Das aktuelle deutsche Wahlsystem mit seiner Entwertung der Erststimme schwächt die Demokratie und stärkt Parteiapparate. Wenn der Bundestag ohne solche Entdemokratisierung nicht wieder so groß werden soll wie der letzte, dann hilft die Rückkehr zum Wahlrecht von 1990.
Zwei Stimmen bieten die Wahlzettel zur Bundestagswahl dem gemeinen Bundesbürger an. Mit der Erststimme wählt das jeweilige Wahlkreisvolk seinen Vertreter im Bundestag. Die Erststimme sichert die flächendeckende Vertretung des Souveräns im höchsten Deutschen Parlament ab. Ein demokratietheoretisch herausragender Aspekt des Wahlrechts.
Parteien sind nicht der Staat, sind nicht die organisierte Meinungsbildung an sich, sondern wirken an der politischen Meinungsbildung im demokratischen Staat mit. So steht es im Grundgesetz Art. 21 (1).
Die Parteien stehen nicht über dem Staat. „Erst die Partei, dann der Staat!“ ist damit theoretisch ausgeschlossen. Grau ist alle Theorie, ich weiß. Die Mitwirkungsrolle am Wahlergebnis der Parteien erfüllt sich in der Zweitstimme zur Bundestagswahl. Mit der Erststimme bestimmt der Souverän den Wahlkreisvertreter, und mit der Zweitstimme „legt“ er die jeweilige Stärke der Parteien in der Volksvertretung fest.
Der Abgeordneteninflation wurde Tür und Tor geöffnet
Die jeweilig erreichten Prozente der Parteien nach den Zweitstimmen in den 16 Bundesländern sind die Obergrenze für die mögliche Anzahl zu entsendender Abgeordneten je Partei und Bundesland. Das erste gesamtdeutsche Parlament nach der Wiedervereinigung wurde am 2. Dezember 1990 in 328 Wahlkreisen gewählt. Theoretisch wären das 328 Direktwahlsieger und 328 Listenabgeordnete gewesen. Machte zusammen 656 Bundestagsabgeordnete. Ins Parlament zogen aber 662, also sechs Abgeordnete mehr ein. Die sechs MdBs waren Überhangmandate, die sich ergaben, wenn Parteien mehr Direktwahlsiege erreichten, als ihre prozentuales Zweitstimmenergebnis zuließ. Sechs MdBs mehr, das war kein Problem und wäre auch heute keins.
Für 2002 reduzierte der Bundestag die Zahl der Wahlkreise von 328 auf 299, um das Parlament zu verkleinern. Das war vernünftig. Es gab weiterhin Überhangmandate. Theoretisch wären 299 Direktwahlsieger und 299 Zweitstimmenabgeordnete in den Bundestag entsandt worden. Praktisch waren es aber 603 MdBs, also fünf Parlamentarier „über den Durst“. Diese fünf Abgeordneten mehr waren kein Problem, wären es auch heute nicht. Es blieb dem Bundestag für 2009 vorbehalten, das Institut des Ausgleichsmandats einzuführen. Der Abgeordneteninflation wurde damit Tür und Tor geöffnet. Die sozialistische Gerechtigkeit brach sich Bahn, die „Benachteiligten“ der Überhangmandate wurden mit Ausgleichsmandaten belohnt.
Der Deutsche Bundestag sollte die Regeln des 1990er Wahlrechts auf der Basis der nunmehr 299 Wahlkreise wieder übernehmen! Die direkte Stimme und regionale Vertretung der Bevölkerung wäre wieder gesichert, und den inflationären Bundestag gäbe es auch nicht mehr. Die einzigen Pokerspieler, die das verhindern wollen und können, sind die Parteiapparate. Weil die durch die Erststimme Einfluss verlieren. Noch besser wäre das Mehrheitswahlrecht. 299 Wahlkreise entsprächen 299 Abgeordneten. Nicht mehr, nicht weniger und das beinahe für immer. Immer gibt es nur im Märchen, deshalb das Wörtchen „beinahe“.
