Die Evaluation der Corona-Maßnahmen schildert die verheerenden Folgen der Schulschließungen. Das kommt davon, wenn man Kinder nicht als Träger von Rechten, sondern als Virenschleudern behandelt. Wer sind die Verantwortlichen?
Nicht nur in juristischer Hinsicht fällt die vor Kurzem veröffentlichte Evaluation der Corona-Politik ein vernichtendes Urteil. Für die Schulschließungen gibt es Evidenz nicht für deren intendierten Zweck, sondern lediglich für ihre desaströsen Nebenwirkungen. Während eine „systematische Review nach Begutachtung von 7.474 (!) Publikationen, davon 40 mit Review-Verfahren, zu dem Schluss“ kommt, dass „die Wirksamkeit und die Stärke des Effekts von Schulschließungen auf das Infektionsgeschehen weiterhin unsicher sind“, führen die Autoren der Evaluation erdrückende Zahlen für die Kollateralschäden an.
Unter Verweis auf den Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit, der im Jahr 2021 im Vergleich zu 2020 einen Anstieg im Krankenhaus behandelter psychischer Erkrankungen feststellt, geben sie für die Gruppe der 15- bis 17-Jährigen einen Anstieg von 42 Prozent bei den emotionalen Störungen, 39 Prozent beim multiplen Suchtmittelmissbrauch, 28 Prozent bei den depressiven Episoden und 17 Prozent bei Essstörungen an. Auch bei der Gruppe der 10- bis 14-Jährigen war ein Anstieg psychischer Erkrankungen zu verzeichnen: 17 Prozent bei depressiven Episoden, 25 Prozent bei Angststörungen, 21 Prozent bei Essstörungen und 11 Prozent bei emotionalen Störungen. Bei den Grundschulkindern ist ein 36-prozentiger Anstieg der Störungen sozialer Funktionen, ein elfprozentiger Anstieg bei Behandlungen von Entwicklungsstörungen sowie ein fünfprozentiger Anstieg bei den Sprach- und Sprechstörungen festzustellen.
Diese Angaben entsprechen einem Schrecken mit Ansage. Kinder, aber auch Jugendliche sind besonders schutzbedürftig und verletzlich, da sie sich physisch und ihre Persönlichkeit betreffend noch in der Entwicklung befinden, die durch die Schule entscheidend geprägt wird. Schulschließungen werden im Bericht „klar als Ursachen für Angst und Einsamkeit bei Jugendlichen mit negativen Auswirkungen auf das soziale und Schlafverhalten der Kinder sowie ihr psychisches Wohlbefinden identifiziert“. Darüber hinaus werden Konzentrationsschwäche und Hyperaktivität sowie die Aneignung des emotionalen Stresses der Eltern als Folgen genannt, auch haben sich die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern verschlechtert. Und auch in körperlich-gesundheitlicher Hinsicht sieht es düster aus.
