Von Tizian Sonnenberg.
Nach den jüngsten Anschlägen wird die Idee, islamische Gewalt sei ein Produkt rechter Hetze, unter Linken immer beliebter. Das Ganze kommt aus den Geisteswissenschaften, die alles dekonstruieren, was sich ihnen in den Weg stellt.
Tödliche Attacken durch Asylbewerber in Aschaffenburg, München und Villach, die im Durchschnitt täglich verübten Gruppenvergewaltigungen, meist durch muslimische Einwanderer, der von Elon Musk erneut in den Fokus gerückte systematische sexuelle Missbrauch von Kindern (Achgut berichtete) durch pakistanische Banden in Großbritannien unter dem Stichwort „Grooming Gangs“ sowie der kürzlich wieder gedachte Ehrenmord an Hatun Sürücü, der inzwischen als „Femizid“ umgedeutet wird und bedauerlicherweise kein Einzelfall blieb – all dies zeigt eine bedrückende Wirklichkeit, die den postmodernen Linken ihr Weltbild um die Ohren fliegen lässt.
Drei Wochen nach Aschaffenburg erschüttert die Terrorfahrt von München die Bundesrepublik – mitten im Wahlkampf. Die Linksprogressiven fürchten „Wasser auf die Mühlen der Rechten“ und greifen verzweifelt nach einer Bewältigungsstrategie: Weil das Offensichtliche (Terror- und Gewaltanstieg seit der Grenzöffnung 2015) belastet, muss Entlastung her.
Somit verbreitet das linksgrüne Milieu seine eigene, als intellektuelle Analyse getarnte Verschwörungstheorie zur Anschlagsserie. Der ultrawoke Aktivist Tadzio Müller sprach zum Beispiel kurz nach dem Attentat vom subjektlosen „Autoterror“, der durch rechte Stimmungsmache gegen Klimaaktivisten befeuert worden sei – schließlich sei es nun unter Rechten legitim, mit Tötungsabsicht in Streikende hineinzubrettern. Kurzerhand dichtete er obendrein den afghanischen Tatverdächtigen selbst zum Opfer von Rassismus um. In ähnlicher Weise, jedoch geschwollener ausgedrückt, spekulierte Sicherheitsexperte (!) und Notfallseelsorger Jörg Trauboth bei phoenix mit der Frage „Cui bono – Wem nützt es?“ und kolportierte, es stecke ein „System“ dahinter, das den „Wahlausgang beeinflussen“ und die Migrationspolitik kippen wolle. Am gleichen Abend der Münchner Terrortat demonstrierten dann noch Mitglieder der zuvor attackierten ver.di-Kundgebung, linke, grüne und andere Mainstream-Antirassisten, „gegen Rassismus und Instrumentalisierung“. Protest gegen Islamismus? Fehlanzeige. Identifikation mit dem Aggressor? Schon eher.
Je größer die Angst vor Desillusionierung oder gar davor, selbst zum Opfer zu werden – in der ideologischen Hackordnung stehen Linke zentral im Visier islamischer Extremisten – desto massiver greifen psychische Abwehrmechanismen. Die Vorstellung, islamische Gewaltbereitschaft sei lediglich ein Produkt rechter Hetze, stützt sich auf ein umfassendes theoretisches Fundament, das in geisteswissenschaftlichen Seminaren längst zum Mantra geworden ist. Psychoanalytisch gesprochen, begegnet uns eine Rationalisierung durch Theoretisierung – oder schlicht eine Täter-Opfer-Umkehr. Dieser mittlerweile populäre Erklärungsmodus erinnert mich an mein eigenes Studium vor sieben Jahren in einer norddeutschen Kleinstadt – eine Erfahrung, die ich hier rekapitulieren möchte und die mich sowohl im Berufsleben als auch mit Blick auf die aktuelle Debatte weiterhin einholt.
Trainingslager gegen den gesunden Menschenverstand
Im Seminar „Geschlechterdiversität in der Migrationsgesellschaft“ des Pädagogik-Masters verteilte meine Dozentin einen Fachaufsatz zur Diskussion. Meine Motivation, dieses Modul zu belegen, war folgende: Gewalt im Namen der Ehre, islamische Misogynie, Homosexuellenhass unter Muslimen – all dem muss man sich als „linker“ Pädagoge stellen, will man mit Geflüchteten arbeiten und sie beim Ankommen begleiten.
