Michael McGrath, seines Zeichens EU-Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit, erklärt, dass die EU-Kommission „die allgemeine Lage der Demokratie“ in Österreich und Deutschland „überwacht“. Die vage Formulierung könnte auch als Drohung aufgefasst werden.
Am 14. Oktober vergangenen Jahres stellte die EU-Parlamentsabgeordnete Christine Anderson von der Fraktion „Europa der Souveränen Nationen“ („Europe of Sovereign Nations“, kurz: ESN) eine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung an die EU-Kommission. Deren Inhalt lautete: „In Deutschland und Österreich sind die Wahlsieger – die AfD und die FPÖ – jüngst auf Widerstand seitens der unterlegenen Parteien gestoßen, die jede Zusammenarbeit ausgeschlossen haben. Angesichts dieser Entwicklungen sowie des aktuellen Antrags im Bundestag auf ein Parteiverbot der AfD stellen sich im Kontext der Zuständigkeit der EU für die Wahrung der im Vertrag über die Europäische Union (EUV) festgelegten demokratischen Standards Fragen zur demokratischen Praxis und zur Einhaltung der Grundwerte der Union.
1. Wie bewertet die Kommission die Praxis, Wahlsieger systematisch von politischen Kooperationen auszuschließen, im Hinblick auf das Prinzip der politischen Vielfalt und Pluralität?
2. Wie bewertet die Kommission den derzeit im Bundestag diskutierten Antrag auf ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD in Bezug auf das demokratische Prinzip der politischen Vielfalt und Meinungsfreiheit, das die EU als Grundwert betrachtet?
3. Nach welchen Kriterien ist ein Parteiverbotsverfahren in einem Mitgliedstaat zulässig im Hinblick auf die Werte der Union und insbesondere das Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsprinzip im Sinne des Artikels 2 EUV?“
Die Antwort von Michael McGrath, seines Zeichens EU-Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit, erfolgte am 13. Januar dieses Jahres und fiel im Namen der Europäischen Kommission einigermaßen kryptisch aus – was möglicherweise auch darauf zurückzuführen ist, dass die Brandmauern in Österreich mittlerweile stark ins Wanken geraten sind.
Jedenfalls teilte McGrath kurz und bündig mit:
„Der Schutz und die Förderung der in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Werte und Grundrechte der EU, einschließlich der Demokratie und des Rechts auf freie Meinungsäußerung, haben für die Kommission einen hohen Stellenwert und unterliegen auf nationaler und europäischer Ebene einer gemeinsamen Verantwortung. Wie in allen anderen Mitgliedstaaten überwacht die Kommission auch in Österreich und Deutschland die allgemeine Lage der Demokratie. Die Zusammensetzung von Regierungskoalitionen und die damit verbundenen Ernennungsverfahren fallen in erster Linie in den Geltungsbereich der nationalen Verfassungsrahmen. Es ist Aufgabe der zuständigen nationalen Behörden, die Einhaltung des geltenden Rechts und etwaiger einschlägiger internationaler Standards sicherzustellen.“
Demnach fallen die Zusammensetzung von Regierungskoalitionen und die damit verbundenen Ernennungsverfahren lediglich „in erster Linie“ in den Geltungsbereich der nationalen Verfassungsrahmen – offenbar jedoch nicht vollständig. Denn was ist mit „etwaige einschlägige internationale Standards“ gemeint, die die „zuständigen nationalen Behörden“ sicherstellen müssen?
Wenn ein „Notstand“ ausgerufen wird
Ein Blick auf die Webseite der österreichischen Arbeitsgemeinschaft „Election Watch“ hilft weiter: Hier sind für Österreich rund 30 UN-, EU- und OSCE-Vereinbarungen als „internationale Standards und Verpflichtungen“aufgelistet, die von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bis zu Artikel 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights, kurz: ICCPR, auch: Zivilpakt) reichen. Der 1976 in Kraft getretene Zivilpakt beinhaltet unter anderem das Recht auf Schutz des Privatlebens, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Versammlungsfreiheit sowie das passive und aktive Wahlrecht.
Artikel 4 regelt, dass es einem Vertragsstaat im Falle eines „Notstands“ („state of emergency“) erlaubt ist, vorübergehend von einem Teil seiner Verpflichtungen, die sich aus dem Pakt ergeben, abzuweichen. Was bedeutet: Wenn ein „Notstand“ ausgerufen wird, kann man sich auf den Zivilpakt nicht mehr vollumfänglich verlassen.
