Ich muss gestehen, ich habe den Tweet erst gar nicht verstanden. Marina Weisband, ehemalige Politikerin der Piraten-Partei und mittlerweile Mitglied der Grünen und, nicht nur auf Twitter, in der politischen Bildungsarbeit aktiv, schrieb am 6. Februar, also zum Höhepunkt der Thüringen-Hysterie: „Wenn ich nochmal was von den ‚Rändern‘ lese, fresse ich ein Hufeisen. Es kann doch nicht wahr sein! Kostenlose Kitaplätze und Faschismus gleichsetzen! Erwachsene Menschen.“
Ich las mir die vier (Halb-)Sätze mehrmals durch. Hatte da gerade jemand die DDR auf kostenlose Kitaplätze heruntergebrochen? Ich konnte es nicht fassen. Sofort schoss mir das Wort Autobahn durch den Kopf. Sie ließ sich zwei Tage Zeit, um klarzustellen, dass ihre Äußerungen sich auf die Unvergleichbarkeit von Höcke und Ramelow bezogen hätten. Von einer Verharmlosung der DDR distanzierte sie sich nicht. Dass man Links- und Rechtsextremismus nicht gleichsetzen könne, daran hielt sie fest. Und Kritik an dieser Feststellung komme eh nur von Nazis. Mit diesem Weltbild vertritt sie wahrscheinlich eine Mehrheitsmeinung.
Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Stunde im Geschichtsunterricht, in der eine Mitschülerin den Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Sozialismus so zusammenfasste: „Die Nazis wollten das Böse, die Sozialisten wollten das Gute“, und der Lehrer mit „ganz genau“ zustimmte. Schon damals kam mir diese Systematisierung recht holzschnittartig und kindlich vor. Doch spätestens seit dem „Zivilisationsbruch von Thüringen“, wie es Georg Restle ausdrückte, etabliert sich genau diese Argumentation, auf genau diesem intellektuellen Niveau, ganz offen. Neu ist diese Sichtweise natürlich nicht.
Wer in Deutschland eine Schule besucht hat, den Fernseher oder das Radio einschaltet, Zeitung liest, oder sich einfach mit anderen unterhält, bekommt dieses Bild seit Jahrzehnten vermittelt. Noch nie wurde allerdings so offen, so ungeniert und so gebetsmühlenartig das Bild der demokratischen aufrechten SED-Nachfolgepartei gezeichnet. Die Toleranzgrenzen der Gesellschaft haben sich massiv verschoben. Vieles, was vor 20 Jahren als Äußerung unter extremistischen Linken gefallen wäre, bleibt heute unwidersprochen in der neuen Mitte stehen. Vieles, was vor 20 Jahren eine legitime Meinungsäußerung war, ist heute unverzeihlich. Wenn die CDU einen Kandidaten der FDP wählt, dieser dann noch Ministerpräsident wird und es dann ein Machtwort der Bundeskanzlerin gibt, dass dies unverzeihlich und sofort die Linke ins Amt zu hieven sei, dann befindet man sich in Deutschland 2020.
Wenn es Höcke nicht gäbe, würde man ihn erfinden
Die Hufeisentheorie, die Marina Weisband kritisiert, ist mitnichten eine Theorie. Wobei, in den Geisteswissenschaften gelten auch noch simplere Allgemeinplätze als Theorien. Sie besagt lediglich, dass es in einer Gesellschaft eine politische Mitte – die sich in rechte und linke Strömungen aufteile – und zwei extremistische Ränder – links und rechts – gebe. Klingt erstmal nicht sehr kontrovers. Aber doch, ist es, denn, so fasste es die Zeit nach der Thüringenwahl im Oktober zusammen: „[…] jeder "Alerta Antifascista"-Rufende [ist] begrüßenswerter (…) als der freundliche AfDler von nebenan.“ Linke, egal wie extremistisch, sind in erster Linie Antifaschisten und jeder, der ihre totalitäre Ideologie, ihre Menschenverachtung und Methoden kritisiert, kann dann ja nur ein Faschist sein, ein Konterrevolutionärer! Gleichsetzen kann man beide Ränder also auf keinen Fall! Deutschland 2020. Kannste dir nicht ausdenken, musste erlebt haben. Wenn es Höcke nicht gäbe, würden sie ihn erfinden.
