Thilo Sarrazin / 12.06.2018 / 06:25 / Foto: Freud / 50 / Seite ausdrucken

Die Herrschaft des Unrechts frisst ihre Kinder

Seit Mitte April 2018 beschäftigt in Deutschland der sogenannte Asylskandal in wachsendem Umfang Politik, Medien und Bürger. Schon seit längerer Zeit, so der Verdacht, wurden in der Außenstelle Bremen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asylbescheide unrechtmäßig ausgestellt. Daran sollen die frühere Leiterin der Außenstelle, aber auch bestimmte Anwälte beteiligt gewesen sein. Es soll auch Geld geflossen sein, es ist also Korruption im Spiel.

Dass etwas nicht in Ordnung war, fiel im benachbarten Niedersachsen auf, und ein Brief des niedersächsischen Innenministers Pistorius brachte die öffentliche Debatte schließlich ins Rollen. 18.000 Asylentscheidungen sollen betroffen sein. Im BAMF waren die Probleme schon länger bekannt. Eine frühere Leiterin der Außenstelle war schon 2016 abgelöst worden, und im Februar 2017 empfahl ein Abteilungsleiter des BAMF schriftlich, bei der Aufklärung Vorsicht walten zu lassen, um das Image des BAMF nicht zu beschädigen.

Das BAMF und seine Außenstellen unterstehen dem Bundesinnenminister. Der heißt seit dem 14. März Horst Seehofer. Am 6. April besuchte er das BAMF und lobte dessen Arbeit. Die Leiterin Julia Cordt sagte ihm offenbar nichts von den Skandal-Vorgängen in Bremen, und die neue Leiterin der Bremer Außenstelle, die den Minister informieren wollte, kam an ihn nicht ran. Ihre Brandbriefe blieben bei einem seiner sieben Staatssekretäre stecken. Schließlich wurde sie nach Bayern versetzt, damit sie den Verwaltungsablauf nicht weiter störte.

Ein Abgrund des Versagens

So blieb der frischgebackene Minister wochenlang über den anderthalb Jahre alten Skandal in seinem wichtigsten Aufgabengebiet uninformiert. Aber auch sonst ist immer noch unklar, wer wann was wusste und wie groß der Skandal eigentlich ist.

Zu einem Abgrund des Versagens wird der Skandal erst, wenn man ihn in einen größeren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stellt: Schon traditionell galt das BAMF als schlecht ausgestattet und mit Funktionsmängeln behaftet. Als Angela Merkel Anfang September 2015 die Grenzen öffnete und der damalige Innenminister Thomas de Maizière die Weisung gab, niemanden an der Grenze abzuweisen und jeden ins Land zu lassen, der das Wort Asyl aussprach, dauerte es nur wenige Tage bis zum administrativen Zusammenbruch des Amtes. Der damalige Präsident des Bundesamtes wurde krank und ist seitdem aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Behörde wurde dem Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit unterstellt, und dieser berichtete hinfort an Peter Altmaier, den Kanzleramtsminister und Merkel-Vertrauten. Innenminister de Maizière war kaltgestellt.

Horst Seehofer bestellte beim Verfassungsrechtler Udo di Fabio ein Gutachten, wonach die Grenzöffnung unrechtmäßig war, und beklagte im Februar 2016 in Bezug auf Angela Merkels Flüchtlingspolitik "eine Herrschaft des Unrechts." Zwei Jahre später, mittlerweile arg gerupft und in Bayern entmachtet, trat er in Berlin die Nachfolge des glücklosen Thomas de Maizière an und wurde selber Bundesinnenminister. Nun hatte er die Chance, die "Herrschaft des Unrechts" zu beseitigen und den Missbrauch des Asylrechts einzuschränken.

Genau besehen, war sein Amtsvorgänger übrigens so glücklos nicht, mindestens mit seiner Ablösung im Zuge des Regierungswechsels hatte er Glück. Der Asylskandal entstand in seiner Amtszeit, ohne dass jemand davon wusste. Als Amtsinhaber wäre er jetzt nicht mehr haltbar.

Massenhaften Asylbetrug gab es schon länger

Gegenwärtig ist noch offen, ob Seehofer seinen Umgang mit dem Skandal politisch überlebt: Es ist ja schon lange bekannt, dass es nach der Öffnung der Grenzen massenhaften Asylbetrug gab. Menschen ohne Ausweis behaupteten, kriegsverfolgte Syrer zu sein, und niemand konnte ihnen das Gegenteil beweisen. Die Ämter waren dreistesten Betrügereien wehrlos ausgeliefert. Oft hatte man aber auch den Eindruck, dass sie sich gar nicht weiter wehrten.

Wie soll man aber auch einem einfachen Mitarbeiter vor Ort vermitteln, dass es einerseits die Moral und die Willkommenskultur erforderlich machen, möglichst viele fremde Menschen ungeprüft nach Deutschland zu lassen, anderseits aber er, der Mitarbeiter, durch rechtsfehlerfreie Bescheide den Anschein von Recht und Ordnung erwecken solle. Wenn sie genau nachdenken, müssen sich die Mitarbeiter vorkommen wie in einer zynischen Scharade. Ist es da nicht lässlich, ein Auge zuzudrücken und ein bisschen die Hand aufzuhalten, wenn man so Menschen in Not hilft, im ersehnten Deutschland zu bleiben?