Doch es kam knüppeldick: Die ersten zehn Seiten des Aufsatzes schilderten zunächst den Fall einer Klientin, nennen wir sie Fatma, dokumentiert von der fallführenden Sozialarbeiterin eines Frauenhauses. Fatmas Biografie las sich wie ein Drehbuch patriarchaler Kontrolle: das Dogma der Jungfräulichkeit bis zur Ehe, arrangierte Trauung, das ritualisierte Bluten in der Hochzeitsnacht, Kopftuchzwang, die lückenlose Einmischung des Ehemanns in alle Lebensbereiche und die Überwachung sozialer Kontakte. Als wäre das nicht schon genug an sexueller, psychischer und sozialer Gewalt, setzte sich die Leidensgeschichte mit physischer Gewalt bei vermeintlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrem Ehemann und ihr fort. Die empathische Beschreibung der Sozialarbeiterin atmete in meinen Augen den Geist der zweiten Welle des Feminismus, dem letzten Refugium feministischer Vernunft.
Dann der „postmigrantische Perspektivwechsel“ auf den abschließenden fünf Seiten: Vorehelicher Sex ist auch im Christentum tabu. Arrangierte Ehe heißt nicht automatisch Zwang. Auch Katholiken durften früher nicht mit Protestanten heiraten. Das Kopftuch? Ausdruck von Selbstbestimmung, Symbol für weibliche Bewegungsfreiheit und religiöser Identität. Partnerschaftsgewalt? Ein universelles Phänomen. Wer hier ein spezifisches Problem unter Muslimen verortet, will nur ein rassistisches Stereotyp bestätigt sehen. Anmaßend sei es, zu behaupten, der Westen stünde mit seiner kommerziellen Hypersexualisierung von Frauen auf der fortschrittlichen Seite der Geschichte.
Fazit: Die Sozialarbeiterin ist weiß und „reproduziert“ unter dem Deckmantel des Frauenschutzes „rassistische Narrative“. Was war ihr Vergehen? Sie habe „doing gender“ und „doing ethnicity“, die performative Herstellung von Differenz, betrieben. Selbstredend affirmierte dieses Pamphlet nicht die körperliche Gewalt, allerdings – so der Vorwurf –gehöre die Vorgeschichte von Fatmas muslimischer Sozialisation als Frau nicht zum Fall dazu, sondern trübe maßgeblich den Blick auf die Betroffene. Die im Rahmen von Diversitätssensibilität schützenswerte kulturelle Identität Fatmas sei von der Sozialarbeiterin diskreditiert worden. Das eigentliche Problem der „Sozialen Arbeit in der Migrationsgesellschaft“, die biopolitische Essentialisierung von Muslimen zu sexuell abnormalen Problemfällen käme hier als mustergültig zum Ausdruck. Ende der wirklich bahnbrechenden Diskursanalyse. Ironie off.
Jungstruppe, die aufdringlich islamisch unterwegs war
Unermüdlich mich nicht mit diesem Zustand intellektueller Verwahrlosung abzufinden, argumentierte ich hartnäckig, aber erfolglos, gegen den Konsensmob aus Dozentin und „Studierenden“ an. In Bezug auf die Domestizierung der Frau unter der islamischen Sexualmoral oder in archaischen Ehrkulturen stimmte mir nur die eine alevitische Kommilitonin zu – doch verwies sie zugleich auf meinen falschen „Sprechort“: weiß, männlich, ohne „sichtbaren“ Migrationshintergrund.
Gut, dachte ich mir. Wenn ihr mir mein Mitspracherecht in Sachen Feminismus entzieht, dann werde ich wohl bei den rabiaten Jungsthemen sprechfähig sein dürfen. Nächster Fall, selbe Dozentin, anderes Fach. Irgendwas mit Heterogenität, Jugendkultur und Gender. Diesmal ging es um eine Jungstruppe, die im Jugendzentrum aufdringlich islamisch unterwegs war: Nötigungen zum Fasten, Beten, Abmustern von Kleidungsstilen, Verbot von moderner Musik – das ganze Programm.
