Der Antisemit als solcher ist ein faszinierendes Wesen. Keine Hürde ist ihm zu hoch, kein Weg zu weit. Seit gut 2500 Jahren verfolgt er seine Mission mit Disziplin und Konsequenz. Andernorts hinterfragten die Menschen ihren jeweiligen Gott und den Glauben an die flache Erde – der Antisemit hingegen blieb standhaft und völlig unbeirrt auf Kurs. Ihn stört schließlich nicht, was „der Jude“ tut, sondern der Umstand, dass dieser überhaupt existiert.
Das Erfolgsrezept des Antisemiten besteht dabei in seiner Anpassungsfähigkeit: Er geht stets mit der Mode und findet immer einen anderen Grund, etwas gegen die Juden zu haben. Warf man ihnen vor rund 2000 Jahren die Kreuzigung Jesu vor, so befand man sie im Mittelalter der konzertierten Brunnenvergiftung und Wucherei für schuldig. Später stellte man sich dann die Judenfrage, nur um sie letztlich in deutscher Qualitätsarbeit präzise endzulösen.
Seitdem liegt der Gegenstand seiner Sorge zwischen Mittelmeer und Jordan. Der postmoderne Antisemit hält nicht mehr die Juden, sondern die Israelis für unser Unglück. Wenn er nicht gerade die Hamas, seine Brüder im Geiste, zu Widerstandskämpfern deklariert, echauffiert er sich über die Ungerechtigkeit, die dem noch nicht ganz nuklearen Iran widerfährt. Und wenn in Tel Aviv ein Jude einem Araber den Parkplatz vor der Nase wegschnappt, dann sieht er nicht etwa tatenlos zu, sondern initiiert sofort eine Petition gegen das „zionistische Apartheits-Regime“.
Daneben gibt es allerdings noch eine andere Gattung von Antisemiten, die eher wertkonservativ unterwegs ist. Die Arbeit seiner Vorgänger will er nicht einfach in die Tonne treten, dafür ist sie zu wertvoll. Lieber wärmt er sie auf und integriert sie in sein „Greatest Hits“-Programm, wo die sogenannte „Israelkritik“ dann neben Henry Ford und Julius Streicher ihren Platz findet.
Eine Prise Günter Grass
Zu diesen Multitasking-Antisemiten gehört auch der Politiker und Philosoph Wolfgang Gedeon vom Bodensee, der erst im März in der AfD-Fraktion im Stuttgarter Landtag Unterschlupf fand. In seinen Schriften, die über 2000 Buchseiten füllen, präsentiert das badische Multitalent nicht nur den guten alten, religiös motivierten Judenhass. Auch ein Hauch von Schlussstrich-Mentalität, eine Prise Günter Grass und eine ordentliche Portion Verschwörungspraxis entfalten sich dort zu voller Pracht.
Wenn er nicht gerade über die Bedrohung durch „talmudische Ghettojuden“ philosophiert und den Juden die Schuld am Antisemitismus gibt, widmet er sich den „Protokollen der Weisen von Zion“, die er nicht nur für authentisch, sondern auch für „genial“ hält. Und wenn er dann noch Zeit hat, beschwert er sich über den zionistischen Einfluss auf Presse und Justiz, der ihm genauso den Schlaf raubt wie der „Dschihad, den Israel gegen die Araber“ führe.
Nun allerdings hat die weltweite Verschwörung es gewagt, Gedeon bei seiner Widerstandsgymnastik zu stören. Nachdem sein Hobby plötzlich auch den Medien auffiel, hielt die AfD es für eine gute Idee, etwas zu unternehmen. Gedeon selbst übte sich derweil in der Kür, die jeder ordentliche Antisemit beherrscht. Kannte er sich bislang nicht nur mit den Dingen aus, die Juden und Zionisten für gewöhnlich so aushecken, so wusste er nun auch ganz genau, wo Antisemitismus beginnt und wie man ihn definiert. Er selbst sei demnach kein Antisemit, sondern nur „dezidierter Antizionist“. Und weil ihm das Wohl der Juden so am Herzen liegt, warnte er bei der Gelegenheit auch davor, den Antisemitismus-Begriff nun zu „verschleißen“.
