Vor 80 Jahren erschien „Der Weg zur Knechtschaft“. Darin zeigt Hayek die Parallelen der kommunistischen und der nationalsozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft auf. Hayek ist aktueller denn je.
Die Vorhersehbarkeit staatlicher Handlungen bildet die wohl wesentlichste Perspektive für Hayeks Betrachtung der rechtstheoretischen Dimension einer staatlichen Planwirtschaft: „In keinem Punkt unterscheiden sich die Verhältnisse in einem freien Land von denen in einem willkürlich regierten deutlicher als darin, dass man sich in dem ersteren an jene Grundsätze hält, die wir unter dem Begriff des Rechtsstaates zusammenfassen. Er besagt, dass die Regierung in allen ihren Handlungen an Normen gebunden ist, die im Voraus festgelegt und bekanntgegeben sind.“
In rechtlicher Hinsicht bezeichnet der Unterschied zwischen privater Wirtschaftsfreiheit und staatlicher Wirtschaftslenkung also letztlich nur einen Sonderfall der Differenz zwischen Rechtsstaat und Willkürherrschaft. Um selbst flexibel zu bleiben, muss eine staatliche Wirtschaftsbehörde von der Bindung an Gesetze freigestellt werden. Damit erscheint eine rechtsstaatliche Gesellschaft mit allgemein gültigen Regeln hier und eine planwirtschaftliche mit stets überraschend neuen behördlichen Entscheidungen dort wie der Blick zwei Welten, in denen hier allgemeingültige Verkehrsschilder für jedermann aufgestellt sind und dort ein Polizist agiert, der seine ordnenden Weisungen unvorhersehbar, von Fall zu Fall vornimmt.
Gleichsam im Vorbeigehen nimmt Hayek in diesem Kontext einen weiteren zentralen Gedanken vorweg, für den – bis heute – die Rechtstheorie von John Rawls [1921-2002] gefeiert wird: „Gerade der Umstand, dass wir die konkrete Wirkung der Normen nicht kennen, ist das wichtigste Kennzeichen jener Normen, die wir als formale Rechtsnormen bezeichnen.“
Ein weiterer fataler Nebeneffekt von Rahmenumstände
Sodann beschreibt Hayek den eigenwilligen kontraintuitiven Effekt, der schon seine Darstellung der angeblichen Zwangsläufigkeit von Planwirtschaft wesentlich geprägt hatte: Ein Weniger an Wissen über die Zukunft ist einer Gesellschaft dienlicher als die staatliche Anmaßung, künftiges Wissen durch den erzwungenen Eintritt künftiger Szenarien als definitiv zu gestalten: „Unserer Zeit, die sich für die bewusste Lenkung von allem und jedem begeistert, mag es paradox erscheinen, wenn wir es als einen Vorzug bezeichnen, dass wir über die individuellen Wirkungen von Staatsmaßnahmen weniger wissen. Doch liegt gerade hier die tiefere Begründung des großen liberalen Prinzips des Rechtsstaates. Das, was als paradox erscheint, leuchtet sofort ein, wenn wir noch eine weitere Erwägung anstellen.“
Diese weitere Erwägung beleuchtet – nun unter rechtstheoretischem Blickwinkel – wiederum einen Gedanken aus dem vorangegangenen Kapitel; nämlich den, dass Demokratie nur um den Preis zu verteidigen sei, dass alleine solche Gebiete der bewussten Lenkung unterworfen werden, auf denen eine wirkliche Übereinstimmung der Bürger über ihre Ziele besteht. Für die konkrete Gesetzestechnik und -arbeit bedeutet dies: „Der Staat sollte sich auf die Setzung von Normen beschränken, die sich auf allgemeine typische Situationen beziehen.