Ich kam mit Schriften von Fethi Benslama, Gilles Kepel, Ahmad Mansour und Ahmed Toprak um die Ecke. Allesamt Experten darin, die Attraktivität des Islamismus für Jugendliche zu erörtern, ohne die Überschneidungen von Alltagsislam und Islamismus herunterzuspielen, und dennoch die Anziehungskraft islamischer Orthopraxie als Allheilmittel bei Identitätskrisen zu betonen.
Von alldem wollte meine Dozentin nichts wissen. Warum seien diese Jungs radikal? Der antimuslimische Rassismus sei schuld. Die Medien, der Westen, der Rechtsruck propagiere das Narrativ vom aufmüpfigen muslimischen Jugendlichen. Weil Deutschland die Zugehörigkeit von Migranten per se negiert, suchten sie sich rebellische Ersatzidentitäten und erfüllten eben das Stigma, das ihnen auferlegt werde, um den „Fuck-Finger“ an die weiße Vorherrschaft besonders emporzustrecken. Erneut „doing gender“, „doing ethnicity“.
Aha, „begriff“ ich: Der Diskurs ist wieder alles, die Realität nichts. Monokausal. Manichäisch. Ist der Feind erst einmal bestimmt, hat der Tag Struktur.
Triumphzug der Labelling-Theorie
Verkehrte Welt, oder? Selbsternannte Feministinnen verweigern einer migrantischen, muslimischen Frau ihre Solidarität, weil Rassisten ihre Rhetorik modernisiert haben. Sie sprechen von Kultur statt von Rasse, vom Muslim statt vom Ausländer – was um Himmels willen nicht bedeutet, dass beide Themen tabu seien sollten. Gleichzeitig verschonten die einstigen Pädagogen von morgen muslimische Machojugendliche davor, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen. Stattdessen wird ihre Attitüde als provokative Pose verharmlost, deren eigentliche Ursache angeblich in der Zuschreibung durch die Mehrheitsgesellschaft liegt.
Die beiden Seminaranekdoten bezeugen den Siegeszug des poststrukturalistischen Denkens, das die Geisteswissenschaften im Zuge des linguistic turn erfasst hat und insbesondere auch die Academia der helfenden Berufe durchdrang. Anstatt sich auf autoritäre Strukturen in Erziehung, Sozialisation und Kultur zu konzentrieren – Strukturen, die das Subjekt vor allem in kollektivistischen Ordnungen massiv formen, es aber darin bestärkt werden müsse, sich als mündiges, also kritisches und selbstreflexives Individuum von diesen autonom zu ermächtigen – genießt nun der Diskurs und der unter ihm zementierte Status als unterworfenes Opfer den Vorrang.
Mit dem poststrukturalistischen „Tod des Autors“ (Roland Barthes) wurde die Idee vom vernunftbegabten Menschen, der seine Geschichte selbstbestimmt gestaltet oder dies zumindest anstrebt, schrittweise beerdigt. An seine Stelle traten sogenannte Narrative – Erzählungen, in denen der Mensch als entsubjektiviertes Konstrukt erscheint: Geschlecht als Konstruktion (Judith Butler) und ebenso religiöser Extremismus als bloßes Erzeugnis hegemonialer Diskurse der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft, die durch ihre „stigmatisierende“ Sprache erst die eigenen Problemfälle hervorbringe.
In der Erziehungswissenschaft firmiert diese Denke unter der sogenannten „Labelling“-Theorie. Ihr zufolge entwickeln sich muslimische Jungen nur deshalb zu Machos, weil sie im Kampf um Anerkennung ein Vorurteil bestätigen wollen, das ihnen durch eine angeblich allgegenwärtige rassistische Etikettierung aufgedrückt werden würde. Ebenso wird häusliche Gewalt durch einen patriarchalen Ehemann mit islamischem Hintergrund lediglich als reaktive Handlung interpretiert, da die Mehrheitsgesellschaft ihm diese Rolle zuschreibe. Nicht die Eigenverantwortung des Einzelnen steht im Zentrum pädagogischer Interventionen, sondern die vermeintliche Stigmatisierung, die Migranten förmlich zu diesem Verhalten zwingt.
