Von Okko tom Brok.
Karl Barth stellte mit seinem Römerbrief-Kommentar von 1922 zunächst die christliche Theologie und Kirche auf den Kopf.
Kann ein Einzelner eine Epoche zum Einsturz bringen? Vermutlich nicht. Schon Bert Brecht wusste, dass die Großen dieser Welt wie etwa der karthagische Feldherr Hannibal „wenigstens einen Koch dabei“ hatten. Und doch scheint es immer wieder herausragende Individuen zu geben, deren geistige und sprachliche Kraft so gewaltig ist, dass sie ein bereits morsch gewordenes Zeitalter durch ihre Fragen und unbequemen Erkenntnisse in der Tiefe erschüttern können.
Ein solcher „einsamer Rufer“ war der schweizerische Theologe Karl Barth (1886-1968), dessen Wirksamkeit als zunächst vollkommen unbedeutender evangelisch-reformierter Gemeindepfarrer im beschaulichen Safenwil im schweizerischen Kanton Aargau begann.
Dort verfasste er von 1918 bis 1921 mehrere Ausgaben eines theologischen Kommentars zum Römerbrief des Apostels Paulus, die ihn weltberühmt machten. Dieses wie im Rausch geschriebene Werk ist nicht nur ein theologisches Meisterwerk, sondern gilt auch sprachlich als besonders eindrucksvolles Zeugnis expressionistischer Literatur.
Das Ende des Kulturprotestantismus
Um Karl Barths überragende kulturgeschichtliche Bedeutung zu verstehen, müssen wir uns gedanklich in die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg zurückversetzen. Barth lebte in einer Zeit, in der die Theologie vom Geist des 19. Jahrhunderts geprägt war: Liberalismus, Fortschrittsglaube und die Überzeugung, dass sich Gott im menschlichen Streben nach Kultur und Moral offenbare. Der Mensch und Gott – eine harmonische Einheit, die Hand in Hand den Lauf der Geschichte gestaltet. Diese optimistische Weltanschauung, die Gott vor allem als einen übergroßen Moralisten verstand, wirkte beruhigend und inspirierend zugleich.
Doch mit der „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs kam diese harmonische Fassade brutal zum Einsturz. Die Schützengräben Europas mit ihren zuvor ungekannten Vernichtungsschlachten zeigten eine Realität, die weder kulturelle Größe noch moralischer Fortschritt erklären konnten.
Barth, damals ein junger Pfarrer im verträumten schweizerischen Safenwil, erkannte, dass die Theologie keine Antworten auf die existenziellen Fragen der Zeit mehr lieferte. Der liberale Protestantismus hatte die göttliche Transzendenz zugunsten eines herbeiphantasierten moralischen Fortschritts der Menschheit verloren – und genau da setzte Barths Kritik an.
Der Römerbrief: Der Weckruf eines Querdenkers
In diese Zeit hinein veröffentlichte Barth 1919 und 1922 seinen Kommentar zum Römerbrief. Die Wirkung war wie ein Donnerschlag. Barth legte den Fokus auf die radikale Andersartigkeit Gottes, der weder in menschlichen Systemen noch im kulturellen Fortschritt aufzugehen bereit sei. „Wenn ich ein „System“ habe“, schrieb er, „so besteht es darin, dass ich das, was Kierkegaard den „unendlichen qualitativen Unterschied“ von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte.“ (Vorwort zur 2. Auflage, 16f.). Mit diesen Sätzen stellte er sich gegen die vorherrschende Theologie seiner Zeit, die Gott allzu oft nur noch als eine Projektion menschlicher Werte und Sehnsüchte behandelte.
Barth warf damit das kulturprotestantische Paradigma über Bord, dass Gott ein Partner sei, der den Menschen in seinem Tun ergänzt. Für Barth ist Gott der souveräne Herr, der majestätisch („senkrecht von oben“) über der menschlichen Geschichte steht – und manchmal auch gegen sie auftritt. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist keine gemütliche Kumpanei, sondern eine Spannung, die sich nur durch die Gnade und Offenbarung Gottes auflösen lässt. Es ist die „permanente Krisis von Zeit und Ewigkeit“ (ebd., 18).
Seine dialektische Theologie war revolutionär: Gott begegnet uns im Nein zu menschlichem Hochmut und im Ja seiner rettenden Liebe in Jesus Christus. Dieses „Ja“ und „Nein“ – zugleich Zuspruch und Widerspruch – wurde zum Herzstück seines theologischen Denkens.
