.

Gefahr der Pauschalisierung

So sperrig sich das Konzept liest, so ratlos lässt mich das Buch als Leserin zurück. Da wäre einerseits das überaus gelungene Ergebnis des Projektes: Eine sehr stimmige und dramaturgisch kluge Adaption des Stoffes von Andrea Hopp, die einen unmittelbaren Zugang zum Geschehen ermöglicht. Trotz der gestrafften Handlung bleibt die Erzählung nachvollziehbar, nicht zuletzt dank der hervorragenden Bebilderung von Katja Gosdek. Ihre zarten Zeichnungen ergänzen geschmackvoll das ernste Romangeschehen. Die Illustrationen behalten stets eine gewisse Unschärfe und wirken somit skizzenhaft, was gut zu den fragmentarischen Textauszügen passt und selbst verstörende Szenen treffend bebildert. Auch die beteiligten Flüchtlinge haben mit ihrer Szenenauswahl eine bemerkenswerte Arbeit geleistet. Das Angebot des Verlages, sich mittels des Buches jüdische Geschichte durch Literatur zu erschließen, ist also stimmig.

Andererseits wird nicht ganz klar, wozu eine Einbettung in den Flüchtlingskontext erfolgte. Warum erhalten arabische Geflüchtete überhaupt gleich nach ihrer Ankunft Antisemitismus-Prävention? Einfach so oder hat man hier schlechte Erfahrungen gesammelt? Wenn ja, warum wird das nicht gezielt thematisiert? War der Zugang zu jüdischer Geschichte für die rund 15 Geflüchteten durch ausgerechnet diesen Roman wirklich besonders lohnend? Oder hatten die Autorinnen da bereits ihr Buchprojekt vor Augen und haben das eine mit dem anderen verbunden, um eine Finanzierung zu erhalten? Ich meine das keineswegs zynisch. Nur geht es hierbei letztlich um die wichtige Frage, wie die begehrten Gelder des Kulturbetriebs vergeben werden. Und inwiefern es für Kreative und Geisteswissenschaftler ein Muss ist, ihre Arbeit in den Kontext von Migration und Diversität zu stellen, wenn sie gefördert werden wollen.

Die größte methodische Schwäche sehe ich im Konzept der „gemeinsam erzählten Geschichte für heute und morgen“, das scheinbar die Schicksale von syrischen Kriegsflüchtlingen mit denen verfolgter Juden im Dritten Reich gleichsetzt. Bereits in diesem Artikel beschrieb ich die Problematik, vom Holocaust bedrohte Juden pauschal mit anderen Minderheiten oder – wie in diesem Falle – Flüchtlingen zu vergleichen. Selbstverständlich gibt es zwischen einzelnen Fluchtbewegungen Parallelen, und natürlich verdienen dramatische Fluchterfahrungen Gehör. Aber auch wenn dies gewiss nicht beabsichtigt war: Eine allzu leichtfertige Gegenüberstellung birgt die Gefahr der Pauschalisierung und Relativierung des Holocausts. Und dies ist im Rahmen einer Aufarbeitung jüdischer Geschichte sehr problematisch.

„Die Flüchtlingskonferenz von Évian 1938“ von Andrea Hopp und Katja Gosdek, 2019, Hentrich und Hentrich: Leipzig, hier bestellbar.

Foto: @Katja Gosdek / Hentrich & Hentrich Verlag

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Leserpost

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Thomas Taterka / 20.06.2019

P.S. : Besonders hat mir an Ihrem Beitrag gefallen, daß Sie Wohlthat nicht unerwähnt gelassen haben, der eine der übelsten Seiten der NS - Mordbande repräsentiert : den Vermögenshändler. Bis heute gehören Leute mit diesem Sachverständnis zu den unscheinbarsten Mitschuldigen an schwersten Verbrechen und können dafür kaum zur Verantwortung gezogen werden.