Großer Bruder „Orientalismus“-These
Wo die Erziehungswissenschaft gescheiterte Integration als Resultat von „Labelling“ diagnostiziert, erklären die Postcolonial Studies – maßgeblich geprägt vom einst beim Steinewerfen auf Israel ertappten Vordenker Edward Said – den „Orientalismus“ zur normativen „Diskursstrategie“, die das despotische Potenzial des Nahen und Fernen Ostens als bloße Erfindung des Westens entlarve.
Saids 1978 erschienenes Werk „Orientalismus“ (im Original „Orientalism“) etablierte sich als heiliges Buch der „eurozentrismus-kritischen“ Geisteswissenschaften. Darin breitet er die völlig eindimensionale These aus, dass es den Orient nicht gebe, sondern er lediglich eine Projektion des Westens sei – eine Auslagerung verdrängter Eigenschaften wie Irrationalität, Brutalität und Emotionalität, um sich selbst aufzuwerten. Der Orient sei ein schlicht imaginiertes Gegenbild zum Westen, ohne Bezug zur Realität. Dieses Stigma wäre in die Welt gesetzt worden, um koloniale Ansprüche zu rechtfertigen, so der Herkunfts- und Berufspalästinenser Said.
Den Staaten der MENA-Region wird damit ein ewiger Verteidigungsmodus gegen Imperialismus und Ausbeutung attestiert. Der westliche, jüdische Staat Israel erscheint in dieser Logik als Speerspitze kolonialer Machtausübung im arabischen Raum, während die Palästinenser ein legitimes Widerstandsrecht zugesprochen bekommen – bis hin zur Glorifizierung des Hamas-Massakers als Befreiungsschlag oder Notwehr im dualistischen Weltbild der Postcolonial-Meute.
Der Stoff, aus dem Verschwörungstheorien sind
Selbstverständlich existiert Feindlichkeit gegen Muslime. Ebenso mögen auch manche Rechtsreaktionäre die patriarchalen Strukturen islamischer Einwanderer-Communitys rhetorisch missbrauchen, um von ihrer eigenen rigiden Geschlechternorm abzulenken. Auch dienen die Gewaltverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten mitunter als bequeme Entlastung, um westliche Mitverantwortung – sei es in der Region, vor der eigenen Haustür oder im eigenen Land – zu verdrängen und sich durch die Herabwürdigung gegenüber dem Orient moralisch aufzuwerten.
Labelling-Theorie und Orientalismus-These haben den Bogen allerdings eindeutig überspannt. Im Grunde genommen zeigen sie wesentliche Strukturmerkmale einer gigantischen, ich nenne sie antirassistischen Verschwörungstheorie. Ein kleiner Ausschnitt der Realität, hier Diskriminierung als Teilursache, wird zur absoluten Wahrheit erklärt, während Faktoren wie Ideologie, Kultur, Sozialisation, Tradition oder Religion konsequent ignoriert werden.
In ihrer radikalsten Form unterstellen diese doing-Konzepte einer kleinen Gruppe (den Rechten), dass diese planvoll durch Stigmatisierung alleinverantwortlich Gewalttäter und Extremisten erschafft – einerseits, um sich selbst reinzuwaschen, andererseits, um einen Vorwand für negative Stimmungsmache zu erzeugen. Diesen „Diskursstrategien“ wird dabei eine fast magische, geradezu übernatürliche Wirkung zugesprochen. Augenscheinlich blendet jenes monokausale Erklärungsmodell die Vielschichtigkeit der Realität gezielt aus.
Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet jene linken Dauerkritiker von Verschwörungstheorien selbst zu Verschwörungsideologen mutieren, sobald eine ihrer Lebenslügen infrage gestellt wird – sei es die Positivität von Migration, die Gleichwertigkeit aller Religionen oder der lebensschützende Charakter der Corona-Maßnahmen.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf
Gerade diese selektive Empörung zeigt, wozu Verschwörungstheorien ihren Urhebern bekanntlich dienen: Sie sollen die gesellschaftliche Debatte gezielt im Sinne der eigenen Ideologie lenken. Da die hohe Gewaltprävalenz unter muslimischen Migranten die linke Illusion einer friedlichen Multikulti-Idylle zerstört, muss ein rechter Sündenbock herhalten. Argumentativ läuft das dann so: Nicht zu viel Diversität führt zur Erosion der inneren Sicherheit, zum Anstieg von Gewalt gegen Frauen oder mehr Terrorismus, sondern zu wenig. Migranten verweigern sich nicht eigenständig der Integration, sondern werden durch äußere Barrieren daran extern gehindert. Und so weiter. Und so fort.
