Rainer Grell / 02.04.2019 / 15:00 / Foto: Jwslubbock / 11 / Seite ausdrucken

Die Komiker-Nation

Gut, die Briten sind für ihren Hang zur Exzentrik bekannt. Nehmen wir gegenwärtig nur den vierfachen Vater Boris Johnson oder den „überkandidelten“ (Zeit Online) Jacob Rees-Mogg, Vater von fünf Söhnen und einer Tochter. Als Angehörige der upper class haben beide selbstverständlich das Elite-Internat Eton College (£12,354 pro Tertial = 14.347 €) besucht und in Oxford studiert: Klassische Altertumswissenschaft (Classical and Ancient Studies) der eine, Geschichte (History) der andere.

J R-M trat den Tories bereits bei, als er noch in kurzen Hosen rumlief (joined the party when in short trousers – Independent), „Ein lebendes Fossil“ gewissermaßen (nochmal Zeit Online). Und bei Boris Johnson wundert es einen natürlich nicht, dass der letzte Innenminister des Osmanischen Reiches sein türkischer Urgroßvater Ali Kemal war, der in dieser Funktion die Verhaftung Kemal Atatürks (des Vaters der modernen Türkei) veranlasste. Dies wiederum zwang seinen Sohn Osman Ali, den Großvater von Boris, zur Flucht nach London, wo er den Namen Wilfred Johnson annahm (hier nachzulesen).

Während unsere Bundeskanzlerin die Sorge umtreibt, Deutschland könne zur „Komiker-Nation“ werden, ist den Briten dieser naheliegende Gedanke offenbar noch nie gekommen – oder aber vollkommen gleichgültig. Man hat sogar den Eindruck, dass Johnson, der übrigens in der Neuen Welt geboren wurde (in der exklusiven Upper East Side von New York City) nichts unversucht lässt, seiner Bezeichnung als „buffoon“ (laut BBC in „The Boris Johnson story“) unbedingt gerecht zu werden. Dazu gehört schon was.

Ich weiß nicht, ob Boris und Jacob sich Walter Rothschild aus der berühmten Rothschild-Dynastie zum Vorbild genommen haben, der nicht nur als Bankier im Familienunternehmen arbeitete, sondern auch ein bekannter Zoologe war. Er baute eine der größten naturhistorischen Sammlungen der Welt auf, deren ornithologischen Teil er später an das American Museum of Natural History verkaufte, ritt gelegentlich im Tring Park auf einer Riesenschildkröte und schaffte es als bisher einziger Mensch, Zebras als Zugtiere abzurichten und mit einem Vierergespann durch London zu kutschieren. Überflüssig zu erwähnen, dass er mehrere Hunde besaß, mit denen gemeinsam er seine Mahlzeiten eingenommen haben soll. Wer mehr wissen möchte, nehme das Buch von Derek Wilson „Die Rothschild Dynastie“ zur Hand (Paul Zsolnay, 3. Aufl. 1990). Für Weinliebhaber ohnehin ein Muss.

„Schaut auf diese Frau“

Also, wie gesagt, an Exzentrikern herrschte und herrscht im Vereinigten Königreich wahrlich kein Mangel. Doch jetzt schickt sich die britische Premierministerin Theresa May (“Brexit means Brexit“) an, dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Laut Pressemeldungen möchte sie ihren dreimal im Unterhaus gescheiterten Brexit-Deal zum vierten (und vermutlich nicht zum letzten) Mal zur Abstimmung stellen. Das dürfte Mr. Speaker, John Bercow, den wegen seiner geringen Körpergröße verhinderten Tennisprofi, den die Premierministerin und Parteifreundin um vier Zentimeter überragt, erst einmal die Sprache verschlagen haben.

