Von Roger Schelske.
Moden kommen und gehen, das ist auch in den Sozialwissenschaften so. Der Wettbewerb bringt es mit sich, dass immer wieder neue Konzepte und Begriffe auf den Markt gebracht werden, die gut klingen aber oft keinen Mehrwert besitzen. Deshalb war ich von Beginn an skeptisch gegenüber dem Begriffspaar Kosmopolititismus und Kommunitarismus, das neuerdings dafür herhalten soll, all die verstörenden Entwicklungen zu erklären, die uns seit einigen Jahren heimsuchen: gesellschaftliche Polarisierung, abnehmende Integrationskraft der Volksparteien, Aufstieg von Populisten, Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen und dergleichen mehr.
Kosmopoliten sind demnach diejenigen, die der Globalisierung und allen Entwicklungen, die damit einhergehen, positiv gegenüberstehen. Selbstverständlich sorgen sie sich auch um den Klimawandel und scheuen keine Opfer, wenn es um das Wohl „des Planeten“ geht. Auf der anderen Seite stehen die sogenannten Kommunitarier, die sich abschotten und am Gewohnten festhalten. Die einen sind gut ausgebildete Invidiualisten und bereit, die Chancen der Globalisierung zu nutzen, die anderen verfügen über geringes Humankapital, können nicht mithalten und fürchten sich deshalb vor dem Fremden und Unbekannten. Rechtspopulismus ist das Symptom eines Abwehrreflexes der Kommunitarier, resultierend aus mangelnder Einsicht in die Unvermeidlichkeit der immer weiteren Entgrenzung und die damit verbundenen Bereicherungen.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass sich diese Geschichte aufgrund ihrer offensichtlichen Unterkomplexität von selbst erledigen würde und man sie einfach ignorieren könnte. Wie sich aber zeigte, fand der Ansatz nicht nur Verbreitung, sondern er wurde sogar noch weiter vulgarisiert. Den Reiz simpler Erklärungen hatte ich ganz offensichtlich unterschätzt. In einem Meinungsbeitrag in der NZZ beschrieb ein Gastautor, der sich als „Kulturwissenschaftler“ bezeichnet, die sogenannten Kommunitarier als abgehängte Globalisierungsverlierer, die sich aus mangelndem Selbstwertgefühl an kollektive Identitäten klammern. Auf der anderen Seite steht seiner Ansicht nach die kosmopolitische, mobile, gebildete Elite, die alles hat, was man sich nur wünschen kann. Getrübt wird ihr Glück nur durch die Missgunst und die Rückständigkeit der Provinzler, die hoffnungslos in einer nationalstaatlichen Vorstellungswelt stecken geblieben sind.
Ein derart grobschlächtiges Zerrbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit hat mit halbwegs ernstzunehmender Forschung nichts mehr zu tun, sondern kann eigentlich nur in einem veganen Café im Prenzlauer Berg entstanden sein. Endgültig voll war das Maß, als ich erfuhr, dass sich auch die GRÜNEN in ihrem neuen Grundsatzprogramm an einer ähnlichen begrifflichen Gegenüberstellung orientieren, nämlich der zwischen Globalisten und Kommunitariern. Die Grünen sehen sich dabei selbstverständlich in der Rolle der Weltbürger, die der entgrenzten, „diversen“, individualisierten Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen wollen. Denn: Bei den Grünen tummeln sich die Gewinner der Globalisierung, hieß es in dem Spiegel online-Beitrag dazu.
Nichts ist provinzieller als das grüne Millieu
Wie bitte? Da muss ja nun doch einmal etwas richtig gestellt werden: Die Grünen, wie ich sie kenne, sind alles andere als kosmopolitisch. Nachdem ich seit Jahren Gast auf grünen Parteitagen bin, kann ich das mit einiger Gewissheit sagen. Wenn man es genau nimmt, gibt es nichts Provinzielleres, sozial Homogeneres und in gewissem Sinne Deutscheres als das grüne Milieu. Wer einem Einwanderer klar machen möchte, was typisch deutsch ist, sollte ihn nicht in ein Bierzelt bringen oder auf einen Weihnachtsmarkt, sondern auf einen grünen Parteitag. Die Geschichte von den grünen Kosmopoliten ist deshalb barer Unsinn.
Sie scheitert ja eigentlich schon an offensichtlichsten Beobachtungsdaten. Bekanntlich sind die Wähler der AfD keineswegs durch die Bank Präkariatsangehörige und auf der anderen Seite sehen die kulturschaffenden Postmaterialisten im Prenzlauer Berg auch nicht alle wie große Gewinner aus. Völlig grotesk wird es, wenn man bedenkt, dass die angeblichen Globalisierungsgewinner mehrheitlich ihr Einkommen und ihren gesicherten Beschäftigungsstatus dem Staat – sprich: dem Nationalstaat – verdanken. All die Lehrer, Sonstwas-Beauftragten und ÖR-Redakteure, die zur treuesten Klientel der Grünen gehören, gerieren sich als Globalisten nicht etwa deshalb, weil sie von der Entgrenzung profitieren, sondern weil sie dank Verbeamtung, Pensionsgarantie und einer dicken Erbschaft produktiverer Vorfahren von ihren Folgen verschont bleiben.
Mit der neuen, entgrenzten Vielfalt verbinden sie Erasmussemester, peruanische Küche und Bildungsreisen, nicht aber Jobverlust, Kriminalität und Problemschulen, weil sie mit solchen Dingen nicht in Kontakt kommen. Der Gipfel der Anmaßung ist erreicht, wenn sich irgendwelche Kulturwissenschaftler auf A14-Stellen oder grüne Erben als individualistische, kosmopolitische Performer verkaufen und denjenigen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können und deren Jobs auf dem Altar der Klimareligion geopfert wurden, Rückständigkeit und Provinzialität vorhalten.
