Gunter Weißgerber / 28.02.2025 / 06:00 / Foto: Montage achgut.com / 32 / Seite ausdrucken

Zwei Lehrstücke für Erststimmen-Leugner

Das aktuelle deutsche Wahlsystem mit seiner Entwertung der Erststimme schwächt die Demokratie und stärkt Parteiapparate. Wenn der Bundestag ohne solche Entdemokratisierung nicht wieder so groß werden soll wie der letzte, dann hilft die Rückkehr zum Wahlrecht von 1990.

Zwei Stimmen bieten die Wahlzettel zur Bundestagswahl dem gemeinen Bundesbürger an. Mit der Erststimme wählt das jeweilige Wahlkreisvolk seinen Vertreter im Bundestag. Die Erststimme sichert die flächendeckende Vertretung des Souveräns im höchsten Deutschen Parlament ab. Ein demokratietheoretisch herausragender Aspekt des Wahlrechts.

Parteien sind nicht der Staat, sind nicht die organisierte Meinungsbildung an sich, sondern wirken an der politischen Meinungsbildung im demokratischen Staat mit. So steht es im Grundgesetz Art. 21 (1). 

Die Parteien stehen nicht über dem Staat. „Erst die Partei, dann der Staat!“ ist damit theoretisch ausgeschlossen. Grau ist alle Theorie, ich weiß. Die Mitwirkungsrolle am Wahlergebnis der Parteien erfüllt sich in der Zweitstimme zur Bundestagswahl. Mit der Erststimme bestimmt der Souverän den Wahlkreisvertreter, und mit der Zweitstimme „legt“ er die jeweilige Stärke der Parteien in der Volksvertretung fest.

Der Abgeordneteninflation wurde Tür und Tor geöffnet

Die jeweilig erreichten Prozente der Parteien nach den Zweitstimmen in den 16 Bundesländern sind die Obergrenze für die mögliche Anzahl zu entsendender Abgeordneten je Partei und Bundesland. Das erste gesamtdeutsche Parlament nach der Wiedervereinigung wurde am 2. Dezember 1990 in 328 Wahlkreisen gewählt. Theoretisch wären das 328 Direktwahlsieger und 328 Listenabgeordnete gewesen. Machte zusammen 656 Bundestagsabgeordnete. Ins Parlament zogen aber 662, also sechs Abgeordnete mehr ein. Die sechs MdBs waren Überhangmandate, die sich ergaben, wenn Parteien mehr Direktwahlsiege erreichten, als ihre prozentuales Zweitstimmenergebnis zuließ. Sechs MdBs mehr, das war kein Problem und wäre auch heute keins.

Für 2002 reduzierte der Bundestag die Zahl der Wahlkreise von 328 auf 299, um das Parlament zu verkleinern. Das war vernünftig. Es gab weiterhin Überhangmandate. Theoretisch wären 299 Direktwahlsieger und 299 Zweitstimmenabgeordnete in den Bundestag entsandt worden. Praktisch waren es aber 603 MdBs, also fünf Parlamentarier „über den Durst“. Diese fünf Abgeordneten mehr waren kein Problem, wären es auch heute nicht. Es blieb dem Bundestag für 2009 vorbehalten, das Institut des Ausgleichsmandats einzuführen. Der Abgeordneteninflation wurde damit Tür und Tor geöffnet. Die sozialistische Gerechtigkeit brach sich Bahn, die „Benachteiligten“ der Überhangmandate wurden mit Ausgleichsmandaten belohnt. 

Der Deutsche Bundestag sollte die Regeln des 1990er Wahlrechts auf der Basis der nunmehr 299 Wahlkreise wieder übernehmen! Die direkte Stimme und regionale Vertretung der Bevölkerung wäre wieder gesichert, und den inflationären Bundestag gäbe es auch nicht mehr. Die einzigen Pokerspieler, die das verhindern wollen und können, sind die Parteiapparate. Weil die durch die Erststimme Einfluss verlieren. Noch besser wäre das Mehrheitswahlrecht. 299 Wahlkreise entsprächen 299 Abgeordneten. Nicht mehr, nicht weniger und das beinahe für immer. Immer gibt es nur im Märchen, deshalb das Wörtchen „beinahe“.

Richard Schröder

Ein bedeutender ostdeutscher Sozialdemokrat praktischen und philosophischen Hintergrunds wurde 1994 Opfer der Zweitstimme. Viele ostdeutsche Sozialdemokraten hofften auf den Brandenburger Richard Schröder, den ersten und tatsächlich bedeutenden SPD-Fraktionsvorsitzenden in der Volkskammer der freien DDR. Richard Schröder kandidierte aber in keinem Wahlkreis seines Bundeslandes. Er wollte niemandem vor Ort Konkurrenz machen. Stattdessen gab ihm die Brandenburger SPD den Listenplatz eins. Pech für Richard Schröder, Pech für Ostdeutschland, die Brandenburger SPD gewann sämtliche Wahlkreise und die Liste „zog“ nicht mehr. Richard Schröder schaffte es nicht in den Bundestag. Ich und viele meiner Kollegen empfanden das als herben Verlust. Richard Schröder wäre eine sehr gute Stimme das Ostens geworden. 

