Thomas Rietzschel / 11.03.2025 / 14:00 / Foto: Imago / 12 / Seite ausdrucken

Die kalkulierte Trauer

Nach Anschlägen und Gewaltverbrechen sind die einen ergriffen, weil sie spüren, dass die Gefahr, selbst Opfer zu werden, wächst. Andere erhoffen sich eine Art Katharsis. Und Politiker ergreifen die Chance zu größter Heuchelei.

Es ist schon ein paar Tage her, dass am Nachmittag des Rosenmontags in der Mannheimer Innenstadt ein PKW mit hoher Geschwindigkeit durch die Fußgängerzone in eine Menschenmenge auf dem Faschingsmarkt raste. Die ARD unterbrach das laufende Programm, die Übertragung von den Fastnachtsumzügen, um in kurzen Sondersendungen von dem Vorfall zu berichten. Die Mannheimer wurden davor gewarnt, ihre Häuser zu verlassen. Hubschrauber kreisten über der Innenstadt. Überall sah man Rettungswagen.

Die Polizei hatte die Lage im Griff, soweit das überhaupt möglich war. Zu erfahren gab es sonst wenig. Von einem, später von zwei Toten war die Rede. Mit Angaben zur Zahl der Verletzten hielt sich die Polizei zurück, erst gegen Abend wurde von einer zweistelligen Zahl gesprochen. Am Ende waren es elf zum Teil schwerverletzte Passanten, darunter auch Kinder. Was den Täter anlangte, schwieg sich die Polizei aus. Mehr, als dass es sich um einen Deutschen aus Ludwigshafen, vierzig Jahre alt, handeln würde, sickerte nicht durch. Die Ermittlungsbehörden arbeiteten überlegt und konzentriert, ohne davon großes Aufhebens zu machen. Der Katastropheneinsatz lief, wie man es erwarten darf, ohne Chaos und Medienrummel. Auch das sollte einmal hervorgehoben werden.

Politiker am Tatort

Kurz darauf, keine drei Stunden nach der Tat, kam dann aber politischer Schwung in das schreckliche Geschehen. Die Bundesinnenministerin und der Ministerpräsident von Baden-Württemberg eilten zum Tatort, „um sich ein Bild von der Lage zu machen“. Danach, versprachen Radio und Fernsehen, würden die Bürger mehr und Genaueres erfahren. Dabei hatte Nancy Faser doch eben noch als Zuschauerin den Umzug in Mainz verfolgt. Kretschmann vermutlich in Stuttgart gesessen, daheim oder im Büro. Was sollten sie mehr wissen als ihre ermittelnden Beamten am Tatort? Hatten die Politiker auf die Schnelle selbst recherchiert, weil sie ihren Behörden nicht trauten? Wollten sie die Ermittlungen an sich ziehen, um anderen zuvor zu kommen? Oder wollten sie nur das Licht der Scheinwerfer auf sich ziehen? 

Tatsächlich hatten sie nach dem Besuch vor Ort nichts Neues mitzuteilen, abgesehen von dem Bekenntnis ihrer Betroffenheit und tiefer Trauer. Kurzum, das furchtbare Geschehen wurde wieder einmal instrumentalisiert, um Verantwortung zu demonstrieren. Die Vertreter der „demokratischen Parteien“ taten genau das, was sie der AfD bei jeder passenden und noch öfter unpassenden Gelegenheit unterstellen. Auch der leicht zu Tränen gerührte Bundespräsident „trauerte“ vom Ausland her. Noch-Kanzler Scholz versicherte ebenso wie sein Nachfolger Friedrich Merz, mit seine „Gedanken bei den Opfern und ihren Angehörigen“ zu sein. Die Vertreter des Staates wollten sich die Gelegenheit, mit Mitleid zu punkten, nicht entgehen lassen. Es ging um den politischen Profit. Deshalb taten sie so, als ob sie mehr wüssten, in der Sache am besten informiert und von der Trauer überwältigt wären. 

Das alles hat längst Methode, ist aber auch nur die eine Seite der scheinheilig kalkulierten Trauer. Die andere betrifft das Volk mit seinem kaum weniger fragwürdigen Bedürfnis nach emotionaler Erschütterung. 

Die Faszination des Schreckens

Die Katharsis, die seelische Reinigung der Leidenschaften, die sich der Mensch seit Aristoteles vom Theater versprochen hat, von Tragödien, seltener von Komödien, erhofft man sich heute von Gewaltverbrechen. Deshalb sind die Menschen fasziniert von den Bildern des Schreckens, deshalb zieht es sie an die Tatorte. Erwachsene legen Blumen ab, Kinder ihre geliebten Teddybären oder anderes Spielzeug, an dem sie hängen. 