Für nichts und wieder nichts
So habe eine Reihe von Studien zeigen können, „dass aufgrund von Schulschließungen ‚Bildschirmzeit‘ und Gewichtszunahmen zugenommen und sportliche Aktivitäten abgenommen haben. Auch für Deutschland wurde ein deutlicher Anstieg von Fettleibigkeit bei Kindern während der Schulschließungen beschrieben.“
Und für Bildung im engeren Sinne lasse sich zusammenfassend sagen,
„dass sich die COVID-19-Pandemie negativ auf die Lerndauer, Lernfähigkeit und den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern ausgewirkt hat, insbesondere in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Wie stark und anhaltend diese Auswirkungen sein werden, wird sich erst in einigen Jahren durch internationale Vergleichsstudien erweisen.“
Das sind die Ergebnisse einer Politik, die Heranwachsende in erster Linie als Träger von Viren statt von Rechten behandelt – obwohl sie laut UN-Konvention über die Rechte des Kindes doch „Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung“ haben sollten. Artikel 29 zu Bildungszielen und Bildungseinrichtungen verpflichtet dazu, die Bildung des Kindes darauf zu richten, „die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen.“ Darüber hinaus seien dem Kind die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten (…) zu vermitteln.“ Nun konnten Kinder weder von den über sie verhängten Maßnahmen selbst profitieren, noch lässt sich im Nachhinein aufzeigen, dass sie anderen etwas gebracht hätten, denn Belege und Studien wären längst vorhanden, gäbe es einen entsprechenden Nutzen. Für Nichts und wieder nichts haben Staat und Gesellschaft Kindern und Jugendlichen kurz-, mittel- und in vielen Fällen langfristig geschadet.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger sagte kürzlich: „Im Ergebnis waren die flächendeckenden Schulschließungen ein Fehler, den wir nicht wiederholen dürfen. Es darf keine flächendeckenden Schulschließungen mehr geben.“ Es scheint sich jenseits von Team Lauterbach ein Konsens einzustellen, dass Schulschließungen nicht mehr beschlossen werden dürfen und auch rückblickend falsch waren, wobei die Frage nach der Justiziabilität und Verantwortlichkeit allerdings nicht gestellt wird. Abgestimmt und entschieden wurden die Schulschließungen (wie die Corona-Politik generell) durch ein Gremium, das in der Verfassung nicht vorgesehen ist, die Bund-Länder-Konferenz, was einem System organisierter Verantwortungslosigkeit entspricht. Auf Bundesebene können Politiker die fehlende Kompetenz geltend machen, während auf Länderebene behauptet werden kann, dass man ja nur umgesetzt habe, was oben entschieden wurde. Mitgemacht haben sie jedoch alle, auch jene Zauderer, die es gegen eigene Überzeugungen getan haben.
Auf Virenträger reduzierte Kinder
Die Geringschätzung der Rechte von Kindernn zeigt sich exemplarisch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im November 2021 die „Bundesnotbremse“ vom April desselben Jahres absegnete, die unter anderem das Verbot von Präsenzunterricht beinhaltete. Die Argumentation sollte man sich im Wortlaut zu Gemüte führen. Es hätte
„vertretbar angenommen werden, dass geöffnete Schulen wegen der Kontakte der Kinder untereinander und mit den Lehrkräften einen Beitrag zur infektionsbedingten Gefährdung von Leib und Leben der Bevölkerung leisteten. Dem steht nicht entgegen, dass Kinder selbst nach einhelliger Auffassung der Sachverständigen bei einer Infektion nur in seltenen Fällen und dann regelmäßig nur im Zusammenhang mit Vorerkrankungen schwer erkranken. Entscheidend ist nach sachkundiger Einschätzung, dass sich Schüler bei geöffneten Schulen im Rahmen der vielfältigen Kontakte mit anderen Schülern und den Lehrkräften im Klassenzimmer, im Schulgebäude oder dessen Außengelände, aber auch auf dem Weg zur Schule anstecken und das Virus dann auf Personen in ihrem familiären Umfeld oder auf die Lehrkräfte übertragen können.
Vor diesem Hintergrund begegnet die Einschätzung des Gesetzgebers keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass eine Beschränkung des Präsenzunterrichts bei hohen Inzidenzwerten zusammen mit den anderen Maßnahmen der „Bundesnotbremse“ zur Beschränkung zwischenmenschlicher Kontakte den Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung von Leib und Leben durch Infektionen und durch eine Überlastung des Gesundheitssystems jedenfalls fördern kann.“
Es ging den Richtern um Prof. Dr. Stephan Harbarth zufolge erklärtermaßen keineswegs darum, die Gesundheit von Kindern zu schützen, sondern um die Abwehr von Gefahren für das Gemeinwohl, dem sie ihre Rechte eiskalt unterordneten. Im April 2021 sei dies nämlich in Gefahr gewesen aufgrund der „exponentiellen Ausbreitung von Infektionen, der Verbreitung neuer, infektiöser und tödlicher wirkenden Virusvarianten, einer damit verbundenen Gefahr der nicht mehr möglichen Nachverfolgung von Infektionsketten und einem raschen Anstieg der Zahl infizierter Intensivpatienten“, so die höchste Instanz des deutschen Rechtssystems.