Diese Dynamik nimmt bisweilen so absurde Züge an, dass selbst die Realität als Symptom des Rechtsrucks verdächtigt wird. Nachrichten, Statistiken, Alltagserfahrungen und subjektives Sicherheitsempfinden gelten pauschal als Teil einer rassistischen Agenda. Aschaffenburg und München seien – wie oben angerissen – bloße Inszenierungen, um Abschiebeambitionen im Wahlkampf zu befeuern. Polizeiliche Kriminalstatistiken, die eine Überrepräsentation von Migranten bei Messer-, Sexual- und staatsgefährdenden Verbrechen zeigen, seien politisch gewollt, um Ausländer „bald rauszuschaffen“. Und dass männliche, meist muslimische Migranten im öffentlichen Raum bedrohlicher wirken als Autochthone, werde als bloße voreingenommene Perspektive (bias) abgetan.
Die böse Empirie
Nun gut. Wenn all diese Unannehmlichkeiten also „nur“ Produkt oder Folge von Diskriminierung sind, müsste sich die entscheidende Frage ja so stellen: Wie sehen die Verhältnisse in Ländern aus, in denen Muslime nicht in der Minderheit, sondern in der Mehrheit sind? Wie steht es dort um die Bewegungsfreiheit von Frauen? Wie gewalttätig werden Konflikte ausgetragen? Und welche Haltung herrscht gegenüber dem Westen?
Mit dieser Frage wollte ich die Inkonsistenz der Argumentation eines anderen Pädagogen herausfordern, mit dem ich neulich – sieben Jahre nach meinem Studium – bei einem Jugendschutz-Vernetzungstreffen über „ehrenkulturelle“ Gewalt diskutierte. Er argumentierte, dass der Begriff „Ehrenmorde“ Gewalt gegen Frauen exotisiere und das Problem den „Anderen“ (Othering) zuschreibe. Wenn man gezielte Prävention mit migrantischen Jugendlichen aus dem Nahen und Mittleren Osten zu diesem Thema betreiben würde, fühlten sie sich abgestempelt. Im Umkehrschluss würde ihnen das Etikett des „ehrbewahrenden, gewalttätigen Patriarchen“ aufgedrückt, das sie möglicherweise zu erfüllen drohen. „Doing gender“, „doing ethnicity“ – da war es wieder.
Ich fragte ihn, wie es denn in den Herkunftsregionen der Zielgruppe aussieht: Wie hoch ist die Rate von Ehrenmorden im Irak, in Syrien, der Türkei, Afghanistan, dem Iran? Er wusste es nicht. Was er aber wusste, war, dass es solche Morde auch in Griechenland und Indien gebe. Da hatte er zwar recht, aber nicht in dieser Intensität. Außerdem wird diese Gewalt nicht durch den Islam sakralisiert – und patriarchale Griechen oder Inder stellen hierzulande auch keine integrationspolitische Zerreißprobe dar, indem sie die Entfaltungsfreiheit von Mädchen behindern.
Mein zweiter „Gegenbeweis“ sollten dann einzelne Multiplikatoren wie Ahmad Mansour, Serap Çileli oder Initiativen wie „Heroes – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ sein. Sie stammen selbst aus Ehrkulturen, haben unter deren Imperativen leben müssen und leisten heute präventive Sozialarbeit gegen Ehrgewalt oder beraten Opfer patriarchaler Strukturen (zum Beispiel Peri e.V.). Alle stellen sie klar: „Ehrenmorde“ haben eine andere Qualität als Partnerschaftsgewalt, und Jugendliche aus diesen Communitys erreicht man nicht mit handelsüblicher geschlechterreflektierender Pädagogik.
