Rainer Grell / 12.10.2016 / 16:36 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 11 / Seite ausdrucken

Kann die alte Zeit überhaupt gut sein?

Kürzlich las ich irgendwo, die Welt sei aus den Fugen geraten. Klar, wenn man sich umsieht, kann man zu diesem Schluss kommen: Weltweit über 60 Millionen Menschen auf der Flucht, davon allein gut 11 Millionen aufgrund des „Bürgerkriegs“ in Syrien, der bisher rund 500.000 Menschen das Leben gekostet hat (2010 lag die Lebenserwartung in Syrien noch bei 70 Jahren, bis 2015 ist sie auf 55 Jahre gefallen); wenn meine Enkelkinder mitten im Leben stehen, sagen wir 2050, wird die Weltbevölkerung von heute rund 7,3 Milliarden Menschen auf voraussichtlich knapp 10 Milliarden gewachsen sein. Wie sollen die alle ernährt werden? Und so weiter und so fort.

Doch im Dreißigjährigen Krieg, der halb Europa entvölkerte, war die Welt auch aus den Fugen. Und der Zweite Weltkrieg hinterließ so viele Tote wie wir heute Flüchtlinge zählen. Wer sich die Bilder von Danzig, Dresden oder Köln im Mai 1945 ansieht kann sich kaum vorstellen, dass daraus je wieder „blühende Landschaften“ werden würden. Die Zahl der Ereignisse, die die Welt aus den Fugen warfen, ist lang. Und dann dieser Satz, der unter meinen Lieblingszitaten einen Spitzenplatz einnimmt, wobei mir egal ist, ob er von Ernest Hemingway oder John Steinbeck stammt: „Das Merkwürdigste an der Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass man unsere Zeit einmal die gute alte Zeit nennen wird.“

Seit Jahren grüble ich, warum wir von der guten alten Zeit reden. Ach, was sag ich „wir“, alle tun es. Auch die Eskimos und die Buschmänner? Wer weiß. Und was wir damit meinen? Und wann sie begann und wann sie endete? Klar scheint zu sein, niemand hat sie erlebt, sonst wäre sie nicht alt. Also muss sie, rund gesagt, mindestens 100 Jahre her sein. Dann würde sie aus heutiger Sicht so um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert enden. Aber wann hätte sie begonnen? Schon zu Christi Geburt? Oder noch früher? Je älter desto besser? Und wann war aus der Sicht meines Opas, der 1885 geboren wurde, die gute alte Zeit? 

Kann eine Zeit, in der die Pest ganze Landstriche entvölkerte, überhaupt gut sein?

Fragen über Fragen. So kommen wir nicht weiter. Versuchen wir es mal anders rum. Kann eine Zeit, in der Menschen verhungert oder an harmlosen Krankheiten gestorben sind, überhaupt gut sein? Kann eine Zeit, in der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war, überhaupt gut sein? Kann eine Zeit, in der eine Seuche wie die Pest ganze Landstriche entvölkerte, überhaupt gut sein? Kann eine Zeit, in der Leibeigenschaft und fürstliche Willkür herrschten, überhaupt gut sein? Mit anderen Worten: Kann die alte Zeit überhaupt gut sein?

Was würden die Menschen der alten Zeit wohl gesagt haben, wenn sie den Satz von Hemingway (oder Steinbeck) gehört hätten? Der spinnt doch, der Mann. Mein erstes Kind ist gleich nach der Geburt gestorben, meine Frau bei der Geburt des dritten Kindes. Von meinen zehn Kindern hat nur eines das zehnte Lebensjahr überlebt. Die Söhne meines Bruders sind alle im Krieg gefallen, so dass er im Alter niemand hatte, der ihn versorgen konnte. Die Häuser in unserer Straße sind innerhalb von zwanzig Jahren dreimal abgebrannt. Und es gab weder eine Versicherung noch einen Staat, die geholfen hätten.