Nun sieht man beim DIVI-Intensivregister genauso wenig eine deutliche Mehrbelastung zu jenem Zeitpunkt, wie in den RKI-Wochenberichten der Arbeitsgemeinschaft Influenza KW 14–17 ein dramatisches Virengeschehen dokumentiert wäre. Den Grafiken der Initiative Qualitätsmedizin ist zu entnehmen, dass im April 2021 weniger Menschen mit Covid-Diagnose auf den Intensivstationen lagen als um den vorherigen Jahreswechsel 2020/21 (s. hier Abb. 4).
Das Glück schwedischer Schüler
Einzig und allein, weil Kinder Viren übertragen können, soll es dem BVerfG zufolge „verhältnismäßig im engeren Sinne“ gewesen sein, Schulen mit den erwartungsgemäß dramatischen Folgen zu schließen, denn das hätte eine (sich nirgends abzeichnende) Überbelastung zu verhindern gefördert und zum Schutz einer Bevölkerung beigetragen, die als ganze nie in Gefahr war. Weder lag eine reale Gefahrenlage vor, noch war das Mittel zielführend: Die Annahme, dass man mit Schulschließungen den Zustrom auf die Intensivstationen senken könne, ist für sich schon bizarr. Die reale Gesundheit, Entwicklung und Lebensqualität von Kindern wurden vom höchsten deutschen Gericht für rein spekulative Vorteile einer abstrakten Allgemeinheit geopfert, womit sich das BVerfG den Annahmen eines veritablen Wahnsystems verschrieben hat.
Ganz Deutschland hing diesem an und so verwundert es nicht, dass es bei den Repräsentanten des Bildungssystems nicht anders war. Ein Blick auf die Corona-Chronik der Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) Berlin möge einen Eindruck davon verschaffen:
6. Januar 2021: Die Ankündigung, die Berliner Schulen ab Mitte Januar schrittweise zu öffnen, sorgt für heftige Empörung bei Lehrer*innen, Schüler*innen, Eltern sowie der GEW BERLIN. Bund und Länder hatten sich kurz zuvor über eine bundesweite Verschärfung des flächendeckenden Lockdowns verständigt. Binnen weniger Tage werden 50.000 Unterschriften gesammelt, um gegen die Pläne Senatorin Scheeres zu protestieren. Kurz darauf rudert der Senat zurück: Die Schulen bleiben, wie von Bund und Ländern auch ursprünglich beschlossen, bis zum 31. Januar geschlossen. Die für den Digitalunterricht bereit gestellte Lernplattform Lernraum Berlin hält der Belastung nicht stand und bricht zusammen.
Dass das Nachrichtenportal news4teachers.de, das Lehrer täglich mit für sie relevanten Informationen versorgt, die Schulschließungen bis heute und auch für die Zukunft frenetisch verteidigt, ist nicht weniger bezeichnend. Dabei wiesen erste Studienergebnisse bereits im August 2020 „auf erhebliche psychische Belastungen und Bildungsverluste von Kindern durch die Schulschließung hin“, wie das Netzwerk für evidenzbasierte Medizin frühzeitig warnte.
Während Schulschließungen samt wöchentlichen Tests, Maskenpflichten und dergleichen hierzulande als notwendiges Opfer im Kampf gegen Corona tendenziell unhinterfragt akzeptiert wurden, ging das Schulleben eineinhalb Flugstunden von Deutschland entfernt seinen fast gewohnten Gang – und kaum einem schien das zu denken zu geben. In Schweden waren die Schulen die ganze Zeit über geöffnet, ohne dass dies dort zu den hierzulande neurotisch befürchteten Konsequenzen geführt hätte. Man konnte also jederzeit wissen, dass man die Schüler auch hätte verschonen können.
Der zweite Teil zur Evaluation der Corona-Maßnahmen: Masters of Datenchaos.