Billiges Geld ist für wirtschaftliches Siechtum, stagnierende Arbeitsproduktivität und Inflation verantwortlich. Nun soll die Zinswende mit noch billigerem Geld den drohenden realwirtschaftlichen Kollaps verhindern.
Ganz anders als von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang des vergangenen Jahres angekündigt, lässt das grüne Wirtschaftswunder mit Wachstumsraten „wie zuletzt in den 1950er und 1960er Jahren“ noch immer auf sich warten. (1) Trotz der in Deutschland und auch im Rahmen des „Green Deals“ der EU zweifellos „hohen Investitionen in den Klimaschutz“, die der Bundeskanzler zur Begründung des anstehenden Wirtschaftswunders anführte, geht es mit der Wirtschaft seit der 2018 einsetzenden Industrierezession jedoch nicht etwa aufwärts, sondern immer weiter abwärts.
Trotz der inzwischen weitgehenden Überwindung der von Coronakrise und Ukrainekrieg ausgehenden wirtschaftlichen Belastungen liegt das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU noch immer nur geringfügig über dem Vorkrisenniveau. Statt einer wirtschaftlichen Erholung, die nach der Überwindung von Lieferkettenproblemen und temporär extrem hohen Energiepreisen erwartet wurde, stagniert die Wirtschaft in der EU seit dem vierten Quartal 2022. Im Vergleich zum jeweiligen Vorquartal bewegt sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seitdem innerhalb einer Bandbreite von minus 0,1 und plus 0,3 Prozent. (2)
In Deutschland ist das BIP in den vergangenen mehr als fünf Jahren nicht mehr über das 2018 erreichte Niveau hinausgekommen, und obendrein steckt die Wirtschaft seit Ende 2022 nicht mehr nur in einer Stagnation. Bei Wachstumsraten gegenüber dem jeweiligen Vorquartal zwischen minus 0,5 und plus 0,2 Prozent schrumpft die Wirtschaft. Nach jahrzehntelang rückläufigem Produktivitätswachstum stagniert die Arbeitsproduktivität. (3) Angetrieben wird dieser Schrumpfungsprozess von der sich beschleunigenden Deindustrialisierung, die sich vor allem in den energieintensiven Branchen durch sinkende Investitionen, rückläufige Wettbewerbsfähigkeit und Produktionsrückgänge bemerkbar macht. Gegenüber 2018 ist die Industrieproduktion in Deutschland um inzwischen mehr als 15 Prozent gesunken, die energieintensiven Industrien haben ihre Produktion sogar um gut 30 Prozent zurückgefahren. Wegen energiepolitisch bedingt weiter steigender Energiekosten besteht außerdem keine Aussicht, diese Produktionsverluste wieder aufholen zu können.
Längst reagieren die Unternehmen mit Stellenabbau. Seit 2018 sind in der Industrie in Deutschland deutlich mehr als 300.000 Stellen verlorengegangen, was einem Rückgang um vier Prozent entspricht. Nun kommt jedoch eine Entlassungswelle in Gang, da die Unternehmen auf die schrumpfende Wertschöpfung reagieren müssen, um nicht selbst unter die Räder zu kommen. Zudem planen nun satte 37 Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland, ihre Produktion im Inland noch weiter einzuschränken beziehungsweise ins Ausland zu verlagern, wie die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) in einer aktuellen Umfrage ermittelt hat. (4) Der Haupttreiber für diese Entwicklung sei die Energiepolitik, so der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks, denn auf diesem Gebiet hätten „andere Länder eine glaubwürdigere Strategie“ (5). In Deutschland sei es „bisher nicht gelungen, den Unternehmen eine Perspektive für eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung aufzuzeigen.“ (6)
Siechtum durch billiges Geld
Die EZB steht nun unter erheblichem Druck, die geldpolitischen Zügel zu lockern. Denn wegen des Fehlens wirtschaftspolitischer Konzepte und Initiativen, die den wirtschaftlichen und vor allem industriellen Niedergang stoppen könnten und dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck, dem die Unternehmen insbesondere durch die Klimapolitik und den „Green Deal“ der EU ausgesetzt sind, soll die Geldpolitik – wie bereits seit Mitte der 1980er Jahre – die Wirtschaft mit Hilfe möglichst niedrigen Zinsen stabilisieren.
