Eine persönliche Geschichte einer jungen Familie.
Das Jugendamt bat mich, den Fall zu übernehmen. Sie war damals sieben Monate alt; die Mutter, eine Ukrainerin (21), und der Vater aus Turkmenistan (33), waren vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet. Eigentlich waren Mutter und Vater getrennt aus der Ukraine geflüchtet (Februar 2023) und hatten sich in einer Sammelunterkunft kennengelernt und ineinander verliebt. Das Produkt ihrer Liebe war Alina. Geburtsort: Aschaffenburg.
Die Schwierigkeiten begannen sofort. Sie, eine Ukrainerin, geliebt und bevorzugt von den deutschen Behörden, und er, ein Usbeke, der eigentlich nicht vor dem Krieg in der Ukraine flüchten musste, da er nicht zum Militärdienst einberufen werden konnte (war die Logik dahinter). Und wenn er schon flüchten wollte, dann bitte nach Turkmenistan und nicht nach Deutschland.
Hier heißt man alle willkommen: Syrer, Afghanen, Afrikaner, einfach alle – aber nicht Turkmenen, die über die Ukraine kommen, weil sie dort ihren Lebensmittelpunkt haben. Fakt ist jedoch, dass der Turkmene dort zuhause war. Die Behörden in Deutschland sorgten dafür, dass die Mutter von Alina sofort Unterhaltsgeld bekam. Das mit dem Kindergeld würde noch dauern, sagte man. Mit dem Geld konnte das Paar mit der kleinen Alina* unmöglich existieren. Zum Glück halfen viele Turkmenen der Familie mit Geld. Nicht geschenkt, nur geliehen.
Die Mietwohnung, die sie bewohnten, war mit dem Geld, das die Frau bekam, nicht zu bezahlen. Bei der Wohnungsnot kostete die Miete 290 Euro über dem, was sie als Miethilfe bekamen.
Arbeitsscheu war er nicht
Während wir für den Vater ständig zum Amt marschierten, damit er endlich irgendeinen Betrag bekommt, hieß es: „Keine Angst, auch wenn es lange dauert, Sie werden das Geld rückwirkend bekommen. Ihnen läuft nichts weg!“ Gut gesagt, aber die Schulden der Familie wurden immer größer. Ein Glücksfall war, dass Ali* immer wieder aus seinem Umfeld etwas leihen konnte.
„Warum gehen Sie nicht nach Turkmenistan, es ist doch ein sicheres Land, wo Ihnen nichts passieren kann?“ Was für eine Sichtweise der Dinge. Obwohl das Kindeswohl in Deutschland an erster Stelle steht, wollte man die Familie trennen. Der Frau ging es nervlich nicht gut. Die Flucht aus der Ukraine hatte der jungen Mutter stark zugesetzt, sodass sie ständig unter Medikamenten stand. Um das Töchterchen konnte sie sich nicht kümmern. Die gesamte Last lag beim Vater, der beide Rollen voll ausfüllte. Er hatte klare Vorstellungen. Arbeitsscheu war er nicht. Auch war er ein gebildeter Mann.
In der Türkei, wo er vor seiner Flucht in die Ukraine lebte (ca. 5 Jahre), hatte er Jura studiert und wurde Rechtsanwalt. Er hatte auch seine eigene Kanzlei, in der er hauptsächlich Landsleute beriet, aber nicht vor Gericht vertreten konnte. Einem Ausländer zu erlauben, als Rechtsanwalt in der Türkei zu arbeiten… Wo käme man hin!
In der Türkei zu bleiben, war nicht möglich
Das Problem war, dass die Türkei nicht besonders ausländerfreundlich ist. Gastfreundlich, ja, aber Fremde, die sich in das System integrieren wollen, sind nicht gern gesehen. So wurde er Immobilienmakler, aber leider – das klingt jetzt hart – war er auf einmal sehr erfolgreich. Das kann man in der Türkei nicht dulden. Es fehlte noch, dass Ausländer es sich gutgehen lassen, während die Türken mehrheitlich unter Armut leiden. Aber auch diejenigen, denen es gut ging, stellten sich die Frage: Warum muss er in der Türkei aktiv sein und uns etwas vom Brot wegnehmen?
Man schwärzte ihn bei der Botschaft seines Heimatlandes an, indem man behauptete, er würde Turkmenistan in der Türkei schlechtreden. Er bekam nicht nur von den türkischen Behörden Ärger, jetzt kamen auch die Geheimdienste seines Heimatlandes dazu. In der Türkei zu bleiben, war nicht möglich, und in die Heimat zurückzukehren war ebenfalls keine Alternative.