Das könnte ich gerade so fortsetzen. Aber Sie wissen schon, was gemeint ist. Doch halt, wendet da jemand ein: Es war nicht so laut wie heute. Die vielen Motoren und Maschinen, die uns heute Tag und Nacht voll dröhnen, die gab es einfach nicht (von der „Musik“, die aus allen Ecken quillt, nicht zu reden). Nun ja, wenn ein eisenbeschlagener Leiterwagen über das Kopfsteinpflaster fuhr, war das nicht gerade einschläfernd. Aber sei’s drum. Sicher fuhren damals – wann auch immer – weniger Leiterwagen als heute Autos. Auch war der Lärmpegel wohl insgesamt niedriger. Doch wer wollte den Preis dafür heute noch bezahlen, wo wir doch schon ab ein paar hundert Metern mit dem Auto zum Einkaufen fahren. Und Urlaub auf Mallorca, in Thailand oder Südafrika wäre ohne Flugzeug natürlich auch nicht drin. Ganz abgesehen davon, dass Urlaub und Freizeit in der „guten alten Zeit“ ohnehin völlig unbekannt waren.

Wir spielen alle gerne Pippi Langstrumpf

Warum, zum Teufel, bestehen wir dann trotzdem mit geradezu unerbittlicher Hartnäckigkeit darauf, dass die alte Zeit gut war? Die Antwort ist vermutlich: Wir spielen alle gerne Pippi Langstrumpf und machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Wir wären in der alten Zeit natürlich nicht arme Tagelöhner oder gar leibeigene Bauern gewesen, sondern Adelige mit Schloss und Personal, mit opulenter Küche und gut gefülltem Weinkeller und allem Luxus, den man damals kannte. Uns stören ja nicht das eigene Auto und der eigene Rasenmäher, sondern nur, dass alle anderen ebenfalls über diese Lärmquellen verfügen. Die Autobahn wäre eine prima Sache, wenn nicht alle anderen auch darauf führen. Und das Gleiche gilt für überfüllte Wartezimmer und lange Schlangen an der Supermarktkasse. Es gibt einfach zu viele andere. Und die müssen ausgerechnet immer das tun, was wir auch gerade machen.

Natürlich möchte heute niemand mehr auf Auto, Flugzeug, Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine, Spülmaschine, Mikrowelle, Staubsauger, Telefon, Computer und wer weiß was alles verzichten, weil jeder davon ja äußerst vernünftig und verantwortungsvoll Gebrauch macht. Nur die andern juckeln sinnlos durch die Gegend, führen völlig überflüssige Telefonate und sehen geistlose Sendungen. Ich schaue Krimis, sagte mir mal jemand (ein Jurist), weil sie das logische Denken schulen. Auf so eine Idee muss man erst mal kommen.

Also, damit das ganz klar und über jeden Zweifel erhaben ist: Für mich war die alte Zeit, und zwar egal welche, nur alt, aber niemals gut. Ich fühle mich zwar in der Gegenwart (siehe oben) hin und wieder auch nicht wohl. Aber erstens kann man sich nicht pausenlos wohl fühlen und zweitens muss man dann daran arbeiten, dass sich das ändert. Veränderungen sind aber offenbar gerade dass, was viele Menschen am meisten fürchten. Und das erscheint wohl jenen, die von der guten alten Zeit schwärmen, als das Entscheidende: dass sich über lange Zeit kaum etwas änderte. Sicher, es ist schade, wenn etwas Gutes vorbei geht. Aber einmal kann es ja noch besser werden und zum zweiten geht auch das Schlechte irgendwann vorbei. Und das ist doch tröstlich oder?

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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Rudi Knoth / 14.10.2016

Ja die “gute alte Zeit”. Im Intro zum “Königlich Bayrischen Amtsgericht” wurde von dieser Zeit auch geschwärmt. Diese Zeit (1900-1914) wurde auch “Belle Epoche” genannt. Sicher war auch diee Zeit nur in einigen Apekten wie wissenschaftlicher und technischer Fortschritt besser als etwa die Zeiten danach. Generel und in jeder Beziehung ist die alte Zeit nicht immer gut. Auch wird im Alter die Zeit, in der man jung war, für besser als die Gegenwart gehalten. Für den Mann mit dem Geburtsjahr 1885 war die Zeit der Weimarer Republik schlechter als die Kaiserzeit, weil er in dieser Zeit seine Kindheit und Jugend verbracht hat.