Zwar ist es der EZB – wie auch den anderen Zentralbanken der entwickelten Volkswirtschaften – trotz exzessiver Niedrigzinspolitik und der Herbeiführung sogar eines real negativen Zinsniveaus ab Mitte der 2010er Jahre im Unterschied zu den vorangegangenen Jahrzehnten nicht mehr gelungen, das Wirtschaftswachstum mit geldpolitischen Mitteln zu beflügeln. Dennoch spielen niedrige Zinsen wegen gestiegener Schulden eine immer bedeutendere Rolle zur Stabilisierung von Unternehmen und Staaten. Einerseits zielen sie darauf ab, die Schuldenlast der Unternehmen zu mindern, so dass eine wirtschaftliche Restrukturierung verhindert werden kann, die weniger wettbewerbsfähige und kaum profitable Betriebe zur Aufgabe zwingen würde. Denn immer mehr wettbewerblich schwache Unternehmen sind nur wegen niedriger Fremdkapitalzinsen profitabel. Andererseits geht es der EZB darum, die fiskalischen Spielräume der Staaten zu erhalten und sogar zu erweitern. Denn bei steigenden Zinsen steigt auch der Schuldendienst aufgrund der in allen entwickelten Volkswirtschaften hohen Staatschulden erheblich. Zudem müssen viele Länder fürchten, dass das Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit verloren geht, was nochmals steigende Zinslasten nach sich ziehen würde.
Obwohl sich die EZB durch die seit Ende 2020 anziehende Inflation zu Zinsanhebungen gezwungen sah, ist es ihr auch in den vergangenen Jahren bemerkenswert gut gelungen, Unternehmen und Staaten auch weiterhin mit billigem Geld zu stabilisieren. Bis Mitte 2023 konnte sie eine restriktive Geldpolitik verhindern (7), so dass sich kurz- wie auch langfristige Realzinsen erst ab diesem Zeitpunkt aus dem negativen Bereich herausbewegt haben und sich seitdem in einem nur leicht positiven Bereich bewegen. Aktuell liegen die kurzfristigen Realzinsen bei knapp zwei Prozent, denn bei einer gegenwärtigen Inflationsrate von 2,2 im Euroraum (8) liegt der Leitzins nur knapp darüber bei 4,25 Prozent. Noch niedriger sind die von der EZB über den Leitzinssatz kaum beeinflussbaren langfristigen realen Zinsen (9). 10-jährige Staatsanleihen der meisten EU-Staaten rentieren derzeit zwischen 2,5 und 3,2 Prozent (10) und liegen damit in etwa auf dem Niveau der aktuellen Inflationsrate und nur wenig über dem langfristigen Inflationsziel der EZB von zwei Prozent. Die EU-Staaten können sich also noch immer zu einem realen Zinssatz von praktisch null verschulden.
EZB unter Druck
Um nun zu verhindern, dass der schleichende wirtschaftliche Niedergang in einen veritablen Absturz mit dem Zusammenbruch der vielen kaum wettbewerbsfähigen Unternehmen mitsamt Kapitalvernichtung, Jobverlusten und einer heftigen Korrektur an den Finanzmärkten mündet, ist billiges Geld elementar. Daher hat die EZB bereits zu einem Zeitpunkt, als sich ihre optimistischen Prognosen über den Rückgang der Inflation als zu gewagt herausgestellt hatten (11), im Juni die Zinswende eingeleitet, indem sie den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent kappte. „Ein Wechsel auf die Zukunft“, kommentierte der Chefvolkswirt der Dekabank, Ulrich Kater (12). Noch bevor die EZB ihre Zinswende eingeleitet hatte, drängte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf rasche Zinssenkungen. Da sich die Inflation dem EZB-Ziel von zwei Prozent annähere, könne die Zentralbank den Leitzins zeitnah senken „und hoffentlich“, so Habeck, würden in Anbetracht der stagnierenden Wirtschaft „noch weitere Zinsschritte […] folgen“ (13).