Nun soll hier mitnichten bestritten werden, dass es für viele ein Bedürfnis ist, sich einzureihen in die unübersehbare Trauergemeinde.  Insbesondere nach den Anschlägen der jüngsten Zeit sind viele Menschen wirklich betroffen und berührt, wenn sie verstehen, dass es sie ebenso hätte treffen können und das die Gefahr, einem Attentäter zu begegnen in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist.

Doch gleichzeitig reihen sich diejenigen in die Trauerzüge ein, denen solche Erkenntnis (noch) fremd ist. Es sind jene kollektiv Trauernde, die stattdessen einem künstlich erzeugten Bedürfnis einer übersättigten Gesellschaft folgen, der es an existentiellen Herausforderungen fehlt. Diese Tränen, die dabei vergossen werden, ändern nichts an der Heuchelei, so gut sie gemeint sein mag. 

Denn über 300.000 Einwohner wie neulich im Stadtkreis von Mannheim können nicht wahrhaft emotional erschüttert sein vom Tod zweier Menschen und dem Leid von elf Verletzten, von Opfern, die kaum einer der massenhaft Trauernden persönlich gekannt oder auch nur im Vorbeigehen wahrgenommen hat. Während die Gräber der Angehörigen, die von Oma und Opa, kaum noch besucht werden, von den Katholiken zu Allerseelen sowie von den Protestanten am Totensonntag, wird in großem Stil gelitten, sobald Menschen umkommen, mit denen einen nicht mehr als der Wohnort verband. Von Gram gebeugt stöhnen Frauen und Männer in die Mikrofone der Radio- und TV-Sender.  

Vereint in der Trauer

Neben der einfachen, der dreisten zweckorientierten Heuchelei gibt es auch eine moralisch verbrämte, ein Bedürfnis, als Leidende wahrgenommen zu werden. Und die Politiker verstünden ihr Geschäft schlecht, versuchten sie nicht, daraus ihren Vorteil zu ziehen. Ob sie dabei den Bürgern zu mehr Klarheit und Orientierung in der bedrohlichen  Situation verhelfen, darf bezweifelt werden. Es spielt keine Rolle, wenn sich alle in der unpersönlichen Trauer vereint fühlen, darauf erpicht, eingebildete Emotionen zu genießen und - vor allem - sich besser zu fühlen als die Verursacher der Attentate, die sie obendrein noch als psychisch gestört betrachten können. Weiteres ist für den Moment ohne Belang.

Hauptsache man hat den Eindruck der Betroffenheit erweckt, obwohl doch nur der Bauch über den Kopf triumphierte und die Unwissenden den Politikern in die Karten spielen. Sie allein haben einen Nutzen von der medial befeuerten Volkstrauer. Ist doch damit Zeit gewonnen, Zeit, in der sie nicht fürchten müssen, von lästigen Fragen bedrängt zu werden. Wer schließlich dürfte es wagen, mit Kritik aus der Reihe zu tanzen, wo es sich gehört, in der Trauer zusammenzurücken, mit den Gedanken bei den Opfern und deren Angehörigen zu sein. Irgendwie fühlen sich die „Menschen“ doch alle in großer Trauer als Volksgemeinschaft verbunden. Der Gipfel moralischer  Heuchelei ist erklommen und Trauer erste Bürgerpflicht. Jüngst in Mannheim und demnächst an einem anderen Ort.

Dr. Thomas Rietzschel, geboren 1951 bei Dresden, Dr. phil, verließ die DDR mit einer Einladung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er war Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ und lebt heute wieder als freier Autor in der Näh von Frankfurt. Verstörend für den Zeitgeist wirkte sein 2012 erschienenes Buch „Die Stunde der Dilettanten“. Henryk M. Broder schrieb damals: „Thomas Rietzschel ist ein renitenter Einzelgänger, dem Gleichstrom der Republik um einige Nasenlängen voraus.“ Die Fortsetzung der Verstörung folgte 2014 mit dem Buch „Geplünderte Demokratie“. Auf Achgut.com kommt immer Neues hinzu