“ Denn nur unter dieser Voraussetzung wird staatliches Handeln in der Zukunft überhaupt vorhersehbar und also auch berechenbar. Gänzlich anders liegen die Dinge in einer willkürlichen Planwirtschaft. Dort lenkt der Staat die Individuen jeweils flexibel nach eigenem Gusto, um konkrete eigene Ziele zu erreichen. Sein Handeln wird dadurch für die Betroffenen aber unvorhersehbar und unübersichtlich. Und genau das bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Bürger: „Daraus erklärt sich die bekannte Tatsache, dass, je mehr der Staat ‚plant‘, das Planen für den Einzelnen umso schwieriger wird.“
Ein weiterer fataler Nebeneffekt von Rahmenumständen, die diese staatliche Flexibilität benötigen und ermöglichen, liegt ganz wesentlich im Verlust der Neutralität staatlichen Handelns: „In einer Welt, in der alles genau im Voraus bestimmt sein soll, kann der Staat kaum irgendetwas tun, ohne seine Unparteilichkeit zu verlieren. Der Staat ist dann nicht mehr eine Art [neutrale] Maschinerie, die auf [allgemein-abstrakten] Zweckmäßigkeitserwägungen beruht und der den Individuen eine Hilfe zur vollsten Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit sein soll, sondern er wird jetzt eine ‚moralische‘ Anstalt, die ihre eigenen Ansichten über alle Fragen der [guten] Moral [und ihrer Verwirklichung] den Staatsbürgern aufzwingt.“
„Sozialisierung des Rechts“
Da dort nun alle Produktivitätskräfte einer einzelnen Planungsstelle zugewiesen sind, muss auch diese einzelne Stelle „zwischen höheren Löhnen für Pflegerinnen und Ärzte oder ausgedehnter Krankenfürsorge, zwischen mehr Milch für Kinder oder höheren Löhnen für Landarbeiter“ und allen anderen möglichen Wertpräferenzen wählen. Mit diesen ausufernden behördlichen Abwägungsentscheidungen dehnt sich also der Bereich aus, in dem der Staat mit seinem eigenen Koordinatensystem vorgibt, was ‚angemessen‘ und was ‚vernünftig‘ ist. Der Gummiparagraf in den Händen der Politik wird so zum Totengräberspaten für den Rechtsstaat: „Man könnte eine Geschichte des Unterganges des Rechtsstaates unter dem Gesichtspunkt des zunehmenden Eindringens dieser Kautschukparagraphen in Gesetzgebung und Rechtsprechung schreiben.“ Recht und Rechtspflege werden „zu einem bloßen Instrument der Politik“.
Dies bleibt natürlich auch nicht ohne fundamentale rechtstheoretische Auswirkungen: „Der Rechtsstaat in dem Sinne der Herrschaft der formalen Rechtsnormen, die keine gesetzlichen Vorrechte für bestimmte von der Regierung ausgewählte Einzelpersonen kennt, sichert jene Gleichheit vor dem Gesetz, die das Gegenteil von Willkürherrschaft ist.“ Im Umkehrschluss gilt: Ohne solchen formalen Rechtsnormen (mit der Gleichheit vor dem Gesetz) droht die Herrschaft des instrumentalisierten Rechtes zu einem Willkürapparat zu mutieren.
Hayek weist darauf hin, dass alle Sozialisten – einschließlich der Nationalsozialisten – von jeher gegen eine solche, klare formale Gerechtigkeit agitiert und stattdessen eine „Sozialisierung des Rechts“ angestrebt haben. Dieser rechtstheoretischen Abirrung gilt erkennbar auch die von Hayek dem gesamten Kapitel prominent vorangestellte Zitierung Karl Mannheims. Dessen Auffassung zufolge müsse das Grundprinzip des formalen Rechtes, Rechtsfälle nach allgemein logischen Kriterien gleich zu beurteilen, mit dem liberalen „Konkurrenzkapitalismus“ am besten ganz beseitigt werden.