Ich nahm an, das „Sprechort“-Argument würde in diesem Fall meinen antirassistisch geschulten Kollegen überzeugen. Doch nein. Er kenne diese „Aufklärer“. Sie seien bloß Kronzeugen des rassistischen Diskurses, ließen sich vor den Karren der Rechten spannen und hätten das koloniale Denken internalisiert. Aha, dachte ich. Wieder ein bekanntes Muster aus Verschwörungstheorien: Positivbeispiele sind immer Teil des Komplotts. Hätte er die zuvor genannten Gewaltverhältnisse in den Herkunftsländern kommentiert und nicht von Indien oder Griechenland gesprochen, wären sie von ihm wohl ebenfalls – gemäß der Orientalismus-These – als Folge westlicher Schuld interpretiert worden.
Der Rassismus der Antirassisten
Charakteristisch für totalitäre Weltanschauungen ist das Abdichten vor jeder Kritik. Die größte antirassistische Verschwörungstheorie kennt keine mündigen Subjekte, sondern nur die lenkende Hand des scheinbar rassistischen Diskurses. Was hier mit gutmenschelndem Gestus daherkommt, ist nichts anderes als ein Rassismus der niedrigen Erwartungshaltung. Migranten wird per se die Eigenverantwortung abgesprochen, sie werden auf ein Opferdasein reduziert, das mit Gewaltverbrechen stets defensiv agiert – „die verfolgende Unschuld“ (Karl Kraus). Im Vergleich zu rechtsextremistischer Gewalt erfährt islamistische Gewalt die Nachsicht antirassistischer Doppelmoral.
Widersprechen Migranten dem Schicksal, bevormundete Mündel der postmodernen Linken zu sein, haben sie mit aggressiver Gegenwehr zu rechnen. Das zeigt auch die Entgleisung von Scholz, die eigentlich sein wahres Gesicht entblößte, als er CDU-Politiker Joe Chialo zum Hofnarren degradierte. Genauso werden die vorhin genannten innermuslimischen Kritiker von der Woke-Linken als Nestbeschmutzer, Onkel-Tom-Muslime oder Haustürken abgecancelt. Noch deutlicher sagte es einmal Hamed Abdel-Samad. Sinngemäß: „Das Schlimmste, was Flüchtlingen passieren kann, sind linke Sozialarbeiter. Sie reden dir eine lebenslange Betroffenheit ein, belehren dich, das Aufnahmeland zu hassen und lassen dich im Stich, wenn dir Zwangsheirat, Genitalverstümmelung oder Anpassungsdruck aufgrund deines verwestlichten Lebensstils drohen.“
Zum Glück sind Migranten erstens keine homogene Opfergruppe, und zweitens sind grundsätzlich alle Menschen fähig, sich ihres „eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen“ (Immanuel Kant) zu bedienen – ob alle es tun, ist eine andere Frage. Migranten sind mehr als nur ihre Flucht- und Diskriminierungserfahrungen und müssen sich nicht zwangsläufig zum Opfer ihrer Umstände machen (lassen). Wer nachlesen möchte, dass Ausgrenzungserfahrungen nur einen marginalen Effekt auf Radikalisierungsbiografien haben, dem sei abschließend Ruud Koopmans „Assimilation oder Multikulturalismus? Bedingungen gelungener Integration“ (Österreich: Lit, 2017) empfohlen.
Lesen Sie mehr zum Thema:
Benslama, Fethi. Der Übermuslim: Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt. Deutschland: Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2017.
Mehr dazu: Maani, Sama. Respektverweigerung: Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht. Österreich: Drava Verlag, 2017.
From Harlem, Barbara. Escaping the Racism of Low Expectations. Post Hill Press, 2018.
Tizian Sonnenberg ist hauptberuflich als Pädagoge in der Jugendhilfe tätig. Zusätzlich arbeitet er freiberuflich als Publizist und beschäftigt sich in seinen Recherchen mit islamistischen Strukturen, wobei sein besonderer Fokus auf Geschlechterthemen liegt.
Die in diesem Text enthaltenen Links zu Bezugsquellen für Bücher sind teilweise sogenannte Affiliate-Links. Das bedeutet: Sollten Sie über einen solchen Link ein Buch kaufen, erhält Achgut.com eine kleine Provision. Damit unterstützen Sie Achgut.com. Unsere Berichterstattung beeinflusst das nicht.