Dabei wüsste ich zu gerne, wie Bercow auf den enthusiastischen Kommentar der Welt-Journalistin Andrea Seibel reagiert hat, die am 14. Dezember 2018 das Andenken des Berliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter verniedlichte, indem sie schrieb: „Völker der Welt, schaut auf diese Frau!“ Und warum? „Politikerinnen wie sie verdienen nicht nur Respekt, sie verdienen Bewunderung.“ Und wofür? „Ihre Contenance, ihre Redlichkeit und Unermüdlichkeit sind angesichts der Eruptionen im Parlament und der Rankünen ihrer konservativen männlichen [aha!] Gegner so ungeheuer wie lehrreich.“ Fazit: „Wie auch immer unsere Demokratien durch die nächsten Jahre kommen: Dass es Figuren wie May auf der politischen Bühne gibt, lässt hoffen.“

Selten ist ein Versagen so glorifiziert worden – vergleichbar allenfalls mit dem der Pfarrers­tochter aus der Uckermark, die ebenfalls an ihrem Sessel klebt, als ob sie nicht nur an den Händen „superglue“ benutzt hätte.

Das haben die Briten, die ich nicht nur wegen ihres common sense, ihres Demokratieverständnisses, ihres Sinns für Tradition und ihres speziellen Humors bewundert habe (und dies immer noch tue), sondern auch und vor allem wegen Shakespeare, Orwell, Huxley (Aldous) und Churchill (sowie etlichen anderen) nun wirklich nicht verdient. Oder doch?  

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Leserpost

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J. Polczer / 02.04.2019

Ich fürchte, da muss ich sagen, dass ich sie zumindestens wegen ihrer Beharrlichkeit und der Tatsache, dass sie nach dem Brexit-Referendum ihre Stelle angetreten hat, respektiere. Cameron “machte ja freiwillig die Mücke” und May hat sich das freiwillig aufgeladen. So unterschiedlich können halt die Sichtweisen sein, gell? Und ja, doch. Genau das haben die Briten verdient, denn es gibt unterschiedliche Meinungen im Unterhaus und die werden anders als in unserem beinahe “gleichgeschalteten” Bundestag tatsächlich diskutiert. Keine Partei willl bis jetzt nachgeben. Aber das wird schon. Irgendwann muss eine von beiden klein bei geben. Dieser Artikel lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: “Wer den Schaden hat, brauch (zumindestens) für den Spott nicht zu sorgen.” (Zumindestens, wenn frau Theresa May heißt.)

Ortwin Maffay / 02.04.2019

Hallo Herr Marhoff, die brutalste europäische Kolonialmacht war zweifellos Belgien.  Und deren Hauptstadt ist nun auch die Hauptstadt der EU ;)

Dirk Jäckel / 02.04.2019

@M. J. Marhoff Wie es mit den Briten weitergeht, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich ziemlich sicher: Deutschland wird in 20 Jahren ein zweit-, wenn nicht drittklassiges Land sein, mit einer Ausnahme: In unserer Arroganz werden wir weiterhin Spitzenplätze belegen.

Robert Bauer / 02.04.2019

Komiker in der Politik haben anscheinend derzeit Hochsaison, nicht nur in Kiew oder London. Allein die Bundesgrünen in Berlin könnten sämtliche Regierungen der Welt entsprechend ausrüsten, von den Provinzkomikern wie Stegner, Dreyer, Söder und und und…. ganz zu schweigen.

Marcel Seiler / 02.04.2019

Es sind nicht einzelne Personen. Wir haben eine Krise der politischen Klasse in den Ländern des Westens. Die Pfade einer politischen Karriere scheinen so ausgestaltet zu sein, dass nur diejenigen diese Pfade mit Erfolg zu Ende gehen, die vor Mittelmäßigkeit strotzen und unfähig sind, eine Nation zu führen oder die öffentlichen Angelegenheiten zufriedenstellend zu organisieren. Die Frauen Merkel und May sind so unfähig wie der Rest ihrer Klasse.

Martin Johannes Marhoff / 02.04.2019

Was ist an der brutalsten und grausamsten “EXkolonialmacht” bewundernswert? Hoffentlich werden wir die endlich für immer los!

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