Für Deutschland stellt das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) aktuell eine „Bedrohungslage“ hinsichtlich der 2025 anstehenden Wahlen fest, die „Desinformation und Cyberspionage“ umfasse. Neben der direkten Einflussnahme auf Wahlen durch Cyberangriffe gebe es eine indirekte Beeinflussung der öffentlichen Wahrnehmung und folglich auch der freien Meinungs- und Willensbildung.
Damit spielt das Bundesamt geradewegs auf Elon Musks Wahlempfehlung für die AfD an. Dementsprechend teilt auch die EU-Kommission in einer Pressemitteilung vom 17. Januar mit, dass sie zusätzlich zu dem schon laufenden Verfahren gegen Musks Internetplattform X im Rahmen des EU-Gesetzes über digitale Dienste (Digital Services Act) weitere Untersuchungen eingeleitet hat. Konkret befasst sie sich mit dem Empfehlungssystem (englisch: Recommender System) der Plattform.
Unter einem Recommender System wird ein Softwareprogramm verstanden, das durch gesammelte Informationen das Interesse eines Nutzers vorhersagt und somit zur Personalisierung von Apps eingesetzt werden kann. Die Exekutiv-Vizepräsidentin für Tech-Souveränität, Sicherheit und Demokratie, Henna Virkkunen, erklärte dazu, dass jede in der EU tätige Plattform die Rechtsvorschriften der EU einhalten müsse, die darauf abzielen, das Online-Umfeld „für alle europäischen Bürger fair, sicher und demokratisch zu gestalten“. Das Gesetz über digitale Dienste verpflichtet Internetplattformen unter anderem zu einer Bewertung und gegebenenfalls Löschung von potenziell schädlichen Inhalten. Außerdem müssen Nutzer darüber informiert werden, wie ihnen Inhalte empfohlen werden.
Ein verbissener Versuch, Musk doch noch auszubremsen
Die Kommission fordert Musks Unternehmen nun auf, bis zum 15. Februar 2025 interne Unterlagen über sein Empfehlungssystem und alle kürzlich vorgenommenen Änderungen vorzulegen. Darüber hinaus verpflichtet eine „Aufbewahrungsanordnung“ die Plattform dazu, interne Dokumente über künftige Änderungen ihrer Empfehlungsalgorithmen für den Zeitraum vom 17. Januar 2025 bis zum 31. Dezember 2025 aufzubewahren. Schließlich stellte die Kommission sogar einen Antrag auf Zugang zu bestimmten Programmierschnittstellen von X, die eine „direkte Sondierung der Moderation von Inhalten und der Viralität von Konten“ – also auch der Ausbreitung von Informationen – erlauben.
Diese Schritte sollen es den Kommissionsdienststellen ermöglichen, „alle relevanten Fakten bei der komplexen Bewertung systemischer Risiken und ihrer Minderung im Rahmen des Gesetzes über digitale Dienste zu berücksichtigen“. Heißt: Die EU-Kommission verbietet Musk zwar nicht direkt, seine Meinung oder Wahlempfehlungen zu äußern, wirft ihm jedoch indirekt eine Steuerung der Reichweite im Internet vor, was wiederum als Verstoß gegen das EU-Gesetz über digitale Dienste sanktioniert werden könnte. Dieser taktische Schachzug wirkt wie ein verbissener Versuch, Musk doch noch auszubremsen.
So erklärt sich auch die Auskunft McGraths, dass die EU-Kommission „die allgemeine Lage der Demokratie“ in Österreich und Deutschland „überwacht“. Die vage Formulierung könnte allerdings auch als Drohung aufgefasst werden: Immerhin hat die EU die Präsidentschaftswahlen in Rumänien ebenfalls „überwacht“ – mit dem Ergebnis der Wahlannullierung. Ganz auszuschließen ist freilich nicht, dass sogar Ursula von der Leyen persönlich von Brüssel aus ihr Teleskop auf Österreich und Deutschland richtet. Schließlich wird der Kommissionspräsidentin der diesjährige Aachener Karlspreis mit der offiziellen Begründung verliehen, dass mit von der Leyen „eine herausragende Führungspersönlichkeit des Vereinten Europas“ geehrt werde, die „die Union visionär, mutig und handlungsstark, mit Entschlossenheit und Weitsicht durch eine Zeit tiefgreifender Transformationen leitet“. Nun, dann kann ja nichts mehr schiefgehen!
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.
Quellen:
Frage (E-002056/2024): https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-10-2024-002056_DE.html
Antwort: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-10-2024-002056-ASW_DE.pdf