Genörgelt hatte damals dennoch niemand in der SPD. So waren die Regeln und die waren okay. 

Hermann Scheer 

2008 drehte die SPD-Linke am Rad, besonders die Ypsilanti-SPD in Hessen. Vor der Wahl versprach Andrea Ypsilanti, niemals nicht eine Koalition mit Linksaußen eizugehen. Nach der Landtagswahl galt das nicht mehr. „Solarpapst“ Hermann Scheer heizte ihr beim Vergessen des Wahlversprechens ordentlich mit ein. Er wollte in einem SPD-SED-Kabinett nachhaltiger Sonnen-und-Wind-Wirtschaftsminister werden. Vier frisch gewählte hessische SPD-Landtagsabgeordnete verweigerten der Koalitionsbildung ihre Zustimmung. Der linke Furor gegen diese freigewählten Deputierten war enorm und lässt sich nur dem jetzigen Furor gegen AfD-Mitglieder vergleichen. Teilweise wähnten sich diese mutigen Politiker in Lebensgefahr.

Die Situation wurde selbstverständlich auch in der SPD-Bundestagsfraktion heiß diskutiert. Hermann Scheer forderte die Rückgabe des Mandats der freigewählten MdLs. Normalerweise spielte und spielt es in den Fraktionen nie untereinander eine Rolle, ob Kollegen direkt oder per Zweitstimme Abgeordnete waren. Kompetente Kollegen gab es sowohl unter den Direktgewählten als auch unter den Listenabgeordneten. Für Ausfälle galt dasselbe. 

Doch im Fall Hermann Scheer zog ich die Karte Erststimme in der Bundestagsfraktion. Scheer wollte, dass auch die Darmstädter Wahlkreissiegerin Dagmar Metzger ihr Mandat abgäbe. Scheer ist im Gegensatz zu Metzger zeitlebens nur über die Liste bei sehr mittelmäßigen Wahlkreisergebnissen ins Parlament eingezogen und besaß die Frechheit, von Metzger, die ihren Wählern persönlich versprochen hatte, nicht mit der SED zu koalieren, den Bruch ihres Versprechens zu verlangen. 

Das wollte ich nicht so stehen lassen. Ich ging in der Fraktion ans Mikro und gab ihm eine Klatsche vor der versammelten Mannschaft. Wörtlich sagte ich unter anderem: „Ein Kollege, der das Wort ‚Direktwahlsieger‘ nur aus der Literatur kennt, verlangt die Rückgabe eines solchen Mandats. Ich bin erschüttert und fordere Scheer auf, das ungebührliche Verlangen zurückzunehmen. Demokratie geht anders.“ 

Zur Koalition SPD-SED kam es nicht, Hermann Scheer wurde auch nicht Minister. 

Siehe auch: „Wenn Politik Züge von Religion annimmt“ auf der Website von Dagmar Metzger.

 

Gunter Weißgerber (Jahrgang 1955) trat am 8. Oktober 1989 in das Neue Forum ein und war am 7. November 1989 Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Für die SDP/SPD sprach er regelmäßige als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90. Er war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Den Deutschen Bundestag verließ er 2009 aus freier Entscheidung. 2019 trat er aus der SPD aus. Die Gründe dafür erläutert er hier. Er sieht sich, wie schon mal bis 1989, wieder als “Sozialdemokrat ohne Parteibuch”. Weißgerber ist studierter Ingenieur für Tiefbohr-Technologie. Er ist derzeit Unternehmensberater und Publizist.

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

Dr. med. Jesko Matthes / 28.02.2025

Tempi passati. - Danke für die Erinnerung an Richard Schröder. So eine SPD hätte sogar ich gewählt. - Tempi passati.

