Dass es sich bei der zeitlich und mengenmäßig unbegrenzten Außerkraftsetzung des gesetzlichen Zurückweisungsgebots um eine wesentliche Entscheidung handelt, steht außer Frage. Die jährlichen Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe, insbesondere für die Sozialsysteme, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Verknappungssituation auf dem Wohnungsmarkt, nicht zuletzt die ansteigende Kriminalität und die Zunahme islamistischen Terrors durch die Grenzöffnung lassen hieran keinen Zweifel. Dazu kommen die Herausforderungen der kulturellen Integration von Menschen, deren Sozialisation häufig schon abgeschlossen ist. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck hielt diese sogar für eine größere Aufgabe als die deutsche Wiedervereinigung. Denn jetzt solle „zusammenwachsen, was bisher nicht zusammengehörte“.
Vor diesem Hintergrund wurde insbesondere Ende 2015 bis Mitte 2016 eine Debatte darüber geführt, ob die Exekutive überhaupt befugt ist, ohne Beteiligung des Parlaments über eine lange Dauer und für eine große Zahl von Menschen Einreisegestattungen zu gewähren. Der bayerische Ministerpräsident Seehofer sprach insoweit sogar, untermauert durch ein umfangreiches Rechtsgutachten, von einer „Herrschaft des Unrechts“. Aber auch darüber hinaus kritisierten Rechtswissenschaftler „rechtsfreie Räumen" bei der Sicherung der Außengrenzen, sprachen von einer „Krise des Rechts und der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“ und fürchteten, der Rechtsstaat sei „im Begriff, sich im Kontext der Flüchtlingswelle zu verflüchtigen“. Andere meinten, einen „fortwährenden Rechtsbruch“ oder eine „selbstherrliche Kanzler-Demokratie“ zu erkennen, gingen sogar von einer Strafbarkeit der Bundeskanzlerin wegen Beihilfe zur illegalen Einreise aus und forderten die „Rückkehr zum Recht“ durch eine Entscheidung des Bundestages beziehungsweise ein „parlamentarisches Gesetz“, da die Kanzlerin keine Kompetenz habe, „geltendes Recht außer Kraft zu setzen“. Auch in jüngerer Zeit hat die Grenzöffnung umfassende juristische Kritik erfahren.
Bildhaft auf den Punkt bringt es auch der Rechtsanwalt und ehemalige SPD-Bundesinnenminister Schily (Stern vom 15.09.2016):
Die Bundeskanzlerin hat ganz allein darüber entschieden. Sie hat vollendete Tatsachen geschaffen, eine Million Flüchtlinge ins Land gelassen und anschließend die anderen europäischen Länder aufgefordert, jetzt bitte Solidarität zu zeigen und uns Flüchtlinge abzunehmen. Das war weder europäisch, noch hat es irgendetwas mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun. Die Kanzlerin ist nicht befugt, aus eigener Machtvollkommenheit darüber zu entscheiden, ob Personen illegal einreisen dürfen oder nicht.“
Weicht die unbeschränkte Grenzöffnung auch von anderen Gesetzen ab?
Anders als mancher glauben mag, enthalten viele unserer Gesetze sehr sinnvolle Grundsätze für die Regulierung der Zuwanderung und damit auch für die Einreise nach und den Aufenthalt von Menschen in Deutschland, sofern diese als Asylbewerber keinen Rechtsanspruch auf eine Einreisegewährung haben, da sie über andere sichere EU-Länder einreisten. § 1 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nennt insoweit die „Steuerung und Begrenzung“ des Zuzugs von Ausländern sowie die Ermöglichung und Gestaltung der Zuwanderung „unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit“, der „wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen“ und der „humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland“. Indem die Bundesregierung bis heute die Grenzen freiwillig auch für Menschen offen hält, die nach ihrer eigenen Rechtsansicht jederzeit an den deutschen Landgrenzen zurückgewiesen werden könnten, konterkariert sie diese Grundsätze offensichtlich völlig.
Zudem muss man bedenken, dass die Außerkraftsetzung des gesetzlichen Zurückweisungsgebots durch die mündliche Ministeranordnung der Grenzöffnung der eigentlich vorgesehenen Strafbarkeit der illegalen Einreise widerspricht (§ 95 Abs. 1 AufenthG). Diese ist strafbar, weil – wie das Bundesinnenministerium selbst ausführt – diese Taten die
„Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen (…) als Grundlage des gesamten deutschen Aufenthaltsrechts unterlaufen und vereiteln“.
Im Hinblick auf die fehlende Durchsetzung der Strafgesetze zur illegalen Einreise hielt das Oberlandesgericht Koblenz Anfang 2017 fest: „Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt.“
Die Bundesregierung setzt mit ihrer Grenzöffnung auch die Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-Verordnung außer Kraft. Dort wird nämlich eindeutig festgehalten, dass für die Durchführung des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens (also der Ermittlung des für das Asylverfahren zuständigen Dublin-Staates) das Nachbarland zuständig ist, aus dem die Einreise erfolgen soll (Art. 20 IV UAbs. 1 S. 1 Dublin-III-Verordnung). Da der Asylantrag noch vor der Einreise und damit rechtlich im Nachbarland Deutschlands gestellt wird, haben also dessen zuständige Behörden ein entsprechendes Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren gegenüber dem eigentlich zuständigen Dublin-Staat einzuleiten, soweit sie nicht selbst zuständig sind. Die Geltung dieser Zuständigkeitsregeln hat der Europäische Gerichtshof erst 2017 für Zeiten der Massenmigration bestätigt. Denn mit dieser Regelung sollte Transitländern der Anreiz genommen werden, die Weiterwanderung von Asylbewerbern in ihre Nachbarstaaten zu dulden oder gar zu fördern.