So offenbart sich der vermeintliche Hindenburg – oder doch Hitler? (Ich kann den Nazivergleichen langsam wirklich nicht mehr folgen, bitte, Herr Ramelow, helfen Sie mir!) Thomas Kemmerich in einem weiteren Schritt als Glatze mit Glatze. Er kündigt an, sein Ministerpräsidentensalär der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V.” spenden zu wollen. Doch hatte er vorher diesen Verein wohl nicht auf politische Zuverlässigkeit geprüft. Hände mit der AfD waren dort geschüttelt worden. Der Verein hatte eine Einladung der AfD in den Erfurter Landtag angenommen. Der Vorsitzende des Opferverbandes, Matthias Katze, hatte sogar als Direktkandidat bei der Thüringer Landtagswahl für die AfD kandidiert. Mittlerweile ist er zwar wieder ausgetreten, seine politische Unzuverlässigkeit hat er jedoch bereits in der DDR unter Beweis gestellt, wo er inhaftiert war.
Außerdem ist alleine schon die Spende an eine Organisation der Opfer des SED-Unrechtsstaates eine „Verhöhnung“ Bodo Ramelows, die seine Gegnerschaft zur Linken unterstreicht, was ja wiederum nur bedeuten kann, dass er die Nähe zum Faschismus sucht. Nein, das habe ich mir nicht ausgedacht, das könnte ich mir gar nicht ausdenken. Das habe ich auf einem Blog gelesen, dem unter anderem das Zentrum für politische Schönheit und die Grüne Jugend auf Instagram folgen. Kemmerich korrigierte seine Haltung, sah seinen Fehler schnell ein. Auf Twitter verkündete er umgehend: „Sämtliche aus dem Amt des Ministerpräsidenten und des geschäftsführenden Ministerpräsidenten entstehenden Bezüge werde ich an die Staatskasse zurückgeben.“ Richtig. Freiheit durch, nicht Freiheit vom Staat! Millionen Dissidenten weltweit irrten und irren. Danke, FDP! Zum Glück machen die technischen Errungenschaften unserer Zeit das Herausretuschieren von Trotzkisten heute leichter. Die Arbeit ist dann nicht beim Ausschneiden und Kopieren gebunden.
Streben nach Gleichheit führt zu Unterdrückung
Im Tagesspiegel erklärt der Fachmann aus der Bundesvorstandsverwaltung des DGB, Maximilian Fuhrmann, den einfachen Sachverhalt, den meine Mitschülerin im Geschichtsunterricht schon geblickt hatte, mit den Worten eines Soziologen, Erziehungswissenschaftlers und Friedens- und Konfliktforschers:
„Rechtextremismus bedeutet stets ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit und Unfreiheit – zumindest für jene, die den Gleichheitsvorstellungen nicht entsprechen. Linksextremismus bedeutet qua Definition das Eintreten für ein hohes Maß an sozialer Gleichheit. Dies kann mit einem hohen Maß an Unfreiheit als auch an Freiheit einhergehen.“
Die Landesvorsitzenden der Grünen in NRW, Mona Neubaur und Felix Banaszak, formulieren das ganze etwas genauer, falls Sie gerade Hilfe brauchen, da Sie über den Satz mit dem hohen Maß an Freiheit gestolpert sind:
„Die AfD vertritt eine Ideologie, die die Gleichheit der Menschen verneint. Für sie sind Menschen nicht gleich an Würde und Rechten. Dass das so ist, beweist die AfD in Worten und Taten. Sie ist völkisch-nationalistisch, radikalisiert sich immer weiter. Ihre Vertreter lassen keinen Zweifel mehr daran, dass sie – einmal an der Macht – unseren demokratischen Rechtsstaat und unsere freiheitliche Demokratie zersetzen und abwickeln wollen. Wir sind weder Mitglieder noch Fans der Linkspartei. Einige ihrer Programme und Protagonisten lehnen wir rundheraus ab. Aber weder in ihren Programmen noch in ihrem Handeln in Regierungen verfolgt die Linke Minderheiten oder versucht, unsere pluralistische, freiheitliche Demokratie zu stürzen. Eine Gleichsetzung ist daher – allein aus der deutschen Geschichte heraus – brandgefährlich.“
Die Totengräber der Freiheit des Menschen haben das Loch schon fast ausgehoben. Nicht nur die deutsche Geschichte hat gezeigt, dass das Streben nach Gleichheit zwangsläufig zu Unterdrückung und Totalitarismus führen muss. Dabei ist es egal, ob man sich bei diesem Kampf auf die Volksgemeinschaft, oder den Klassenkampf beruft. Die Freiheit des Individuums wird in beiden Ansätzen aufgelöst, zerstört, zertrümmert. Der vermeintliche Wirtschaftsliberalismus der untergehenden FDP hat genau diesen Überbau der Verpflichtung zur individuellen Freiheit nicht verstanden und somit auch nie vermittelt.