Richard Schröder
Ein bedeutender ostdeutscher Sozialdemokrat praktischen und philosophischen Hintergrunds wurde 1994 Opfer der Zweitstimme. Viele ostdeutsche Sozialdemokraten hofften auf den Brandenburger Richard Schröder, den ersten und tatsächlich bedeutenden SPD-Fraktionsvorsitzenden in der Volkskammer der freien DDR. Richard Schröder kandidierte aber in keinem Wahlkreis seines Bundeslandes. Er wollte niemandem vor Ort Konkurrenz machen. Stattdessen gab ihm die Brandenburger SPD den Listenplatz eins. Pech für Richard Schröder, Pech für Ostdeutschland, die Brandenburger SPD gewann sämtliche Wahlkreise und die Liste „zog“ nicht mehr. Richard Schröder schaffte es nicht in den Bundestag. Ich und viele meiner Kollegen empfanden das als herben Verlust. Richard Schröder wäre eine sehr gute Stimme das Ostens geworden.
Genörgelt hatte damals dennoch niemand in der SPD. So waren die Regeln und die waren okay.
Hermann Scheer
2008 drehte die SPD-Linke am Rad, besonders die Ypsilanti-SPD in Hessen. Vor der Wahl versprach Andrea Ypsilanti, niemals nicht eine Koalition mit Linksaußen eizugehen. Nach der Landtagswahl galt das nicht mehr. „Solarpapst“ Hermann Scheer heizte ihr beim Vergessen des Wahlversprechens ordentlich mit ein. Er wollte in einem SPD-SED-Kabinett nachhaltiger Sonnen-und-Wind-Wirtschaftsminister werden. Vier frisch gewählte hessische SPD-Landtagsabgeordnete verweigerten der Koalitionsbildung ihre Zustimmung. Der linke Furor gegen diese freigewählten Deputierten war enorm und lässt sich nur dem jetzigen Furor gegen AfD-Mitglieder vergleichen. Teilweise wähnten sich diese mutigen Politiker in Lebensgefahr.
Die Situation wurde selbstverständlich auch in der SPD-Bundestagsfraktion heiß diskutiert. Hermann Scheer forderte die Rückgabe des Mandats der freigewählten MdLs. Normalerweise spielte und spielt es in den Fraktionen nie untereinander eine Rolle, ob Kollegen direkt oder per Zweitstimme Abgeordnete waren. Kompetente Kollegen gab es sowohl unter den Direktgewählten als auch unter den Listenabgeordneten. Für Ausfälle galt dasselbe.
Doch im Fall Hermann Scheer zog ich die Karte Erststimme in der Bundestagsfraktion. Scheer wollte, dass auch die Darmstädter Wahlkreissiegerin Dagmar Metzger ihr Mandat abgäbe. Scheer ist im Gegensatz zu Metzger zeitlebens nur über die Liste bei sehr mittelmäßigen Wahlkreisergebnissen ins Parlament eingezogen und besaß die Frechheit, von Metzger, die ihren Wählern persönlich versprochen hatte, nicht mit der SED zu koalieren, den Bruch ihres Versprechens zu verlangen.
Das wollte ich nicht so stehen lassen. Ich ging in der Fraktion ans Mikro und gab ihm eine Klatsche vor der versammelten Mannschaft. Wörtlich sagte ich unter anderem: „Ein Kollege, der das Wort ‚Direktwahlsieger‘ nur aus der Literatur kennt, verlangt die Rückgabe eines solchen Mandats. Ich bin erschüttert und fordere Scheer auf, das ungebührliche Verlangen zurückzunehmen. Demokratie geht anders.“
Zur Koalition SPD-SED kam es nicht, Hermann Scheer wurde auch nicht Minister.
Siehe auch: „Wenn Politik Züge von Religion annimmt“ auf der Website von Dagmar Metzger.
Gunter Weißgerber (Jahrgang 1955) trat am 8. Oktober 1989 in das Neue Forum ein und war am 7. November 1989 Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Den Deutschen Bundestag verließ er 2009 aus freier Entscheidung. 2019 trat er aus der SPD aus. Die Gründe dafür erläutert er hier. Er sieht sich, wie schon mal bis 1989, wieder als “Sozialdemokrat ohne Parteibuch”. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie. Er ist derzeit Unternehmensberater und Publizist.