Wo hört das Recht auf und fängt das Unrecht an? Wenn eine Bundeskanzlerin und ein Bundesinnenminister die Anwendung des Asylparagraphen im Grundgesetz außer Kraft setzen, wenn der Bundestag dies nicht missbilligt, wenn kaum einer von denen, die zu Unrecht in Deutschland sind, je wieder abgeschoben wird, wer wird sich dann darüber erregen, dass einige tausend Asylbewerber in Bremen einen Asylbescheid statt einer Abschiebeverfügung erhielten, wenn sie doch wegen der Vollzugsdefizite der deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik sowieso im Lande bleiben?

Seehofer muss die Problematik von Asyl und Einwanderung ganzheitlich lösen, andernfalls wird er scheitern. Aber dazu fehlen ihm offenbar die geistige Spannkraft und der politische Mut.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Weltwoche

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Leserpost

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Michael Hinz / 12.06.2018

Ein Amt mit tausenden von Mitarbeitern und Milliardenkosten ein einziges potemkinsches Dorf. Zumindest von der Größenordnung werden die schlimmsten Zustände des real existierenden Sozialismus übertroffen. Kein Zweifel aber: das Ende dieser Gesellschaft naht mit Riesenschritten und es wird nicht bürgerlich sein.

Peter Sticherling / 12.06.2018

Nicht nur Seehofer, sondern allen Politikern aller Parteien, besonders aber Merkel selbst fehlen die geistige Spannkraft und der politische Mut. Die politischen Entscheidungsträger sind sämtlich Fehl am Platz.

Christian Genz / 12.06.2018

Selbst wenn der Bescheid negativ ist, wird nicht abgeschoben. So recht der Autor hat, die Scharade geht ja noch weiter, wenn die abgelehnten Asylbewerber im Land bleiben.  Insofern ist es schnuppe, ob der Bescheid positiv oder negativ ist. Die bleiben einfach hier.  Alles andere würde ja zu “schlimmen Bildern” führen. Und wenn unsere größte Kanzlerin aller Zeiten eines nicht mag, dann sind es schlimme Bilder.

Dr. Roland Stiehler / 12.06.2018

Vielen Dank für die wiederum klaren Worte. Alles Wesentliche, was sie vorausgesehen haben,  ist bisher eingetreten. Schreiben Sie weiter solche hilfreichen Analysen,  vor allem solche für Merkel und seinen Stab nicht hilfreichen Analysen. Ihre Rehabilitierung ist in vollem Gange. Die SPD bleibt ohne Sie nur marginal.  Die Wahrheit setzt sich immer erst nach vielen Opfern durch. Sie sind ein wahrhaft aufrechter Deutscher und Europäer.

Herwig Mankovsky / 12.06.2018

Was ist das für ein Gefühl, von Verbrechern regiert zu werden, die WISSENTLICH von 87% gewählt wurden?

Dr. Karl Wolf / 12.06.2018

Seehofer ist mal wieder als Tiger gesprungen und wird wieder als Bettvorleger enden.

beat schaller / 12.06.2018

Herr Sarrazin, Sie bringen es wieder auf den Punkt. Sie bringen aber einmal mehr auch die ” politische Verantwortung” auf den Punkt. Diese hat natürlich nichts mit unternehmerischer oder menschlicher Verantwortung zu tun, denn sie hat schlicht keine Konsequenzen. Die ganzen Verfehlungen mit all den Opfern und Toten auf einen solchen, schlussendlich nur administrativen Nenner zu reduzieren ist für mich nur dekadent und dafür nimmt Merkel bei Anne Will noch die Verantwortung.  Aufgrund solcher, heute bekannter Tatsachen, müsste jeder Unternehmer, jeder Normalbürger mit Hausdurchsuchung und U-Haft rechnen. Warum ist das in der Politik nicht möglich. Warum kann man noch allen Ernstes darüber diskutieren, ob es einen Untersuchungsausschuss geben soll? Warum sollten Beamte die Bestechungsgelder angenommen oder kriminelle Handlungen gemacht haben, anders als die steuer zahlenden Bürger behandelt werden? DAS ALLES STINKT ZUM HIMMEL UND ES IST NICHT MEHR NACH ZU VOLLZIEHEN.  Danke Herr Sarrazin. b.schaller

Fritz Kolb / 12.06.2018

Mir fällt dieser Tage wieder das Wahlplakat der bayerischen AfD im letzten Bundestagswahlkampf ein: „Wer CSU wählt, bekommt Merkel“. Das bekommt inhaltlich nach der gestrigen Präsentationsabsage des Migrations-Masterplans neue Bedeutung. Die Kanzlerin pfeift ihren Innenminister zurück, weil der doch tatsächlich Menschen ohne Pass an der Grenze abweisen wollte. Sie will, so bei Showmasterin Anne Will, eine europäische und keine nationale Lösung der Asylproblematik (vulgo: also auch des Asylbetrugs via BAMF). Also keine Lösung in absehbarer Zeit. Die „Herrschaft des Unrechts“, wie einmal von Seehofer in einem mutigen Moment gesagt, dauert jetzt immerhin schon fast 3 Jahre. Wer glaubt, eine Lösung im Interesse der Deutschen wäre im Rahmen der EU-Länderchefs machbar, der glaubt auch noch an den Osterhasen. Ich sehe vor meinem geistigen Auge die CSU bei den anstehenden Landtagswahlen mit weniger als 40% ihre absolute Mehrheit deutlich verlieren, wirtschaftlich und auch sicherheitstechnisch für Bayern ein Fiasko. Und das, weil die männlichen Politikdarsteller von der Kanzlerin samt und sonders kastriert wurden. Ein Trauerspiel.

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