Foto: Imago

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Emil.Meins / 11.03.2025

Man hat den “Bürger” darauf konditioniert, auf Kommando, gewünschte “Emotionen” zu produzieren (wer nicht weiß, wovon ich rede: im TV z.B. laufen täglich entsprechende Programme, früher waren es “Lassie”-Filme, die das Publikum zu Tränen rührten, heute produziert man beliebig abrufbare Emotionen in diversen Formaten, von Trauer, Tränen, bis Lust über Ekel, Abscheu bis zu Hass), das Ergebnis sind Pawlowsche Hunde mit programmierten, steuerbaren Emotionen, die auch auf Kommando “demonstrieren”. Seltsamerweise hat niemand ein Problem mit den zahllosen stinkenden Paraffin-Totenlichtern, während man sonst wegen jedem Gramm CO2 und Feinstaub gequält aufjault und den Beelzebub heraufbeschwört, und die ganzen Teddybärchen und die anderen Emotions-Symbole ohne Wert sind nach ein paar Tagen nur noch lästiger Müll und müssen von der Müllabfuhr entsorgt werden. In Wirklichkeit sind das nur leere Surrogate echter Emotionen, genau wie die Emojis, die jeder Simpel unter seine Mails oder “Messages” pappt, wertloser Dreck! Und wie bei Süchtigen muss die Dosis, der auslösende Reiz ständig erhöht werden, um noch die erwünschte Reaktion hervorzurufen. Deshalb werden nicht nur die Filme immer brutaler, auch in der Realität steigt die Gier nach dem ultimativen Kick, wie man bei jedem Unfall mit Schwerverletzten sieht, wo die Gaffer jedes blutige Detail in Großaufnahme filmen möchten, um sich und andere damit aufzugeilen.

Marcel Seiler / 11.03.2025

Ich bin nicht traurig, und eine Katharsis erlebe ich auch nicht. Meine Hauptreaktion ist Axelzucken: Die Deutschen haben genau dies an der Wahlurne gewählt, immer wieder. Sie haben sich entschieden, ein Leben ohne Würde zu leben. So jemandem ist nicht zu helfen, und Mitleid verdient er auch nicht.

Sam Lowry / 11.03.2025

Der nächste Anschlag und die nächsten Satzbausteine “Wir danken den Rettungskräften, wir müssen zusammenstehen, dürfen den Rechten keine… blablabla” sind nicht mehr weit.  Jede Wette. Eigentlich täglich, wenn man auf messerinzidenz nachschaut. Nur gilt ein Abgestochener noch nicht als Terror. Da müssen schon mehr erstochen, totgefahren oder schwerst verletzt werden, damit man medienwirksam seinen Sermon absondern kann. Nebochanten erscheinen…

Lutz Liebezeit / 11.03.2025

Ich würde eher sagen, die Täter kehren an den Tatort zurück.

S.Buch / 11.03.2025

Die geheuchelte Kollektivtrauer sozusagen als nachgelieferte „Solidarität“ für den eigenen Stamm. Bei so viel Zuwendung kommen einem die Tränen der Rührung in die Augen.

Ferdinant Katz / 11.03.2025

Kann sich noch jemand an die Zeit erinnern, da man zur Zerstreuung eine Kirmes oder ein Weinfest aufsuchte? Oder ob des Gefühls ausgelassener Zusammengehörigkeit, gemeinsam ein Sport oder Kulturevent verfolgte? Der neue Volkssport scheint Betroffenheitseskapismus zu sein, Zerstreuung und Gemeinsamkeit, sind dem emittieren von bunten Parolen gewichen zu sein - ähnlich einem Gottesdienst, folgt das Amen, in Form von Losungen der “Weltoffenheit” oder “sich seine Art zu leben, nicht nehmen zu lassen” Eine künstliche wie klebrige Gemeinschaft, wird beschworen- das Kollektiv, ohne Seele und ohne Herz, das immer wieder die selben Floskeln abspult, offenbar von der Wahnvorstellung befallen, die Realität werde sich schon ändern, wenn man sie nur lange genug leugnet. Von Ihrem Steuergeld, bestens versorgte “Hirten” treiben die Herde der übersättigten Wohlstandsverblödeten auf den Straßen vor sich her. Sie ziehen die bequeme Lüge, der hässlichen Wahrheit vor und ebnen als gefügige Mitläufer den Weg in die nächste Tyrannei - und am Ende, will man natürlich von nichts gewusst haben, wenn man nicht von Anfang an dagegen war.

Franz Klar / 11.03.2025

Zur kalkulierten Trauer paßt die kalkulierte Berichterstattung : “Als feststand, dass der Täter in Mannheim Deutscher ist, verloren Medien das Interesse ...Über die Todes­fahrten in Magdeburg und München haben deutsche Medien doppelt so häufig wie über die Tat in Mannheim von Anfang März berichtet, wertet BuzzFeed News Deutschland aus (Quelle kress.de ,10. MÄRZ 2025 ) .

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