Als die deutsche Asylbehörde behauptete, Turkmenistan sei ein sicheres Land, antwortete ich: „Die Türkei ist ein noch sichereres Land, aber für wen? Ich zum Beispiel habe den großen Meister bzw. seine Wirtschaftspolitik kritisiert und kann das Land nicht mehr bereisen. So sicher ist auch Turkmenistan. Kehrt er zurück, landet er im Gefängnis.“
„Wir finden die Formulare und Unterlagen nicht mehr!“
„Dann soll er in Deutschland Asyl beantragen!“ Stimmt, das wäre eine Möglichkeit, aber da gab es einen Haken … Die Kindesmutter war pflegebedürftig, die kleine Alina* auch. Sie hatte mit Allergien zu kämpfen und bekam in bestimmten Abständen Spezialnahrung. Würde er Asyl beantragen, würde er in eine Sammelunterkunft irgendwohin geschickt werden – allein!
Ich fand die Lösung darin, für ihn eine Duldung zu beantragen, zumal dies die sicherste Form des Zusammenbleibens der Familie war. Vater und Töchterchen waren ein unzertrennliches Paar – gesundheits- bzw. krankheitsbedingt. So stand auch auf seinem Duldungsausweis: „Wegen der ukrainischen Tochter und Lebensgefährtin wird ihm ein Aufenthalt in Deutschland gestattet.“ Das war aber erst vor drei Wochen, und Geld hatte er immer noch nicht.
Ich fragte an. „Wir finden die Formulare und Unterlagen nicht mehr!“, hieß es bei der zuständigen Behörde (und dafür war ich drei Tage mit befasst). Dabei hatte ich diese, über 40 Seiten, eigenhändig abgeliefert. Alles von vorne und nochmals die Aussage: „Ihnen entgeht nichts, das Geld bekommen Sie rückwirkend!“ Der Gute musste weiterhin Geldgeber finden und sich Beträge zum Überleben leihen.
Der nächste Schock
Dann bekamen sie wider Erwarten – sie warteten sieben Monate darauf – einen Termin bei der ukrainischen Botschaft (Konsular Abteilung), um einen Personalausweis für die kleine Alina* ausstellen zu lassen. Das Problem: Sie mussten dafür nach Berlin. Dort lief alles glatt.
Zurück aus Berlin, der nächste Schock!
Der Vermieter tat so, als hätte man sich missverstanden, und stellte das Hab und Gut der Familie vor die Tür. „Ich dachte, ihr kommt nicht mehr wieder!“ Was sollte jetzt mit der Familie passieren? Kein Geld und keine Unterkunft. Trotz Sonntag, wo ich ein Foto von mir mit Strohhut im Facebook teilte, als ob ich in Urlaub wäre, musste ich hin. Lange Rede, kurzer Sinn. Der Vermieter sagte, dass die Familie Mietrückstand hätte, und nicht zu wenig. Es half nichts. Auf meine Frage zum Vermieter hin: „Was soll jetzt mit der Familie passieren?“ kam er mit einem Vorschlag, womit niemand rechnen konnte. Vielleicht weil er Türke war, denn die Reaktion ist typisch türkisch, wenn es darum geht, Bedürftigen in letzter Not zu helfen. „Ich streiche deren Schulden und gebe noch 1.200 EUR in bar, damit denen geholfen ist.“
Der Vater sagte: „Abi (so nennt man im Türkischen den großen Bruder), wir fahren zurück in die Ukraine!“ Von nun auf jetzt? „Besser so, denn ich habe schon in der Phase der ewigen Warterei auf Hilfe diesen Gedanken gehabt und das ist der Anlass dazu!“
„Danke Abi!“
Als der Vater etwas aus der Tasche holen wollte, nahm ich Alina* auf den Arm, und mir wurde ganz anders. So wie Abschiedsszenen halt sind, wenn man sich von liebgewonnenen Menschen trennt. Wie würde jetzt ihre Zukunft aussehen? Eine Ukrainerin, in Aschaffenburg geboren, kehrte in die Ukraine zurück. Vor einer Woche wurde sie ein Jahr alt.
Wegen der Kosten wollte die Familie per Bus in die Ukraine. Das hätte aber 45 Stunden Fahrt bedeutet und das über 2,5 Tage. Ich fand noch eine Zugverbindung, die sie bis zu ukrainischer Grenze brachte und bezahlbar war. Auf Türkisch sagte er: „Abi, vielen Dank für alles, Du warst unser Halt in Deutschland.“ Zum Glück hatte ich meine Sonnenbrille auf. Gegen schöne Worte, die ins Herz gehen, bin ich nämlich nicht gewappnet. Schnell geht mal eine Träne auf Reisen.
Besser wurde es nicht, als ich Alina* ein letztes Mal in den Arm nahm und an ihrem Babyshampoo roch. „Nochmals danke für alles Abi!“, dann kam es noch besser für mich, denn sie, die ich sie noch nie etwas sagen hörte in der ganzen Zeit, hatte wohl „Abi“ aufgeschnappt und sagte: „Danke, Abi!“ Das war des Guten zu viel. Auf gute Zeiten, liebe Familie, passt auf „meine“ Alina* auf!
(*) Namen geändert
Ahmet Refii Dener, Türkei-Kenner, Unternehmensberater, Jugend-Coach aus Unterfranken, der gegen betreutes Denken ist und deshalb bei Achgut.com schreibt. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite und bei Instagram.