Kosmopolitismus ist in Tat und Wahrheit ein völliger Nonsens-Begriff. So etwas wie Kosmopoliten gibt es nicht oder nur in ganz wenigen Ausnahmefällen. Was es gibt, sind unterschiedlichste Formen von transnationalem Austausch, und zwar schon immer, als Folge von Handel, Migration, Eroberung oder aristokratischer Heiratsdiplomatie. Transnationalismus ist aber etwas anderes als Kosmopolitismus und es ist weder ein Gegenbild, noch eine Alternative zu Gemeinschaftlichkeit, die nun als „Kommunitarismus“ denunziert und für obsolet erklärt wird. Gemeinschaftlichkeit ist eine universelle, urmenschliche Anlage und evolutionär deutlich älter als der Individualismus. Wer das nicht glaubt, kann bei Hirnforschern und Evolutionsbiologen nachschlagen – oder die eingebildeten Kosmopoliten und Individualisten bei den Grünen einfach etwas genauer betrachten.
Wie die Fische in ihrem Aquarium
Denn: Auch Grüne sind Menschen und als solche sehnen sie sich nach Gemeinschaft, Bestätigung und Gewissheit. So ist das eben. Mag sein, dass sie sich selbst für individualistische, aufgeschlossene Kosmopoliten halten. Tatsächlich kommunizieren sie aber hauptsächlich mit Leuten, die so sind wie sie selbst und sie fühlen sich dort am wohlsten, wo sie Bestätigung finden, nämlich unter ihresgleichen. Um die Konsumgewohnheiten, Einstellungen und Lebenswelten dieser Individualisten sind bekanntlich längst ganze Industriezweige entstanden. Auch ihr eingebildeter Kosmopolitismus ist letztlich Teil eines gemeinschaftsstiftenden Symbolsystems, in dem sie sich bewegen wie die Fische in ihrem Aquarium, das sie für den Ozean halten. Wenn dann noch ein Kultur- oder Politikwissenschaftler kommt und ihnen erzählt, dass sie die neue globalisierte Elite repräsentieren, dann ist das grüne Glück perfekt. Man hat sozusagen beides, die Bestätigung in der Gemeinschaft und die Vorstellung, ein individualistischer Kosmopolit zu sein. Kein Wunder, dass den GRÜNEN die Geschichte runtergeht wie Öl.
Wenn von Bildungselite und Kosmopoliten die Rede ist, dann darf sich auch die güne Lena mit ihrem Germanistik-BA und ihrem Auslandssemester in Salamanca angesprochen fühlen. Schließlich spricht sie Spanisch und dank Pedro, mit dem sie ein Techtelmechtel hatte, kann sie sogar ganz toll Argot. Der Nationalstaat ist für Lena Geschichte und Patriotismus findet sie „zum Kotzen“, ganz wie der Küchenphilosoph an der Spitze ihrer Partei. Seit ihrem Sozialdienst in Namibia und der anschließenden Rucksacktour hat sie verstanden, wie engstirnig die Deutschen und wie offen die Menschen in Afrika doch sind. Solche Lenas sind typisch für das grün-urbane Milieu. Inzwischen gibt es so viele davon, dass sie in manchen Ecken Asiens und Afrikas zur Landplage geworden sind. Man liest, dass Waisenhäuser extra eingerichtet werden, um den westlichen Kosmopoliten mit dem Drang zu Selbstverwirklichung und Menschheitsbeglückung eine Beschäftigung zu verschaffen. Mit grüner Sinnstiftung lässt sich gutes Geld verdienen.
Das Geschäft mit den Massen an grünen Invidualisten haben auch andere für sich entdeckt. Ein gewisser Claas Relotius gelangte kurzzeitig zu Ruhm, indem er mit der Geste des Aufklärers das Weltgeschehen so erzählte, dass die grünen Lenas ihr Weltbild bestätigt finden und sich gleichzeitig als kritische Geister fühlen konnten. Hohe Kunst war das und allemal preiswürdig. Mich hat das Ganze an den Film Fight Club erinnert, in dem die Protagonisten eine exklusive Seife verkaufen, hergestellt aus dem abgesaugen Wohlstandsfett ihrer Kundinnen, das sie sich aus dem Müll einer Beauty-Klinik besorgen. Wenn man so will, hat Relotius dasselbe gemacht, indem er seinen Lesern ihre eigenen Klischees und Vorurteile als moralisierende Rührstücke untergejubelt hat. Der Mann war gut, aber irgendwann ist er aufgeflogen und mit ihm die Beschränktheit und Dünkelhaftigkeit seiner Leserschaft.
Nirgendwo ist die Relotius-Affäre gnadenloser seziert worden als in einem Beitrag des Atlantic. Die Spiegel-Leser, die sich in den billigsten Stereotypen von amerikanischen Hinterwäldlern gesuhlt und sich dabei vermutlich für wahnsinnig schlau und aufgeklärt gehalten haben, bekommen darin ihr Fett nach allen Regeln der Kunst weg: „Relotius, I submit, was able to get away with his con for so long because he confirmed the preconceived notions of people who fashion themselves worldly yet are as parochial as the red-state hicks of their imagination.“ Schöner kann man es nicht formulieren. Am Ende gönnt sich der Autor noch eine Retourkutsche: „The wildly popular work of Relotius reads exactly like what you would expect a snotty, effete, self-righteous, morally superior, latte-sipping European to say about America. Pardon the stereotype.“ Man sieht, das grüne Aquarium hat auch etwas Gutes: Man kann genussvoll hineinspucken.
Roger Schelske ist Politikwissenschaftler