Mit ihrer mündlichen Anordnung einer dauerhaften Grenzöffnung verstößt die Bundesregierung also nicht nur gegen die im Grundgesetz normierte Gewaltenteilung, sondern auch gegen die Grundsätze des einfachen deutschen Gesetzesrechts zur Steuerung der Zuwanderung und die Zuständigkeitsregeln des europäischen Asylrechts.
Warum besteht der Bundestag nicht auf seine Rechte als Gesetzgeber?
Der Bundestag hat das Flüchtlingsthema natürlich häufig diskutiert. Die dauerhafte Außerkraftsetzung des gesetzlichen Zurückweisungsgebots (§ 18 Abs. 2 AsylG) hat er jedoch nicht formell verabschiedet. Das kann man natürlich als bloßen Formalismus abtun. Es ist jedoch mehr als das. Hier sei nochmals an die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erinnert.
Dahinter steckt nicht nur der Aspekt der Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Dies dient auch der Sicherstellung der Verantwortungsübernahme durch die einzelnen Abgeordneten. Stellen Sie sich vor, die Abgeordneten hätten im Wahlkampf 2017 vor ihren Wählern und in ihren Wahlkreisen ihre persönliche Zustimmung zu einer Gesetzesänderung erläutern müssen, welche die eigentlich existierenden Regeln zur Zurückweisung von Asylbewerbern freiwillig außer Kraft setzt. Da ist es doch wesentlich bequemer so zu tun, als sei dies Sache der Bundesregierung und – wie vielfach geschehen – Deutschland sowieso aufgrund der Verfassung, europäischem Recht oder der Genfer Flüchtlingskonvention zu offenen Grenzen für Asylbewerber gezwungen. Auch wenn dies – wie oben erläutert – tatsächlich bisher nicht einmal die Bundesregierung selbst glaubt hat.
Allerdings ist im Entwurf des Koalitionsvertrages schon zu lesen, dass die angehende Groko aus politischen Gründen diese im Interesse des Schutzes der deutschen Grenzen liegende Rechtsansicht aufgeben will. Zukünftig will sie nämlich nicht mehr die zutreffende Ansicht vertreten, Asylbewerber an der Grenze zurückweisen zu dürfen. Vielmehr will sie nun – vor dem Hintergrund des zukünftigen Obergrenzen-CSU-Innenministers Seehofer eine geradezu groteske Kehrtwende – die Auffassung vertreten, angeblich durch europäisches Recht gezwungen zu sein, jeden gestellten Asylantrag bearbeiten zu müssen.
Die anfängliche Kritik mancher Politiker, insbesondere von CDU und CSU, ist längst verklungen. Nicht zuletzt spielt wohl auch eine Rolle, dass es mit fortschreitender Zeit seit Herbst 2015 zumindest für die damals schon im Bundestag vertretenen Parteien immer schwerer würde, dem Bürger zu erklären, warum es nicht schon früher eine formelle Beschlussfassung des Parlaments gegeben hat.
Insofern dient die Verdrängung dieser Thematik auch dazu, ein Fehlverhalten des Bundestages nicht offenbar werden zu lassen. Selbstverständlich gilt dies auch für die Bundesregierung. Hoffen kann man insoweit nur noch auf FDP und AfD, die erst seit wenigen Monaten wieder beziehungsweise neu im Parlament vertreten sind. Sie könnten notfalls mit einem Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Überprüfung der mündlichen Grenzöffnung erreichen.
Ist die Durchsetzung des gesetzlichen Zurückweisungsgebots nicht inhuman?
Die derzeitige deutsche Flüchtlingspolitik wird regelmäßig durch Verweise auf die Prinzipien der Solidarität und Humanität gerechtfertigt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob in letzter Konsequenz die aktuelle deutsche Politik der offenen Grenzen nicht zu Ergebnissen führt, die diesen hohen Idealen nicht gerecht werden beziehungsweise diesen sogar zuwiderlaufen. Mit einiger Berechtigung kann gefragt werden, ob es nicht Möglichkeiten gibt, die derzeit für die massenhafte Zuwanderung in Deutschland bereitgestellten finanziellen Mittel effektiver und zielgerichteter direkt in den Krisenregionen der Welt einzusetzen.