Die grundlegende Schwierigkeit des Rechtspositivismus
Die bedrückende Vorstellung, dass es für die Machtbefugnisse eines Gesetzgebers keine Grenzen gebe, ist in der Analyse Hayeks „ein Ergebnis der Lehre von der Volkssouveränität und des Demokratismus.“ Hierin liegt die grundlegende Schwierigkeit des Rechtspositivismus: „Ein Regierungsakt kann juristisch legal sein und doch dem Rechtsstaat widersprechen. Wenn das Gesetz sagt, dass diese oder jene Behörde nach Belieben handeln darf, so ist alles, was diese Behörde tut, legal, aber ihre Akte entsprechen sicherlich nicht mehr dem Prinzip des Rechtsstaates. Das Prinzip des Rechtsstaates ist daher gleichbedeutend mit einer Einschränkung des Bereichs der Gesetzgebung.“
Hayek gründet seine dahingehende Rechtsphilosophie gleichermaßen auf Kant und Voltaire, die er beide mit dem Gedanken zitiert: „Der Mensch ist frei, wenn er keiner Person, sondern nur den Gesetzen zu gehorchen braucht.“ Wie wenig die Freunde staatlicher Wirtschaftsplanung diese inhärenten Widersprüchlichkeiten zwischen einerseits individuellen Rechten und andererseits gesamtökonomischen Planungszwängen verstanden haben, illustriert Hayek am Beispiel von Herbert George Wells (1866-1946): „Dass ein führender Verfechter der vollständigen Zentralplanung wie H. G. Wells gleichzeitig eine glühende Verteidigung der Menschenrechte verfasst, ist rührend, aber charakteristisch für die geistige Verwirrung, in die so viele unserer Intellektuellen geführt worden sind. Wie in einer planwirtschaftlichen Welt die Reise- und Wanderfreiheit gesichert werden soll, wenn nicht nur die Verkehrsmittel und Währungen der Zwangswirtschaft unterliegen, sondern auch der Standort der Industrien kommandiert wird, oder wie die Pressefreiheit gewahrt werden soll, wenn die Papierbelieferung und der Vertriebsapparat in der Hand der Planbehörde liegen, das alles sind Fragen, die H. G. Wells so wenig wie irgendein anderer Planwirtschaftlicher beantwortet.“
Überträgt man diese Betrachtung Hayeks über Währungen und Pressefreiheit auf die inzwischen diskutierten Phänomene einer Digitalwährung aus der einheitlichen Hand einer Zentralbank und auf staatliche Befugnisse, journalistische Arbeit zu zensieren, wird deutlich, welche planwirtschaftlichen Angriffe auf die überkommenen Menschenrechte aktuell zur Debatte stehen.
Den ersten Teil dieser Serie finden Sie hier:
Die große Serie: Hayeks Warnung vor der Knechtschaft (1)
Den zweiten Teil dieser Serie finden Sie hier:
Die große Serie: Der verlassene Weg (2)
Den dritten Teil dieser Serie finden Sie hier:
Die Hayek-Serie: Die große Illusion (3)
Den vierten Teil dieser Serie finden Sie hier:
Die große Hayek-Serie: Individualismus und Kollektivismus (4)
Den fünften Teil dieser Serie finden Sie hier:
Die große Hayek-Serie: Zwangsläufigkeit der Planwirtschaft? (5)
Den sechsten Teil dieser Serie finden Sie hier:
Die große Hayek-Serie: Planwirtschaft und Demokratie (6)
Carlos Alexander Gebauer, geb. 1964 in Düsseldorf, ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht und Publizist. Er wurde als Darsteller der seit 2002 ausgestrahlten RTL-Gerichtssendung „Das Strafgericht“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im Juni 2015 wählte ihn die Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft zu ihrem Stellvertretenden Vorsitzenden.
Buchhinweis: Die komplette Serie von Carlos Gebauer liegt auch in Buchform vor. Sie können Sie hier im Achgut.com-Shop bestellen. Hayeks Warnung vor der Knechtschaft – Eine kommentierte Einführung in das Jahrhundertbuch „The Road to Serfdom“ 80 Jahre nach seiner Erstausgabe, 16,90 Euro, Lichtschlag-Verlag