Denn den brauche man ja noch für die „echten Antisemiten“ – zu denen er selbst natürlich nicht zählt. Zwar verfügt Gedeon weder über jüdische Kronzeugen noch über jüdische Freunde. Dafür allerdings hat er eine jüdische Uhr, die ihn laut eigenen Angaben davor bewahrt, ein Antisemit zu sein. Und das ist ja auch etwas Schönes.
Dieses schlagkräftige Argument scheint nun auch Teile der AfD-Landtagsfraktion ins Grübeln gebracht zu haben. Denn eigentlich hätten die Abgeordneten am Dienstag über Gedeons Ausschluss aus der Fraktion abstimmen sollen – ein ohnehin schwieriges Unterfangen, für dessen Umsetzung Fraktionschef Meuthen nicht nur mit seinem eigenen Rücktritt drohen, sondern auch Rückendeckung des Bundesvorstandes, des Landesvorstandes und der Länderchefs organisieren musste.
Ein Antisemit oder ein Judenkritiker?
Jetzt wollen es einige Abgeordnete jedoch ganz genau wissen. Anstatt ihren Buddy ohne Widerruf vor die Tür zu setzen, hat sich die Fraktion auf Initiative einiger MdLs hin darauf geeinigt, ein Gutachten einzuholen, das klären soll, ob Gedeons Pamphlete antisemitisch sind oder nicht. Natürlich sind die ratlosen Abgeordneten gegen jeden Antisemitismus. Sie erkennen ihn nur selbst dann nicht, wenn er neben ihnen sitzt und die „Protokolle“ vorliest. Hinterher hat der Kollege ja doch eine Verschwörung aufgedeckt? Womöglich ist er gar kein Antisemit, sondern aussichtsreicher Anwärter für den Literaturnobelpreis? Denkbar ist schließlich alles, da muss man schon genauer hinsehen. Der Weise vom Bodensee, der auf seiner neuen Facebook-Seite gerade seinen Fanclub ausbaut, muss bis dahin am fraktionslosen Katzentisch Platz nehmen.
Und so werden wir uns nun künftig nicht nur mit der Frage beschäftigten, ob Jakob Augstein oder die Gaza-Matrosen aus der Linkspartei Antisemiten sind. Geklärt werden muss auch, ob Juden zu viel Einfluss haben, ob sie nicht doch selbst an ihrem Unglück schuld sind und ob die Protokolle echt sind; und falls nicht, ob jemand mit solchen Überzeugungen schon ein Antisemit oder nur ein querdenkender Judenkritiker mit guten Absichten ist. Der postmoderne Antisemit ist zwar schon weiter und verhütet heute den Angriffskrieg der Zionisten und nicht mehr den der Juden. Aber es kann ja trotzdem nicht schaden, im Jahr 2016 nochmal die Gedanken aus Opas Mottenkiste unter die Lupe zu nehmen und gut integrierte Gewissheiten kritisch zu hinterfragen.
Insofern zeugt die Rätselrunde von Stuttgart auch von Verantwortungsbewusstsein, wie man es im Land der Nürnberger Rassegesetze erwarten darf. Noch vor ein paar Jahrzehnten legten deutsche Schreibtischtäter gesetzlich fest, wer Jude ist und sich damit auf ein One-Way-Ticket nach Auschwitz freuen durfte. Wenn es nun um Antisemiten geht, dann lässt man aber lieber Vorsicht als Nachsicht walten und bestellt sicherheitshalber ein wissenschaftliches Gutachten. Nicht, dass die Weltverschwörer wieder übermütig werden.
Siehe auch: „Die Protokolle des AfD-Weisen vom Bodensee“ (30.04.2016)