Die Durchsetzung gemeinwohlschädlicher Partikularinteressen in Form von Zollschranken ist mittlerweile etwas aus der Mode gekommen, obwohl sie immer noch ein bisschen ihr Unwesen treiben. Da es aber Zölle jedenfalls innerhalb der EU nun schon lange nicht mehr gibt, musste man sich etwas neues einfallen lassen, um sich die Konkurrenz vom Leib und damit die eigenen Verkaufspreise möglichst hoch halten zu können.
Man geht die Sache nun subtiler und auf elegantere Art und Weise an, indem man sich zeitgemäßer Marketingmethoden bedient. Man fährt nicht länger in die Hauptstadt und droht den Parlamentariern mit dem Entzug von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen, sondern man dreht die Sache auf Verbraucher- und Konsumentenschutz und tritt damit über die Medien an die Öffentlichkeit, um so Stimmung bei den Wählern zu machen – und vor denen hat der nationale Politiker immer noch großen Respekt.
Da kommen einem dann Fälle von gepanschtem und damit giftigem Wein in Österreich und in Italien gerade recht: Nicht auszudenken, wenn solche Weine unkontrolliert nach Deutschland fließen! Gesundheit und Leben der deutschen Verbraucher stehen auf dem Spiel! Und was, wenn in spanischer Marmelade viel mehr Zucker als Frucht enthalten ist? Irreführung des deutschen Verbrauchers! Die Schokolade enthält billige Fette statt nur Kakaobutter! Dieser Eingriff in das deutsche Schokoladenreinheitsgebot muss wirksam verhindert werden!
Da habt ihr die Marmelade oder: Die EU garantiert mehr Auswahl
Diese neueren Versuche, das Gemeinwohl zu sabotieren, pariert man auf EU-Ebene aber nun auf nicht minder elegante Weise: Statt zum Beispiel den Export vermeintlich „minderwertiger“ Schokoladen und Marmeladen in andere EU-Länder zu unterbinden, führt man einfach eine Kennzeichnungs- und Benennungspflicht ein. Der Hersteller kann alles exportieren; er muss nur aufs Etikett schreiben, wieviel Zucker und wieviel Kakaobutter enthalten ist.
Man lese mal die „Marmeladenrichtlinie“ der EU aus dem Jahre 2001. Zwar war der Aufschrei in den Medien groß und wurde von der Marmeladenindustrie in allen EU-Ländern auch noch ordentlich angeheizt, aber nichts davon stimmte. Keinem einzigen EU-Bürger wurde sein gewohnter Frühstücksbrotaufstrich entzogen. Es konnte nur sein, dass im Supermarkt nun ‚Konfitüre‘ statt ‚Marmelade‘ oder umgekehrt auf dem vertrauten Glas stand, das er immer gekauft hatte. Wie aber schon Shakespeare aufgefallen war: „What’s in a name? That which is called a rose would smell as sweet by any other name.“ Als kleine Kuriosität am Rande kann dabei durchgehen, dass man den Portugiesen ihre geliebte Karottenmarmelade selbst dem Namen nach nicht streitig machen wollte und deshalb die Karotte im Rahmen der Richtlinie als “Obst” statt als “Gemüse” klassifiziert wurde…
Es hilft aber nichts. Die Öffentlichkeitsarbeit der Marmeladenproduzenten war trotzdem erfolgreich, denn bis heute sind die meisten Bürger in sämtlichen EU-Ländern felsenfest davon überzeugt (meine persönlichen Umfragen), „Brüssel“ habe ihnen nun auch noch in ihr Frühstücksvergnügen hineingepfuscht. Das Gegenteil ist wahr: Brüssel hat ihnen gegen die Bestrebungen der Marmeladenlobby eine viel größere Auswahl an Brotaufstrichen beschert. Dasselbe gilt für die Schokolade und übrigens auch für das Bier. Gäbe es nicht das durchaus segensreiche Wirken von „Brüssel“, dann wären die deutschen Bier-, Schokolade- und Marmeladelobbys in Berlin durchgedrungen, und wir könnten bis heute auf deutschem Boden weder polnische Pralinen noch tschechisches Bier noch spanische Marmeladen einkaufen.
Warum ist der Ruf der EU bloss so schlecht?
Wenn meine Beschreibung der EU und ihrer eigentlichen Aufgabe und Bedeutung zutrifft – nämlich die supranationale Durchsetzung derjenigen vernünftigen und deshalb gemeinwohlorientierten Politik, die nationalen Politikern gar nicht gelingen kann –, dann stellt sich allerdings die Frage, wie denn die beschriebene, durch und durch verzerrte Wahrnehmung der EU in der Bevölkerung zustande kommt. Und das ist eine sehr wichtige Frage, denn der gegen Brüssel gerichtete Unmut kann, sollte er noch stärker werden, unter Umständen das ganze gemeinwohlorientierte Projekt zum Kippen bringen. Beim Brexit haben wir es schon gesehen.