Nun zeigt sich, dass die Inflation in der Eurozone zwar – begünstigt durch die gegenüber dem Vorjahresmonat stark gesunkenen Energiepreise – im August auf 2,2 Prozent (nach 2,6 Prozent in den vorangegangenen Monaten) zurückgegangen ist (14). Dies dürfte jedoch nur eine Inflationspause sein, denn der Preisanstieg bei Dienstleistungen nimmt seit Monaten zu und liegt inzwischen bei 4,2 Prozent, und Dienstleistungen machen knapp die Hälfte des Warenkorbs aus, der zur Ermittlung der Inflationsrate herangezogen wird (15). Dennoch sieht sich die EZB mit der Zinswende auf Kurs, und sie hält weitere Zinssenkungen für möglich. Die jüngsten Daten zur Inflationsentwicklung stünden „weiterhin im Einklang mit dem Basisszenario, das vorsieht, dass die Inflation bis Ende 2025 nachhaltig auf unser Zwei-Prozent-Ziel zurückgeht", so das EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel (16). Dass sich die Inflation jedoch hartnäckig hält, zeigt sich auch an der Kerninflationsrate, die den Preisanstieg ohne Nahrungsmittel und Energie misst und in der Eurozone (17) wie auch in Deutschland seit März knapp unter drei Prozent stagniert (18), während in Deutschland die Anzahl der bau- und konsumnahen Dienstleistungsunternehmen, die die Preise erhöhen wollen, zunimmt (19).
Offenbar hält die EZB zur Erreichung ihres Zwei-Prozent-Inflationsziels eine restriktive Geldpolitik, die die kreditfinanzierte Nachfrage dämpfen und weniger wettbewerbsfähige Unternehmen bei gleichzeitig steigenden Schuldzinsen zur Restrukturierung und Aufgabe weniger produktiver Betriebe zwingen würde, nicht für erforderlich. Stattdessen vertraut sie offenbar darauf, dass sich die Inflation weitgehend ohne ihr Zutun von selbst erledigt, wie Schnabel kürzlich gegenüber der FAZ erklärte. In ihren Projektionen gehe die EZB nämlich davon aus, „dass sich das Beschäftigungs- und Lohnwachstum graduell abschwächen wird, dass die Produktivität sich erholt und dass die Unternehmen zunehmend bereit sind, den Kostenschub zu absorbieren, indem sie geringere Gewinnmargen hinnehmen.“ (20) Demnach sollen die vor allem von steigenden Energiekosten ausgegangene Inflation und die daraus resultierenden Wohlstandsverluste von den Erwerbstätigen und Unternehmen durch die Hinnahme realer Einkommensverluste zur Ruhe kommen. Andererseits erwartet die EZB offenbar kostendämpfend wirkende Produktivitätssteigerungen, die es den Unternehmen ermöglichen würden, zukünftige Kostensteigerungen zu kompensieren oder sogar die Verkaufspreise zu senken.
EZB zementiert Produktivitätsstagnation
Genau hier liegt jedoch das Problem, denn seit Jahrzehnten hat die EZB mit ihrer Geldpolitik wirtschaftliche Restrukturierungen, durch die wettbewerbsschwache und weniger produktive Unternehmen untergegangen wären, verhindert. Bereits seit den 1980er Jahren betreiben die westlichen Zentralbanken eine asymmetrische Geldpolitik, indem sie zur Verhinderung wirtschaftlicher Krisen die Leitzinsen absenken, ohne sie in den anschließenden Erholungsphasen wieder auf das frühere Niveau anzuheben. Wirtschaftliche Krisen, die zum Kollaps weniger produktiver und weniger wettbewerbsfähiger Unternehmen geführt hätten, wurden so vermieden. Durch die einseitig auf wirtschaftliche Stabilisierung ausgerichtete Geld- und Wirtschaftspolitik ist eine Zombiewirtschaft entstanden, in der immer mehr Unternehmen – unterstützt durch Subventionen, Marktregulierung und Protektionismus und vor allem durch niedrige Fremdkapitalzinsen – dauerhaft überleben können, obwohl ihre Wertschöpfung nicht oder kaum profitabel ist.