Echte Hilfe für alle Menschen in den betroffenen Krisenländern, einschließlich der Alten, Schwachen und Armen, die keine andere Wahl haben als in ihren Heimatländern zu bleiben, statt staatlicher Transferleistungen für die einigen wenigen, die es schaffen, dank entsprechender finanzieller Mittel zur Schleuserfinanzierung und physischem Durchsetzungsvermögen, direkt nach Deutschland zu kommen, könnte einen tatsächlich humanitären Ansatz darstellen. Eine strenge Durchsetzung des Zurückweisungsgebots würde zudem vermutlich viele schon von der gefährlichen und teilweise tödlichen Überfahrt über das Mittelmeer abhalten.
Für die monatlichen Kosten eines Asylbewerbers – ganz zu schweigen eines unbegleiteten Minderjährigen – in Deutschland könnten in den meisten Weltregionen viele Familien in der vertrauten Umgebung ihres eigenen Kulturkreises unterstützt werden. Das UNHCR würde sich über deutsche Beiträge in Milliardenhöhe jedenfalls sicher freuen. Vor allem müssten dort auch Bildung und Kompetenzvermittlung im Vordergrund stehen, um Menschen in die Lage zu versetzen, nicht deutsche Niedriglohnarbeiten auszuführen, sondern ihre Heimat bei einem Wiederaufbau voranzubringen. Die Durchsetzung des Zurückweisungsgebots des § 18 Abs. 2 AsylG ist daher in der Konsequenz fast schon ein moralischer und humanitärer Imperativ. Denn auf diese Weise könnte einer deutlich größeren Anzahl Menschen geholfen werden.
Wie die zukünftige gegebenenfalls erforderliche Zuwanderung von Menschen nach Deutschland – zum Beispiel m Rahmen eines Einwanderungsgesetzes nach kanadischem Muster - geregelt wird, hätten dann die Abgeordneten des deutschen Bundestages, idealiter im Rahmen einer breiten und ideologiefreien gesamtgesellschaftlichen Diskussion zu entscheiden. Andernfalls hieße es abwarten, wie die Zuwanderung von 1 Mio. Asylbewerbern alle 5 Jahre (also die von der GroKo gewünschte Zuwanderung von bis zu 220.000 Asylbewerbern ohne Qualifikations- und Leistungsanforderungen) in der Zukunft unser Land verändert. Und dies auf der Basis einer mündlichen Anordnung und ohne formellen Parlamentsbeschluss.
Was müssten die Abgeordneten im Bundestag nun tun?
Die Aufrechterhaltung einer Entscheidung dieser Dauer und Tragweite darf im Gegensatz zu einer lediglich kurzfristig geltenden Ministeranordnung für eine überschaubare Personenzahl nicht ohne formelle Beschlussfassung des Bundestages ergehen. Die Frage der formellen Verfassungsmäßigkeit der Grenzöffnung ist dabei keine Detailfrage haarspalterischer Verfassungsjuristen.
Die Verfassungsmütter und -väter haben sich bei der Gründung der Bundesrepublik sehr generelle und fundierte Gedanken gemacht, als sie das System der Gewaltenteilung im Grundgesetz verankert haben. Bei der weiteren Fortdauer der Grenzöffnung in der Zukunft geht es daher gerade nach den dunklen Erfahrungen der deutschen Geschichte um eine grundsätzliche Frage zur Außerkraftsetzung von geltendem Recht: Wollen wir es zulassen, dass ein Bundesminister über die Köpfe des eigentlich zuständigen Gesetzgebers hinweg Entscheidungen – und seien sie auch noch so gut gemeint – von unbegrenzter Dauer, für eine unabsehbare Vielzahl von Fällen und mit epochalen Auswirkungen auf unser Land trifft?
Oder wollen wir in einer Demokratie der Gewaltenteilung und damit letztendlich des Rechtsstaates leben, in der solche wesentlichen Entscheidungen unter Betrachtung aller möglichen Handlungsalternativen und unter Berücksichtigung aller positiven wie negativen Auswirkungen im Plenum unserer Volksvertreter diskutiert und formell korrekt als Gesetz verabschiedet werden?
Man kann daher nur an den Deutschen Bundestag appellieren über die Aussetzung des Zurückweisungsgebotes für Asylbewerber an unseren Landgrenzen (§ 18 Abs. 2 AsylG) eine formal einwandfreie und damit verfassungskonforme Entscheidung zu treffen. Gleiches geschah ja bereits im Hinblick auf die Frage des Familiennachzugs. Sollte die Mehrheit der Abgeordneten die Notwendigkeit eines formellen Bundestagsbeschlusses über eine entsprechende Außerkraftsetzung der Gesetze zur Zurückweisung nicht sehen, sollten die Oppositionsfraktionen dringend ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen, um die Rechtmäßigkeit der fortdauernden Grenzöffnung ohne Bundestagsbeschluss überprüfen zu lassen. Nur auf diese Weise kann die derzeit nach wie vor bestehende „Herrschaft des Unrechts“ endlich beendet werden.
Teil 1 finden Sie hier
Dr. Andreas Wagenseil ist Rechtsanwalt und Steuerberater in München. Er ist Mitautor des Ende 2017 in der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) erschienen juristischen Fachaufsatzes: „Die seit 2015 geltende mündliche Ministeranordnung zur Grenzöffnung im Lichte der Gewaltenteilung“ (siehe hier und hier).