Michael Gove, der intellektuelle Vordenker und Einpeitscher für den Brexit, hält nichts von der Figur des nationalen Politikers, der sich wie Odysseus an den Mast binden lässt. Er will den britischen Politiker stattdessen schutzlos der Meute der britischen Lobbyisten ausliefern, gegen die der sich nach dem Brexit nicht mehr zur Wehr wird setzen können; denn im Rahmen der neuerlangten „britischen Souveränität“, so Gove, werde man dann endlich wieder in der Lage sein, schwächelnde britische Unternehmen zu subventionieren – ohne eine EU im Rücken, die das wirksam zu unterbinden weiß.
Die Einsicht, dass so ein Vorgehen dem britischen Souverän, nämlich allen britischen Bürgern, nur schadet und sie ärmer macht, ist an Gove entweder vorbeigegangen oder…
Aber ein Michael Gove (oder auch ein Daniel Hannan) bringt es nicht alleine zustande, die britische Bevölkerung so in die Irre zu führen darüber, wo ihre wohlverstandenen Interessen liegen. Für beide war der Boden schon bereitet – durch die Click-Baiting Medien, die seit dreißig Jahren auf billigste Weise Stimmung gegen die EU machen, indem sie jede Marmeladen- und Gurken- und Glühbirnen- und Staubsaugerstory, die Brüssel hergibt, unermüdlich und bis zum bitteren Ende ausschlachten, und zwar im Verein mit diversen NGOs und „Verbraucherschutzorganisationen“, die jeweils Lobbyisten in eigener Sache sind. Verantwortungslose Politiker wie Gove und Hannan – vor allem aber der Ex-Premierminister David Cameron – reiten dann schwächlich nur noch das schon für sie gesattelte Pferd.
In Brüssel werden die Lobbyisten trotz riesiger Zahl eher auf Distanz gehalten
Das heißt nun natürlich nicht, dass es „in Brüssel“ keine Lobbyisten mehr gäbe. Das Gegenteil ist der Fall, wie jeder weiß. Allein, als rein nationale Lobbyisten – und andere gibt es ja nicht – treten sie dort nur noch in sozusagen homöopathischer Verdünnung auf, wodurch sie ihrer praktischen Wirksamkeit weitgehend beraubt sind. Das erklärt wohl auch ihre große Zahl – um überhaupt noch die Chance zu haben, irgendetwas ausrichten zu können, muss man ganz massiv vertreten sein.
Und die in Bezug auf „Brüssel“ verbreitete Fehlsichtigkeit zeigt sich ganz genauso, d.h. eins zu eins, im Hinblick auf TTIP, das noch nicht ratifizierte Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Und, ja, es ist wirklich ein Abkommen für freieren Handel und nicht, wie so oft behauptet wird, eine Ermächtigung für amerikanische Hühnerproduzenten, den europäischen Bürger dazu zu zwingen, ihre „Chlorhähnchen“ zu essen. Falls TTIP noch zustande kommen sollte – was immer fraglicher wird –, dann wäre das ein Gewinn für alle Europäer wie für alle Amerikaner.
Jeder von uns kann dann zwischen dem teuren Bresse-Huhn, dem Wiesenhof-Hähnchen, dem Bio-Huhn vom Kleinbauern und dem Chlorhuhn wählen. Die amerikanischen sowie die europäischen Geflügelproduzenten dagegen würden entmachtet – weil sich eine ganze Reihe von Politikern in Brüssel, Paris, Berlin und Washington im Sinne des Gemeinwohls für die Odysseus-Rolle entschieden hat, was sie für die Sirenengesänge der Hühnerproduzenten hüben wie drüben unempfänglich macht.
Die Geheimniskrämerei um den exakten Inhalt der Verhandlungen gehört zur Rolle und dient dazu, die nie aufhörenden Beeinflussungsversuche der Lobbyisten so weit wie möglich zu unterbinden – nicht, um die Bevölkerung im Dunkeln zu lassen über ein irgendwie finsteres Geheimabkommen. Deshalb haben normale Bundestagsabgeordnete keinen Einblick: Sie sollen gar nicht erst in Versuchung geraten, mit den Lobbyisten ins Gespräch zu kommen, um sich dann vielleicht doch noch genötigt zu sehen, in Brüssel Einfluss für gemeinwohlschädliche Partikularinteressen nehmen zu wollen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Eva Ziesslers Blog hier.