Vom Gemeindepfarrer zum Universitätstheologen
Die Veröffentlichung seines Römerbriefkommentars brachte ihm nicht nur akademischen Weltruhm, sondern ganz persönlich auch einen bemerkenswerten Karrieresprung ein, als ihn 1921 die altehrwürdige Georg-August-Universität zu Göttingen auf einen theologischen Lehrstuhl berief, obwohl dem krassen Außenseiter dazu alle formalen Voraussetzungen wie eine ordnungsgemäße Promotion und die Habilitation fehlten. Der Aufschrei des Entsetzens war dementsprechend groß. Doch welche Universität der damaligen Zeit wäre besser geeignet gewesen, um einen unbequemen Querdenker zu Wort kommen zu lassen, als eben jene Heimstätte der berühmten „Göttinger Sieben“, deren Widerstand gegen absolutistische Beschränkungen der Meinungs- und Lehrfreiheit knapp einhundert Jahre zuvor noch heute – retrospektiv – als Inbegriff von Zivilcourage verehrt wird, freilich leider ohne dass daraus Lehren für die Gegenwart gezogen würden.
Barth war kein „Querkopf“, der um des puren Widerspruchs willen quer dachte. Sein Ziel war es, die Theologie auf ihre wahre Grundlage zurückzuführen: das Wort Gottes, das uns in der Bibel begegnet. Er stellte nicht nur die Theologie seiner Zeit infrage, sondern auch unsere ewige Versuchung, Gott in unsere menschlichen Kategorien einzusperren. Nicht erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts kamen Menschen auf die abstruse Idee, Gott zum Sachwalter und ewigen Garanten der eigenen zeitbedingten Ideologien zu erklären; ein eklatanter Missbrauch der Religion und ein empörender Angriff auf die Majestät Gottes, wie Karl Barth in solchen Fällen zu sagen pflegte. Jedwede Inanspruchnahme der Autorität Gottes für rein irdische, noch dazu sehr private Belange wie etwa der Sexualität („Gott ist queer“) hätte der keineswegs prüde, selbst in einer hochumstrittenen Dreiecksbeziehung lebende Karl Barth entschieden zurückgewiesen. Zwar nicht „queer“, sehr wohl aber oft „quer“ zu unseren Wünschen und Vorstellungen verläuft Barth zufolge die Wirklichkeit Gottes, so dass diese in der Welt „nur als Widerspruch auftreten, aufgenommen und angenommen werden kann“ (Römerbrief, 62).
Und genau hierin liegt die zeitlose Bedeutung echten Querdenkertums: Es tritt auf, wenn ein System in sich selbst erstarrt und beginnt, seine eigene Legitimation zu zerstören. Barth erinnerte die Theologie daran, dass sie sich nicht auf die Errungenschaften der Menschheit stützen darf, sondern allein auf die Offenbarung der Liebe Gottes. Zugleich befreit Barths Theologie die Welt zu echter Weltlichkeit, die sich nicht mehr auf eine göttliche Legitimation stützen muss, sondern in eigener Verantwortung gemäß irdischen Notwendigkeiten zu handeln berufen ist.
„Theologie und nur Theologie treiben“
Wer meint, Barth habe es sich nun nach seiner Berufung an die theologische Fakultät zu Göttingen „gemütlich“ gemacht, irrt sich gewaltig. Es folgten zunächst weitere akademische Stationen in Münster (1925) und Bonn (1930), bevor er 1934 wegen der Verweigerung eines Diensteides auf Adolf Hitler suspendiert und 1935 mit einem Redeverbot belegt und in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Der Entzug des Beamtenstatus mit seinen existenzvernichtenden Konsequenzen wurde und wird in Deutschland leider immer wieder gerne als probates Mittel zur Einschüchterung kritischer Zeitgenossen eingesetzt.
Für nicht verbeamtete „Staatsfeinde“ griff zur Not der Tatbestand der „Majestätsbeleidigung“, der erschreckenderweise selbst noch im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland im Stillen als § 188 StGB unbemerkt vor sich hin schlummerte, bis er kürzlich wieder reaktiviert wurde und nun sogar noch verschärft werden soll.