Thomas Taterka / 20.06.2019

Die Rezension ist eine Disziplin, die Sie eindeutig beherrschen. Was Sie hier sehr beeindruckend unter Beweis stellen. - Nur, für wen ist dieses Buch gemacht? Für die ” üblichen Verdächtigen “, die nicht auseinander halten können, was definitiv nicht zusammengehört ? Im Einführungstext von Hentrich ist die Rede von ” diplomatischer Schwerfälligkeit “. Darauf muß man auch erstmal kommen ! - Ich denke, die Brücke zum unkorrumpierten Verständnis ist das Golda Meir - Zitat, das Harriet Wolff in ihrem taz - Beitrag liefert. Die Menschen sind 38 auf kaltblütige Weise im Stich gelassen worden - von Allen. Und das hat überhaupt NICHTS zu tun mit der Situation der Flüchtlinge heute . Die Flüchtlinge im heutigen Deutschland sind nicht Opfer deutscher Bestialität. Es ist absolut unverfroren, so etwas zu behaupten. Und Bücher, die Evian 38 und die Flüchtlingsproblematik heute zusammen - ZWINGEN wollen, trotz individueller Leistungen, ein respektloses Missverständnis. Evian 38 war für viele ein unausgesprochenes Todesurteil und der Anfang entsetzlicher, nichtmehrendender Angst.

Karl Eduard / 20.06.2019

“Auch die Vereinigten Staaten waren nicht bereit, ihre Jahresquote von 27.370 Einwanderern aus Deutschland und Österreich zu erhöhen.” Kann man gar nicht nachvollziehen, nicht? Weswegen die deutschen Medien in dieser Zeit ja auch höhnten, daß gerade die Staaten, die sich so lauthals um das Wohl der Juden in Deutschland sorgten, die andererseits gar nicht haben wollten. Viele Staaten hatten auch strenge Einwanderungsregelungen. Einwandernde hatten ein gewisses Kapital mitzubringen, weil sie nicht die Wohlfahrt belasten sollten und sollten möglichst einen Beruf ausüben, der in der Wirtschaft gebraucht wurde. Man wollte der heimischen Arbeitskraft keine Konkurrenz ins Land holen.

Detlef Fiedler / 20.06.2019

Hallo Frau Stockmann. Vielen Dank für ihren Artikel. Die von ihnen angeführte “gemeinsam erzählten Geschichte für heute und morgen” ist die Wurzel all dessen. Die Kanzlerin sah sich 2015 schon als künftige Königin von Europa, jedoch hatte sie sich damit übel verspekuliert. Die Länder hoben sie nicht aufs Schild, die Folge war Chaos und ein tiefer Riss, denn die EU-Staaten folgten ihrer Flüchtlingspolitik nicht. Jedenfalls nicht so, wie die Kanzlerin es sich wohl ausgemalt hatte. Als Ziel stand, neben der eigenen heiligenähnlichen Hervorhebung, dass die Welt nun endgültig erkennen sollte: Deutschland gehört zu den Guten. Wie hohl und bar jeglicher Realität dieses Vorgehen war und vor allen keinesfalls “vom Ende her gedacht”, hatte Karl Lagerfeld sehr treffend zum Ausdruck gebracht. Es ist an Unverfrorenheit, Unverschämtheit und Zynismus kaum zu überbieten, die damals verfolgten Juden mit den heutigen Flüchtlingen irgendwie gleichzusetzen. Was sollte aber damit unterschwellig erzählt werden? Damals waren die Nazis gegen die Juden, also ist heute derjenige auch ein Nazi, der gegen die Flüchtlingspolitik ist. Denn die Prophezeiung muss sich erfüllen, koste es was es wolle und um jeden Preis. Genauso wie noch bis zum November 1989 als unverrückbares Naturgesetz feststand, dass der Sozialismus siegen wird und wie noch im März 1945 der Russe durch eine “gigantische Zangenbewegung” der deutschen Streitkräfte pulverisiert werden sollte. Es wird bis zum bitteren Ende weitergehen. Siehe aktuell die politische Debatte um rechts und ganz aktuell die Vorgänge um Hamed Abdel-Samad. Kauft Seife Leute, denn es kommen lausige Zeiten.

Rudolf George / 20.06.2019

Die Vergleiche zwischen Flüchtlingen der 30er Jahre und heutigen Migrationsbewegungen sind leider meist viel zu oberflächlich und pauschal. Stichwort: „Muslime sind die neuen Juden“. Gewiss gibt es im nahen Osten Gruppen, die als Minderheiten verfolgt, ausgegrenzt und mit dem Tode bedroht werden, und sich deshalb zur Flucht entscheiden: Kurden, Alleviten, Christen. Was bei der Betrachtung in unseren Medien aber stets ausser Acht gelassen wird, ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage, wer die Verfolger sind und welche Ideologien dabei vorherrschen, denn dies würde zu viele eingeübte Denkschablonen in Frage stellen.

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