André Rech / 13.10.2016

Wie sagte dereinst schon Peter Bamm: die einzige Eleterngeneration, die mit dem Satz “Früher war alles besser” eventuell rechtgehabt haben könnten, waren Adam und Eva. Beste Grüße André Rech

Torsten P.Neumann / 13.10.2016

Erstens fürchten Menschen keine Veränderungen, sondern nur Verschlechterungen. (Im Falle Deutschlands eine islamische Massenimmigration, die Staat und Gesellschaft dauerhaft verschlechtert). Zweitens geht das Schlechte keineswegs irgendwann vorbei. Wer´s nicht glaubt, fragt einfach mal die ägyptischen Kopten, oder eigentlich jede religiöse Minderheit unter dem Islam.

Ernst-Fr. Siebert / 13.10.2016

Lieber Herr Grell, Sie haben vergessen Gutes aus der Schlechten Alten Zeit zu erwähnen. Oder wird das ein zweiter Artikel zu dem Thema? Konservativ sein, heißt, die Glut und nicht die Asche zu bewahren. (Ist nicht von mir. ;-) )

Wolfgang Richter / 13.10.2016

Wenn hier als Beispiele für die doch nicht so gute alte Zeit der 30jährige Krieg und der WK II angeführt werden, so fällt mir immer wieder auf, daß bei solchen Hinweisen politisch korrekt z. B. auf die Verheerungen für Europa seitens der nach der französischen Revolution durch ziehenden napoleonischen Heere verzichtet wird. Waren die von denen hinterlassenen Toten zu vernachlässigende Kollateralschäden einer an sich guten Idee, die in der Folge auch die eine oder andere begrüßenswerte Reform in den betroffenen Ländern nach sich zog oder möchte man nur nicht Gefahr laufen, daß heute freundschaftliche Verhältnis zum nachbarn Frankreich zu belasten ? Da bleibt man dann doch besser bei Beispielen, die deutsche Schuld und Schuldige im Bewußtsein halten.

Karl Eduard / 13.10.2016

Werter Herr Grell, niemand spricht mehr von guter, alter Zeit. Von den Überlebenden des 30jährigen Krieges ist das nicht überliefert und von den Großeltern habe ich das auch nicht gehört, die, die den II. Weltkrieg überlebten.  Wohl spricht man aber davon, daß es früher besser war. Dann meint man das Bessere im Früher. Im Vergleich zur Gegenwart. Nicht, daß die Zeit insgesamt besser war.  Wenn sie insgesamt als besser wahrgenommen wird, dann, weil der Wahrnehmende jung war und das Alter die Erinnerung verklärt. Aber nehmen wir mal die ganze elektronische Spielerei. Jedermann kann heute nach China surfen und Whatsappen,  aber die Kinder lernen weder die Grundrechenarten, noch das Lesen und Schreiben. In Deutschland Die Mütter schlurfen hinter dem Kinderwagen her und unterhalten sich mit dem Smartphone, statt mit dem Kind. Der ganze Fortschritt hat also Schattenseiten und man muß sich fragen, ist er das wert, daß die Jugend verblödet, die doch den technischen Fortschritt bewahren soll, es aber nicht mehr können wird, und die Kinder unbeachtet vor dem TV geparkt werden? War es in dieser Hinsicht früher besser? Eindeutig ja. Können wir ohne den elektronischen Schnickschnack und Flugreisen nach NY überleben? Ja. Ohne Ingenieure? Nein. Nach dem Ende des Erdöls wird es ein gewaltiges Geräusch aus Deutschland geben. Das wird das Heulen und Zähneklappern derer sein, denen bewußt wird, daß “Knöpfchendrücken” auf dem Tablet oder Smartphone die Teller nicht füllt. Mit freundlichen Grüßen

Lars Bäcker / 13.10.2016

Wen man aber irgendwann merkt, dass man gegen Windmühlen kämpft, man also gegen das, was sich da gerade zusammenbraut, machtlos ist (machen wir uns nichts vor, egal wen wir wählen, wir tauschen am Ende nur den Piloten aus, der den Flieger in Richtung Felswand steuert), dann erinnert man sich halt gerne an frühere Zeiten zurück, in denen wir noch ein funktionierendes Staatswesen und eine ebensolche Gesellschaft hatten. Warum auch nicht. Nennen wir es “Flucht aus der Wirklichkeit”.

Andreas Arndt / 13.10.2016

Irgendwie habe ich das Gefühl, daß die gute alte Zeit gerade zu Ende geht. Anstehende Veränderungen zum Guten sehe ich nicht. Vielleicht irre ich mich?

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