So hat die EZB entscheidend dazu beigetragen, dass eine steigende Anzahl ertragsschwacher Unternehmen dauerhaft erhalten wurde. Da diese aufgrund ihrer geringen Profitabilität kaum in produktivere Geschäftsprozesse investieren können und wettbewerbsstärkere Unternehmen daher auch ohne massive Investitionen ihre Wettbewerbsvorteile erhalten können, sinkt der Anteil der Unternehmensinvestitionen im Verhältnis zur Wertschöpfung seit Jahrzehnten, so dass das Produktivitätswachstum inzwischen zum Erliegen kommen ist. Daher können die Unternehmen Kostensteigerungen – etwa durch zunehmenden bürokratischen Aufwand, höhere Energiekosten oder kostensteigernde Regulierung – inzwischen nicht mehr durch die Verbesserung ihrer eigenen Wertschöpfungsprozesse ausgleichen und müssen versuchen, diese Kosten in den Lieferketten auf andere Unternehmen oder bis hin zu den Konsumenten zu überwälzen. Dabei müssen sie hoffen, dass sie über eine höhere Marktmacht verfügen als andere, so dass sie nicht ihrerseits mit höheren Lohnforderungen oder steigenden Verkaufspreisen anderer Unternehmen konfrontiert werden und es ihnen also gelingt, gestiegene Kosten und die daraus resultierenden Wohlstandsverluste möglichst vollständig auf andere abzuwälzen. Mit ihrer geldpolitischen Orientierung hat die EZB, ebenso wie die anderen Zentralbanken in den entwickelten Volkswirtschaften, eine folgenschwere Produktivitätstagnation herbeigeführt, die sie – um einen wirtschaftlichen Absturz zu verhindern – mit noch mehr billigem Geld immer weiter zementiert. So haben die Zentralbanken die einseitig auf wirtschaftliche Stabilisierung sowie steigende Vermögenspreise zielende, wirtschaftspolitische Ausrichtung vorangetrieben und durch die daraus resultierende Produktivitätsstagnation die Inflationsresilienz der Wirtschaft unterhöhlt.
Die Zentralbanken haben jedoch nicht nur diese realwirtschaftliche Inflationsbremse zerstört, sondern sich selbst die Möglichkeit weitgehend genommen, eine restriktive Geldpolitik durchzusetzen, da das immer fragilere realwirtschaftliche Gefüge auf mehr und zudem billigeres Geld angewiesen ist, um nicht zu kollabieren. Obendrein haben sie eine Geldschwemme mit niedrigen Langfristzinsen erzeugt, in denen die Unternehmen profitabel bleiben, obwohl sie im Verhältnis zu ihrer Wertschöpfung immer weniger investieren. So generieren die Unternehmen in den entwickelten Volkswirtschaften seit Jahrzehnten steigende Finanzierungsüberschüsse (21), die sie zum Wohl ihrer Aktionäre über Aktienrückkäufe und Dividenden in die Kapitalmärkte pumpen, anstatt in eine produktivere Wirtschaft zu investieren. Die EZB – und mit ihr die Staaten der Eurozone – haben durch ihren geld- und wirtschaftspolitischen Kurs, nicht nur „Deutschland zum kranken Mann Europas“ (22), sondern ganz Europa zur kranken Region der Welt gemacht.
Siechtum überwinden
Unter diesen wirtschaftspolitischen Prämissen kann die EZB die Inflation nicht unter Kontrolle bringen, sondern sie muss hoffen, dass sich der von steigenden Energiekosten ausgehende Inflationsschub der vergangenen Jahre von selbst beruhigt und die Verteilungskämpfe darüber, wer die daraus resultierenden Wohlstandsverluste trägt, zur Ruhe kommen. Solange Zentralbanken und Staaten keinen grundlegenden wirtschaftspolitischen Kurswechsel beginnen, der eine realwirtschaftliche Restrukturierung mit wieder zunehmenden Investitionen und steigender Arbeitsproduktivität ermöglicht – anstatt diese mit allen Mitteln zu verhindern –, wird die Inflation auch weiterhin in Wellen daherkommen, da alle Marktakteure versuchen müssen, steigende Kosten auf andere abzuwälzen.
Alexander Horn ist selbstständiger Unternehmensberater und lebt in Frankfurt am Main. Er publiziert mit Fokus auf wirtschaftspolitische Themen und hat seine politische Heimat beim Politikmagazin Novo. Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.
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Quellen:
(1) WirtschaftsWoche
(2) Statistisches Bundesamt
(3) Statistisches Bundesamt
(4) Dihk
(5) FAZ
(6) DIHK
(7) Finanzmarktwelt
(8) eurostat
(9) novo-argumente
(10) statista
(11) Tagesschau
(12) Tagesschau.
(13) Handelsblatt
(14) eurostat
(15) eurostat
(16) MarketScreener
(17) eurostat
(18) Tradingeconomics
(19) ifo Institut
(20) FAZ
(21) kfw Research
(22) The economist