Christoph Lövenich, Gastautor / 13.09.2017 / 15:28 / Foto: Jim Rees / 9 / Seite ausdrucken

Die Fernwähler in der Zuschauer-Demokratie

Von Christoph Lövenich.

Beim Erdoğan-Referendum im April dieses Jahres spielten Auslandstürken beinahe das Zünglein an der Waage: In der Türkei war die Mehrheit für das Präsidialsystem knapp, während die Wahlteilnehmer unter den Deutschtürken mit klarer Mehrheit dafür votierten. „Obwohl diese Menschen in Demokratien leben, in Freiheit und Sicherheit, haben sie für eine Abschaffung der Demokratie in der Türkei gestimmt“, klagte Spiegel-Kommentator Hasnain Kazim.

Warum? Weil sie es konnten. Menschen, die ihr Herkunftsland höchstens noch im Urlaub besuchen oder gar hier geboren sind und es nie anders kannten, dürfen über die politische Struktur eines Landes entscheiden, in dem sie gar nicht wohnen, über dessen Staatsangehörigkeit sie aber verfügen. Man mag es einen Missstand finden, wenn nicht unmittelbare Betroffene in diesem Fall einem immer diktatorischere Züge annehmenden Regime Legitimation verleihen, kann aber nicht einfach mit dem Finger Richtung Bosporus zeigen.

Denn für Deutschland gilt Ähnliches. Nein, weder gibt es auf der Bundesebene Volksentscheide noch soll der Bundespräsident demnächst zum Sultan erkoren werden. Aber: Genau wie Deutschtürken bei Wahlen ihre Stimme für oder gegen Erdoğan abgeben können, dürfen dies Auslandsdeutsche bei der anstehenden Bundestagswahl. Nicht alle und auch nicht in langen Schlangen vor den Botschaften und Konsulaten: Lediglich Briefwahl ist möglich, gewisse bürokratische Hürden sind gesetzt. (Und in strukturschwachen Wohnländern wohl auch faktische hinsichtlich der rechtzeitigen Unterlagenübermittlung.)

Wer seit 15 Jahren in Japan lebt, hält Zuwanderung für ein exotisches Thema

Das Wahlrecht genießen diejenigen Auslandsdeutschen, die nach ihrem 14. Geburtstag mindestens drei Monate in Deutschland gelebt haben, was aber nicht länger als ein Vierteljahrhundert zurückliegen darf. Alle übrigen sind nicht automatisch ausgeschlossen, sondern dürfen ebenfalls den postalischen Urnengang antreten, wenn sie „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“. Das können Botschaftsangestellte sein, Mitarbeiter von Goethe-Instituten oder Auslandskorrespondenten deutscher Medien. Außerdem z.B. Menschen, die in der Nähe der Grenze leben und beruflich oder auch ehrenamtlich in Deutschland tätig sind. Wer seit über 25 Jahren ununterbrochen mit Wohnsitz in Belgien für deutsche Europaparlamentarier arbeitet – und damit eigentlich aus dem Raster fiele, kann etwa durch Zugehörigkeit zum Brüsseler Ortsverband einer deutschen Partei sein Engagement für die Heimatfront unter Beweis stellen.

Wer nun vor 20 Jahren nach Thailand ausgewandert und mit seiner 30 jüngeren Frau den Lebensabend bei gelegentlichem Nachrichtenkonsum über Deutschland verbringt, kann wählen. Und sich zurücklehnen, denn die Ergebnisse betreffen ihn nicht direkt. Wer seit 15 Jahren in Japan lebt, wird Flüchtlingszuwanderung, Energiewende und Eurorettung ziemliche exotische Themen finden, darf sie aber mit seinem Kreuzchen beeinflussen. Oder man kann von der südafrikanischen Ranch aus die Landwirtschaftspolitik in deutschen Ställen mitbestimmen. Zuschauerdemokratie par excellence.

Als US-Auswanderer hat man noch keine Ekelbilder auf Zigarettenpackungen gesehen, in Österreich kann man sein Haus wegen niedrigerer Ökostandards billiger bauen, unter australischer Sonne sieht man Solarkollektoren vielleicht etwas anders. Je nach Medienkonsum und Kontakten kann man dann nur sehr gefiltert, wenn überhaupt, mitreden. Und – sofern man keine grundbesteuerte Immobilie in der alten Heimat hat – sich jeglicher Finanzierung entziehen. Die energiepolitisch stark überteuerte Stromrechnung spart man sich, irgendwelche Rettungsschirme tangieren einen (jedenfalls außerhalb der EU) weniger, und für eine Flüchtlingspolitik, die sehr viele ‚noch nicht lange hier Lebende‘ zu dauerhaften Sozialfällen abstempelt, braucht man auch nicht zu löhnen. Da hat der Wahlakt mehr mit einem Computerspiel als mit aktiver Bürgerschaft zu tun. Und wie war das noch zu Zeiten der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung: „No taxation without representation“ – sollte das nicht umgekehrt genauso gelten?

Als exilierter Souverän über Deutschland mitherrschen?

Der wahlberechtigte Auslandsdeutsche kann sich für eine Landesliste und einen Direktkandidaten entscheiden. Es gilt der Wahlkreis seines letzten deutschen Wohnortes. „In Fällen, in denen ein solcher Ort nicht festgestellt werden kann, kommt die letzte Heimatgemeinde der Vorfahren in gerader Linie im heutigen Bundesgebiet in Betracht, bei mehreren die des letzten Fortzuges.“ Vielleicht kam ein verstorbener Vorfahr aus Hannover und hat noch Kurt Schumacher persönlich seine Stimme gegeben. Aber gut, man kann ja seinen Wahlkreisabgeordneten bei dessen nächsten Urlaub an den Zuckerhut einladen, um ihm unter vier Augen zu berichten, wo vor Ort der Schuh drückt. Oder man lässt sich gleich selbst aufstellen – sogar das passive Wahlrecht genießt man auch ohne festen Wohnsitz in der Bundesrepublik – und hält dann Sprechstunden in seinem Wahlkreisbüro in Neuseeland ab.

Wer von Köln nach Neukölln zieht, kann den Kölner Stadtrat nicht mehr wählen und ebenso wenig den NRW-Landtag. Wieso sollte es da dem Auswanderer in ferne Gefilde anders ergehen? Dem Staatsrechtler Jellinek zufolge konstituieren den Staat drei Elemente: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Kann dann die Staatsgewalt von außerhalb des Staatsgebietes lebendem Staatsvolk (durch Wahlen) ausgeübt werden? Von Menschen, die weder aktiv noch passiv als richtige Bürger teilhaben? Das Wahlrecht muss mehr sein als der Ausdruck einer durch Reisepass verbrieften deutschen Identität. Es geht um Mitbestimmung im eigenen Land, dessen Teil man ausmacht, wo man mittendrin ist statt außen vor.

In der Schweiz, wo die meisten Auslandsdeutschen leben, kann man vielleicht schön wohnen, viel Geld verdienen und Steuern sparen, sinnvollerweise aber nicht zugleich als exilierter Souverän über Deutschland mitherrschen. Das Wahlrecht für Auslandsdeutsche muss auf den Prüfstand und sollte auf wenige Ausnahmefälle begrenzt werden. Das würden zwar einen Verlust von ein paar Zehntausend Wählerstimmen bedeuten, aber einen Gewinn für die Demokratie.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Novo. Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur und wohnt in Bonn.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

H.Roth / 13.09.2017

Warum sollen die Fernwähler nicht mehr wählen dürfen? Soll ihnen die Zukunft ihrer Kinder, Enkel, Verwandten oder Freunde in Deutschland egal sein? Es sind schliesslich diejenigen, die diese Breifwahl-Hürden nehmen, die ein ernstes Anliegen für ihr Heimatland haben. Was man von zahlreichen, gleichgültigen “Inlanddeutschen” leider nicht sagen kann! Und vielleicht gewinnt mancher auch, mit etwas räumlichem Abstand, ein etwas realistischeres Bild von Deutschland, als es im Land selbst durch die Medien vermittelt wird. Man findet ja gerade im Ausland eine kritische und eher unparteiische Berichterstattung über die deutsche Politik. Und selbst im fernen Australien lebt man nicht hinter dem Mond. Auch dort weiß man z.B. was Flüchtlingsboote sind.

Dieter Franke / 13.09.2017

Da mein Ausreiseantrag von Frau Dr Merkel genehmigt wurde werde ich im nächsten Jahr nach Österreich umziehen. Die jahrzehntelange emotionale Bindung an das Land meiner Vorväter wird durch diesen Ortswechsel nicht berührt. Ich will nur nicht von den zu erwartenden ethnischen Rottungen und Verteilungskaempfen beeinträchtigt werden. Und deshalb habe ich kein Problem damit per Briefwahl die Partei zu wählen, die den Untergang Deutschlands möglichst lange hinauszögern kann.

Pierre Borgmann / 13.09.2017

Dieses Gedankenspiel ist auf jeden Fall nachvollziehbar ... man sollte aber auch bedenken, was die Gründe waren um Deutschland zu verlassen. Es gibt sicherlich viele die es geniessen unter Palmen zu liegen und die von Deutschland kaum etwas mitbekommen. Aber andere wiederum sind besorgt und würden sehr gerne wieder zurückkommen. Wenn man im Ausland lebt sieht man den Wandel viel aprupter und nicht schleichend, wie als wenn man in Deutschland lebt. Das macht traurig und besorgt zugleich. Die Teilnahmslosigkeit der meisten Leute gibt grosse Bedenken auf. Im Ausland haben die Leute einen viel höheren Nationalstolz als wir und man sieht das die Sichtweise eine ganz andere ist. Man ist den Deutschen nicht wirklich dankbar fuer ihre humanitäre Hilfe. Man kann schnell auch nur als nützlicher Idiot dastehen. In anderen Laendern kämpfen die Leute viel mehre für Ihre Rechte. Es ist auch gar nicht wirklich einfach eine Briefwhak aus dem Ausland mitzumachen.

Herbert Dietl / 13.09.2017

Dann bitte alle Auslandsdeutschen auch steuerfrei stellen, wenn sie kein Wahlrecht behalten sollen.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com