Ich stimme den Ausführungen weitgehend zu, insbesondere der Notwendigkeit der Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln. Den Grundton des Interviews finde ich aber zu einseitig und zu negativ. Es gibt in den Kirchen nicht nur die EKD-Protestanten und die Linkskatholiken, die offen oder latent antiisraelisch sind. Es gab in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von christlichen Bewegungen, die gerade das getan haben, was der Autor fordert: Das Judentum als Ursprung wiederzuentdecken. Es werden jüdische Theologen gelesen und Midrashim in der religiösen Erziehung der Kinder verwendet. Und das alles nicht von irgendwelchen Relativierern oder MultiKulti-Schwärmern, sondern von ziemlich gläubigen Christen. Als Beispiel für eine sehr erfolgreiche Initiative sei hier das Zentrum “Domus Galilaeae” am Tiberiassee genannt. Die Versöhnungsschritte der Kirchenverantwortlichen, auch die von Papst Benedikt, kommen mir auch zu schlecht weg, wenn man bedenkt, wie religiös spannungsgeladen die letzten Jahrzehnte gewesen sind. Was kam denn von anderen Religionsführer? Also, meiner Meinung nach hat Herr Gottschlich weitaus mehr Grund zum Optimismus als er sich selber eingestehen mag.
Der Autor verschweigt das es zum Beispiel die Katholische Kirche, vorne dran der damalige Papst Xll, war die als einzige sich getraut haben gegen die Judenverfolgung aufzustehen und etwas zu unternehmen. Warum haben fast alle römischen Juden das 3. Reich über lebt? Die Gleichsetzung Christentum = Katholisch = Judenverfolgung stimmt so nicht, zumal hier gerade die evangelische Kirche viel größere Fehler in ihrer Geschichte gemacht hat, beginnend bei dem Antisemiten Luther. Zum aktuellen Antisemitismus: der wird hauptsächlich durch die Muslime und durch linke Kräfte befeuert. Christen stellen sich schützend vor für Juden!
Ein sehr gutes und notwendiges Interview. Aber zur Ehrenrettung von Joseph Ratzinger (Benedikt XVI) möchte ich aus seinem Buch „Gott und die Welt“ (DVA 2000) eine Passage zitieren, die, meine ich, doch zum Denken anregt: „Gott hat das Volk (Israel) nicht zu einer Großmacht gemacht, im Gegenteil, es ist das am meisten leidende Volk der Weltgeschichte geworden. Aber es hat immer seine Identität behalten. Sein Glaube konnte nicht untergehen. Und er bleibt immer auch ein Stachel im Herzen der Christenheit, die ja aus der Geschichte Israels hervorgewachsen und an sie gebunden ist. Man merkt insofern, daß mehr im Spiel ist als geschichtliche Zufälligkeiten. Die Großmächte von damals sind alle untergegangen. Es gibt weder die alten Ägypter noch die Babylonier oder Assyrer. Israel bleibt und zeigt uns etwas von der Beständigkeit, ja vom Geheimnis Gottes.“ (S. 126 f.)
Eine Kirche, die sich als irdisches Sandkastenspiel Gottes versteht, kann mit einem Schuldbegriff, der sich nicht an das Göttliche selbst richtet, wenig anfangen. Es gibt die Sünde und die Buße, über allem letztlich die Erlösung. Was Sünde ist und was nicht, steht in der Bibel. Da steht nichts von Antisemiten, es sei denn, man hält Jesus selbst für einen. Was natürlich nahe liegt, wenn man sich nur oberflächlich oder gar nicht mit der Religion beschäftigt hat. Das trifft aber auf katholische Priester mit Bestimmtheit nicht zu. Die Bibel ist aber voll vom Chauvinismus gegenüber Nichtjuden. Und das wird von den Gläubigen unbewusst reflektiert. Man muss sich dazu bloß daran erinnern, dass die Generationen vor dem 2 WK mit der Bibel lesen lernten. Es ist wohl eine beschämende Erkenntnis, ganz besonders für ein radikal christlich erzogenes Kind, dass die ersten Gläubigen an den einen Gott so viele Jahrhunderte lang keine Christen waren. Die Aufrichtigsten unter den Beschämten mögen auf diese Weise zum Antisemitismus gefunden haben. Allen voran Luther und auch -Sie wissen schon - andere große Namen. Zu erwarten, dass die christlichen Kirchen sich unter Schuldeingeständnissen selbst aufklären, das ist unrealistisch. Da könnten sie sich auch gleich selbst auflösen. Was der Welt, insbesondere der islamischen, einen heilsamen Schock versetzen könnte. Meiner persönlichen Einschätzung nach sind die Christen für die Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung seit dem Zusammenbruch des Ostblockes verantwortlich, weil ihnen die Restauration längst unzeitgemäßer Strukturen und Privilegien über alles ging.
Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.