Eigenverantwortung ist der Preis der Freiheit
Die Freiheit des Individuums ist keine Klientelpolitik, die die wirtschaftlich Starken vor den Signalen des Marktes abschirmt. Eigenverantwortung ist der Preis der Freiheit. Gleichheit kostet uns die Freiheit. Der Liberalismus hatte Jahrzehnte lang kein Konzept und hat es heute so wenig wie noch nie, um zu vermitteln, dass es bei wirtschaftlicher Freiheit nicht um Wohlstand, sondern, in letzter Konsequenz, um Menschlichkeit geht. Stattdessen hat die Linke Begriffe wie Gerechtigkeit und Solidarität geformt, die jeder Grundschüler intuitiv als richtig und gut erkennt. Statt den experimentellen Blick auf Politik, Ideen und Unternehmertum des Liberalismus haben wir erneut den absoluten Wahrheitsanspruch des Totalitarismus. Wer der Wahrheit nicht folgt, wird schnell zum Paria. Wer die Wahrheit kennt, wird schnell zum Henker und wirft nur anfänglich noch mit Blumensträußen.
Für ein paar Monate bezeichnete sich der 16-jährige Karl Popper als Kommunist. Als Sozialist verstand er sich noch viele Jahre, träumte von einer egalitären Gesellschaft. Rückblickend schrieb er in seiner Autobiographie:
„Ich brauchte einige Zeit, bevor ich erkannte, dass das nur ein schöner Traum war; dass die Freiheit wichtiger ist als die Gleichheit; dass der Versuch. Gleichheit zu schaffen, die Freiheit gefährdet; und dass, wenn die Freiheit verloren ist, es unter den Unfreien auch keine Gleichheit geben kann.“
Popper war ein unfassbar kluger Kopf. Er arbeitete als Erzieher in einem Hort für sozialbenachteiligte Kinder und durchdrang gleichzeitig die Relativitätstheorie – neben seiner Ausbildung zum Lehrer war er Gasthörer in Physik, es interessierte ihn einfach. Er diskutierte mit Erwin Schrödinger und machte einmal den gleichen Rechenfehler wie Albert Einstein. Trotzdem brauchte er einige Zeit, um die Utopie der Gleichheit auf ihr Grundprinzip der Unterdrückung zurückzuführen. Wir haben es heute womöglich mit weit weniger klugen Köpfen in entscheidenden Positionen zu tun. Auf den Fluren des Erfurter Landtags, so berichtet die FAZ, wurden – wie auch immer zur AfD zuzurechnende – Personen bespuckt, die Familie von Kemmerich steht unter Polizeischutz. Die Entmenschlichung schreitet voran. Die Zeit, die der kluge Popper hatte – in die aber auch ein Weltkrieg und zwei totalitaristische Ideologien fielen – haben wir nicht. Die Zeit rennt uns davon.