In den frühen Jahren des 3. Reiches war Barth eine der treibenden Kräfte der kirchlichen Opposition gegen Hitler und wirkte federführend an der sog. „Barmer Theologischen Erklärung“ von 1934 mit ihrer scharfen Kritik am nationalsozialistischen „Führerkult“ mit. In ihr bekannten die Autoren, zu denen neben Karl Barth auch der Hamburger Pastor Hans Asmussen sowie der Münchner Oberkirchenrat Thomas Breit gehörten, dass die im 3. Reich in Gestalt der „Deutschen Christen“ (DC) praktizierte Form der Vermischung von Politik und Religion zutiefst unchristlich sei. Gegenüber jeder Form autoritär-totalitärer Vereinnahmung des christlichen Glaubens erklärten Barth und seine Mitstreiter: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ (These I)
Die wahren Freunde der Freiheit
Diese gelegentlich als theologischer „Exklusivismus“ bezeichnete Position ist kein Ausdruck bornierter Engstirnigkeit, sondern richtet sich primär gegen alle Versuche, geschichtliche oder politische Ereignisse unterschiedlichster Art in den Rang quasi-göttlicher „Offenbarungen“ zu rücken, wie es etwa im 3. Reich der Fall war. Exemplarisch möge dafür der schwärmerische Ausruf des Berliner DC-Pfarrers Hermann Grüner von 1934 gelten: „In Hitler ist die Zeit erfüllt für das Deutsche Volk, denn durch Hitler ist Christus, Gott, der Helfer und Erlöser, unter uns mächtig geworden. Darum ist der Nationalsozialismus positives Christentum der Tat. Hitler ist jetzt der Weg des Geistes und Willens Gottes zur Christuskirche deutscher Nation.“
Trotz seiner eher ungewollt politischen Wirksamkeit vertrat Karl Barth dennoch keine „politische Theologie“, wie sie heutige Kirchenleute oft empfehlen. Noch am 1. Juli 1933 schrieb Karl Barth einige Monate nach Hitlers Machtergreifung, man solle jetzt „Theologie und nur Theologie treiben“, von der er annahm, sie sei ein besonders geeignetes Instrument, um den gefährlichen Wahrheitsansprüchen der Nationalsozialisten in der Tiefe entgegen zu treten.
In einem seiner letzten Interviews fasste Karl Barth 1967 seine Sicht des Politischen als Christ und Theologe so zusammen: „Man muss vorsichtig sein, wenn man militärische Gleichnisse in solche Fragen hineinbringt, aber wenn es Fronten gibt, dann würde ich sagen, auf der einen Seite die Freunde, und auf der anderen Seite die mehr oder weniger bewussten und bösartigen Feinde der Freiheit.“ Nicht erst in unserer Zeit besteht allerdings die Schwierigkeit, die wahren Freunde der Freiheit von denen zu unterscheiden, deren Plädoyers für die Freiheit lediglich wie Lippenbekenntnisse erscheinen.
Die Kirche als selbstgenügsames „Wolkenkuckucksheim“
Das wahre Ziel von Karl Barths oft sehr scharfen theologischen Angriffen war aber weniger die Politik, als vielmehr die irrlichternde Theologie und selbstgenügsame Kirchlichkeit seiner Zeit – und aller Zeiten. Er polemisierte unermüdlich gegen eine Theologie, die sich in Beliebigkeit verlor, und gegen eine Kirche, die ihre Berufung zum prophetischen Zeugnis durch Anpassung und Mittelmäßigkeit preisgab. Wer bei diesen Worten auch an das traurige Erscheinungsbild der heutigen Kirchen in Deutschland denken muss, liegt nicht falsch: Eine Kirche, die sich in der Corona-Zeit ironischerweise nicht an der biblischen Jahreslosung von 2022 („Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ [Joh 6,37]) orientierte, sondern unter der Parole „2G“ Trennung, Furcht und Abschottung predigte, hätte Karl Barth unweigerlich auf den Plan gerufen. Sein Widerspruch wäre unmissverständlich gewesen: Die Kirche, so Barth, habe Trost zu spenden, Türen zu öffnen und Glaubensmut zu wecken – und nicht den Geist der Trennung zu befördern.
In seinem Spätwerk „Einführung in die evangelische Theologie“ von 1962, seiner letzten Vorlesungsreihe an der Universität Basel, warf Barth den Kirchen vor, „mit den Wölfen der jeweiligen Zeit“ zu heulen und dabei ihren Auftrag stets zuverlässig zu verfehlen. Denjenigen, die die Kirche de facto zu einer politischen „Religionsbehörde“ degradierten, entgegnete Barth, sie machten die Kirche zu einem Schiff, das trotz gesetzter Segel ohne Wind bewegungslos vor sich hindümpele: „Alle Segel sind gesetzt, aber kein Wind füllt sie, treibt das Schiff“ (ebd., 148). Den Kirchen fehle die Demut und die Furcht vor der „Prüfung von oben“. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese kirchenkritischen Worte im Jahr 2024 keine Gültigkeit mehr besäßen.
Karl Barth, der am 10. Dezember 1968 vor 56 Jahren verstarb, bleibt ein leuchtendes Beispiel dafür, warum Querdenker unverzichtbar sind: nicht, weil sie alles Bestehende umstürzen, sondern weil sie es unnachgiebig auf den Prüfstand stellen. Jede Epoche braucht jene Unbequemen, die den Mut besitzen, den Finger in die Wunde zu legen, und die Klarheit, neue Wege aufzuzeigen. Barth beweist eindrucksvoll, dass echtes Querdenken kein destruktives Chaos stiftet, sondern den notwendigen Raum schafft, um aus der Krise heraus Neues hervorzubringen.
Der Autor ist Lehrer an einem niedersächsischen Gymnasium und schreibt hier unter einem Pseudonym.
In der Reihe „100 Querdenker“ erschienen bisher: