Die 53 Schauspieler haben eins erreicht. Sie sind aufgefallen und haben die Schlagzeilen beherrscht. Ob jeder, der darüber geschrieben hat, verstehen wollte, was sie bewegt, bewegt hat, sei dahingestellt. Wie Stefan Aust hat mich dieses gemeinschaftliche, individuelle Statement an jenen Novembertag 1976 erinnert.
Am 17.11.1976 protestierten Christa Wolf, Sara Kirsch, Volker Braun, Gerhard Wolf, Rolf Schneider, Erich Arendt, Stephan Hermlin, Franz Fühmann, Stefan Heym, Jurek Becker, Günter Kunert und Heinz Müller gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und baten den Generalsekretär der SED, Erich Honecker, “die beschlossene Maßnahme zu überdenken".
Später traten viele prominente DDR-Intellektuelle, Künstler und auch Schauspieler dieser Erklärung, die für das Neue Deutschland und Honecker und nicht für die Westpresse bestimmt war, bei, darunter Manfred Krug, Nina Hagen, Ulrich Plenzdorf und Jürgen Fuchs.
Die Unterzeichner durften zur Klärung eines Sachverhalts mit der Stasi pädagogische Gespräche führen und wurden, wenn sie ihre Unterschrift nicht zurückzogen, aus Partei und/oder Schriftstellerverband ausgeschlossen. Einige hielten dem Druck nicht stand. Manfred Krug, der nicht nur ein guter Sänger und Schauspieler war, hat darüber ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel der Konsequenz. „Abgehauen”. Ich war damals 12 und lebte im Westen. Im Westen ist am besten, lieber blau als grau (EXTRABREIT). Krugs Buch ist – wie der dazugehörige Film – ein Zeitzeugnis. Es beschreibt die Atmosphäre, die Zerissenheit und den Druck, unter dem sie damals standen.
Es entstand eine unüberbrückbare Distanz.
Für den Westen war nicht nur Krugs Wechsel ein Geschenk. Man denke nur an „Liebling Kreuzberg”, einen der amüsantesten Straßenfeger der Achtziger Jahre. „Rausgeschmissen“ hätte es besser getroffen. Das Drehbuch stammte vom unvergessenen Mitunterzeichner Jurek Becker („Jakob der Lügner"). Der Ausreise ging allzu oft ein jahrelanges faktisches Berufsverbot voraus. Wer ein Telefon hatte, konnte es wenigstens verfluchen, weil es nicht mehr klingelte.
Das war eine Zäsur. Zwischen Staat, Partei und den Künstlern entstand eine unüberbrückbare Distanz. Nur die Linientreuen blieben bei der Stange. Die Faszination des Sozialismus war gestorben. Und viel bis dahin Unausgesprochenes war plötzlich offenbar.
Am 4. November 1989 sprach ein gewisser Jan Josef Liefers auf der ersten genehmigten DDR-Großdemonstration. Ein Schauspieler. Schon damals ging es ihm auch um eine berechtigte Abgrenzung. Er wollte von den Funktionären nicht in Anspruch genommen werden.
Niemand konnte damals wissen, dass die Sowjets einfach nicht mehr genug Schweröl in den Panzern hatten, um von Karlshorst und Strausberg bis zum Brandenburger Tor zu fahren. Gorbatschow war kein Freund der Freiheit. Aus Mangel an Ressourcen, die dem „Warschauer Pakt” nicht mehr reichten, nahm er schlicht das vor, was der Militär beschönigend eine „Frontbegradigng” nennt.
Bevor jetzt jemand meint, man könne Äpfel und Birnen nicht vergleichen und der Vergleich mit der Aktion der 53 Schauspieler mit ihren YouTube-Videos sei unangemessen, dem sei der Unterschied einer Gleichsetzung und eines Vergleiches in Erinnerung gerufen. Letzterer macht die Unterschiede deutlich.
Bußgeld (was für ein Wort)
Nein, wir leben nicht in einer „DDR light”. Wir werden von keiner Stasi bedroht. Und wir können jederzeit das Land verlassen und unseren eigenen Weg gehen. Vielleicht nicht in den nächsten Wochen, wer aber nach Frankreich, Polen oder Österreich fliehen will, wird bestenfalls von diesen Ländern daran gehindert. Sein Leben ist aber nicht in Gefahr. Natürlich haben Einzelne von uns mit Beeinträchtigungen zu kämpfen.
Bei uns ist selbst der Verstoß gegen die Ausgangssperre eine Ordnungswidrigkeit und zieht ein Bußgeld (was für ein Wort) nach sich und keine Strafe. Keiner muss nach Bautzen. Es wird aber auch niemand freigekauft und kommt in den besseren Westen. Mangels Nachfrage fällt der innerdeutsche Menschenhandel aus. Wir müssen hierbleiben. Das verschafft unserem Handeln seine eigene Endgültigkeit.
Bußgeld, das klingt so nach Ablasshandel. Und Ablasshandel klingt irgendwie nach Martin Luther. Die Stadt Worms ist betrübt, dass ihre Idee, das berühmte Zitat Luthers „Hier stehe ich, ich kann nicht anders” durch geschicktes Stadtmarketing für den Tourismus zu nutzen, an den Corona-Maßnahmen gescheitert ist. Immerhin hat sie es in die Tagesschau geschafft. Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!
Welche Kraft der Freiheit ging von jenem mit einer alten Schreibmaschine mit verschwommenem Schriftbild formulierten Sinnbild aus. Am Anfang war das Wort. Und bekannte Menschen, Teile des Establishments, haben ihren Namen, ihr Renommée in die Waagschale geworfen und waren bereit, die Konsequenzen zu tragen. Diese Menschen haben Deutschland besser gemacht, als es noch zwei davon hatte.
Demütig den Warnsignalen der Brandmelder der Freiheit lauschen
Ich bin oft genug peinlich berührt von der westdeutschen Arroganz, und diese falsche Selbstgewissheit ist Teil unseres Problems. Wenn bei denen, die Unfreiheit erlebt und Freiheit erkämpft haben, die Alarmglocken früher schrillen, sollten wir demütig den Warnsignalen der Brandmelder der Freiheit lauschen, statt sie zu ignorieren.
Dieses westdeutsche, genügsame Establishment, das sich behaglich in den Nischen des sonntäglichen Tatorts eingerichtet hat, wo die Anderen dem Spiel der Einen im sprichwörtlichen Altbau im Prenzlauer Berg folgen (Der Mörder ist immer der Manager/Unternehmer/Rechte), wo man sich freundlich den Kochkünsten der Hausherrin bei Champagner und Chianti hingibt und sich in der Selbstgewissheit des Lifestyle-Ökosozialismus wiegt und die Realität geflissentlich übersieht, wenn sie dem eigenen Weltbild widerspricht.
Diese idyllische Insel der Selbstgewissheit ist zerstört. Unwiderruflich. Ausgerechnet die Hohepriester der allsonntäglichen Selbstbestätigung haben sich an die Spitze der Bewegung gestellt: diejenigen, die dem letzten öffentlich-rechtlichen Gassenhauer ihren Ruhm verdanken, die Hauptrollen im „Tatort" spielen und durch die edlen Villen in den teuren Vororten streifen und die bösen Kapitalisten verhaften. Da hilft es wenig, wenn sie ihre Videos „zurückgezogen” haben. Deren Inhalt bleibt kleben. Für die Falschen gelten sie in Zukunft als unsichere Kantonisten. Aber wie einst DEFA und Fernsehen der DDR entscheiden die ja über die Rollenangebote. Und dem deutschsprachigen Schauspieler steht die Flucht in den Westen nicht mehr offen. In Hamburg, Köln und München sitzen auch jede Menge der Mainstream-Produzenten, die Angst haben, einen „umstrittenen” Mimen zu besetzen. Die Lethargie der Bundesrepublik schärft nicht den Charakter. Mangels Widerstand.
Der Luxus eines eigenen Urteils scheint unbezahlbar
Wer einen Shitstorm hat, braucht keine Stasi. Der vorauseilende Gehorsam in den meisten Redaktionen und der Reflex der Verurteilung macht Zensur überflüssig. Den Rest erledigen die Schere im Kopf und der vorauseilende Gehorsam. Der Luxus eines eigenen Urteils scheint unbezahlbar.
Die Videokünstler haben bemerkt, dass man am Ast, auf dem sie sitzen, nicht mehr sägen kann. Er knackt schon so. Der ganze Baum ist marode. Das ist die Parallele zu den Unterzeichnern von 1976. Und der Knacks wird ein Echo haben wie ein Donnerhall. Der Geist ist aus der Flasche. Und da kriegt ihn auch Marietta Slomka nicht mehr rein.
Der 17.11.1976 markiert den Anfang vom Ende der DDR. Weil ihr der Esprit und der Geist verlorenging und viele Intellektuelle nicht mehr oder immer weniger daran glauben konnten. Das Siechtum, das 16 Millionen in Geiselhaft nahm, die sich nach Reisefreiheit, japanischen Autos und koreanischen Videorekordern (oder umgekehrt) sehnten, dauerte noch gut 15 Jahre. Und als sie vermeintlich am 4.Oktober 1990 aufwachten, erwies sich das Werbefernsehen als Illusion.
Die Panikmache der Pandemiker fiel bei uns im Westen auf fruchtbaren Boden. Je abstrakter wir leben und arbeiten, desto größer die Bereitschaft, die Angst fast schon dankbar zum Teil unseres Lebens zu machen. Fast schon die gerechte Strafe für unser dekadentes Dasein. Die Relativierer und Kritiker fielen der Staatsgläubigkeit, die sich flächendeckend eingeschlichen hat, zum Opfer.
Uschi von der Leyen hätte in die Röhre geschaut
Langsam schwant vielen, dass Merkel nicht allwissend ist, und wir bemerken, dass Aldi schneller und billiger Masken herbeigeschafft hat und es bei Lidl genauso schnell Selbst-Tests gibt. Was wäre wohl gewesen, wenn wir denen die Beschaffung des Impfstoffs aufgetragen hätten. Uschi von der Leyen hätte in die Röhre geschaut.
Nicht der Markt hat versagt. Der Staat stellt seit einem Jahr seine Ratlosigkeit zur Schau. Um das zu kaschieren, operiert er mit noch größerer Panikmache und noch massiveren Eingriffen in unsere Grundrechte bis ins Schlafzimmer. Statt auf die vorhandene Struktur der Hausärzte zu vertrauen, die ihre Pappenheimer kennen, wurden monströse Impfzentren etabliert und planwirtschaftliche „Prioritäten” erfunden, die Risikopatienten übersehen.
In den Ministerpräsidentenkonferenzen hat die herrschende Klasse ausreichend ihr Unvermögen dargestellt, unser Leben besser zu regeln als wir selbst. Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht. Aber das Vertrauen in die Politik und die Staatsgläubigkeit ist verloren. Wir müssen unser Leben, unsere Zukunft schon wieder selbst in die Hand nehmen.
Wer die 53 Videos nur als Protest gegen die inkonsistente und falsche CORONA-Politik versteht, greift zu kurz. Das wird wahrscheinlich auch den Autoren gerade und langsam gewahr. Es geht um die Wiederherstellung der offenen Gesellschaft und einen offenen Wettbewerb um die richtigen Lösungen anstelle politischer Glaubensbekenntnisse. Das hat die Feinde der offenen Gesellschaft auf den Plan gerufen. Sie haben sich aus der Deckung gewagt und müssen nun damit leben, dass wir wissen, wer sie sind.