Rainer Niersberger / 28.02.2025

Koennte es sich hier um Absicht handeln? Mir ist klar, dass Parteifunktionaere, ehemalige und aktive, bei aller “Kritik” natuerlich in den Kategorien des Parteiensytems denken und daran auch festhalten. Dessen ungeachtet koennte man ja mal darueber reflektieren, ob es sich nicht auch hier um einen so gewollten Prozess handelt, der einen schlichten und deshalb leicht verstaendlichen Grund hat. Macht und Alimentation z.B., oder mehr Macht und noch mehr Alimentation fuer noch mehr “Freunde”.  Eine menschlich uebrigens durchaus nachvollziehbare Entwicklung. Wen man ihm, dem homo, erst recht dem “Politiker” mit seiner besonderen Veranlagung, Chancen bietet wird er sie nutzen. Immer mehr und er wird das System immer weiter perfektionieren. Bis er ” unabhaengig” wird, vom “Demos”.  Sonderlich demokratisch ist das nicht, aber das stört den Funktionär nicht. Und der Michel, 80 %, nimmt alles hin, solange gewisse Bedürfnisse ausserpolitischer Art befriedigt werden. Das weiss der Funktionär auch. Nachdem das “BVerfG” passend besetzt ist, droht auch hier keine Gefahr. Und so wird aus der repräsentativen ( hier darf gelacht werden) Demokratie eine Parteien - oder Funktionärsdemokratie, eine Simulation. Simulationen sind heute allgemein ueblich und sehr geschätzt.  Die Ursachen dafuer sind klar. Realitaet und Realismus sind fuer den Michel eher unangenehm.

Adam West / 28.02.2025

Einfacher wäre das Grabensystem: Eine Seite mit 300 Wahlsiegern aus den Wahlkreisen (Erststimme), die andere Seite mit 300 Mandaten aus der Liste (Zweitstimmen). Hätte den Vorteil, dass direkte Nähe zum Bürger belohnt würde. Und kleine Parteien, die bei Journalisten populär sind aber beim Bürger nicht, keinen überproportionalen Einfluss haben.

Axel Gojowy / 28.02.2025

Würde man die Stimmen der Nichtwähler achten, verkleinerte sich der Bundestag ebenfalls. 8ß% Wähler sollte sich auch mit nur 80% der Futterplätzer darstellen

B.Jacobs / 28.02.2025

Dieser übersättigte, vollgefressen Bundestag, der mit Inkompetenz und diktatorischen Allüren das eigene Volk ausraubt, gehört in dieser Form weg. Ebenso die dümmliche EU, die sich in ihrem Größenwahn Weltmacht zu spielen, anmaßt Europa in den Krieg zu führen. Jeder kleine Mann wird für seine Missetaten zur Verantwortung gezogen und die Politganoven nicht, die rotzfrech das Volk weiter betrügen wollen. Begonnen bei den Grünen, gefolgt von der SPD, die sich nicht genieren Wirtschaft zu ruinieren und durch unkontrollierte Massenmigration das eigene Volk, nebst integrierten Migranten in akute Lebensgefahr bringen. Wir brauchen wieder geregelte, begrenzte Bezüge der Politiker ohne eigenmächtige Gehaltserhöhungen und Transparenz in deren Bezügen. Dann brauchen wir nicht ganze Heere von Staatsbeamten, die das Chaos noch schlimmer machen, sondern wir früher nur eine Handvoll Mitarbeiter für die Politiker die noch in Eigenverantwortung gesunde Entscheidungen zum Wohl des Volkes zu treffen. Migrationsräte gehören weg, denn das läuft kontraproduktiv zur Integration einher. Warum kann Donald Trump nicht unser Land aufräumen von Politnieten zu befreien, bei denen Verantwortung als Volksvertreter, das sie nicht mehr sind, fremd geworden ist.

Niko Akathari / 28.02.2025

Vom Volkswahlrecht zum Parteienwahlrecht ...

Andreas Loeffl / 28.02.2025

Moin Herr Weißgerber, eine Frage zum Hintergrund: Was ist eigentlich der Sinn der “Liste”? Also, ich meine den Sinn für den demokratischen Prozess, den wirklichen Vorteil für die Zusammensetzung des Parlaments - nicht der Sinn für die Parteien oder Kandidaten! Die BPB schrieb dazu mal sinngemäß in einem Artikel, “...die Liste solle wichtigen Politikern, die aber in Ihrem Wahlkreis keine Chance haben, den Einzug in ein Parlament ermöglichen…”. Meine Nachfrage dort, wie ein Politiker “wichtig” seien könne, wenn er doch mit seiner Politik “keine Chance” habe, wurde leider nie beantwortet. Haben Sie eine Idee? Sonnige Grüße aus dem weiten Land zwischen Hannover und Bremen Andreas

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gunter Weißgerber / 07.05.2025 / 10:00 / 39

Donald Trump und das Momentum

Die bisweilen irrlichternde Amtsführung des US-Präsidenten scheint zu ihrem ursprünglichen Momentum zurückzufinden. Seine neueste Idee: Die USA sollen den 8. Mai künftig auch als "Tag des…/ mehr

Gunter Weißgerber / 03.04.2025 / 14:00 / 40

Ein Schwererziehbarer erzieht schwer Erziehbare

Donald Trump, ein Mann mit Elefantengedächtnis, zieht jetzt mit den Zöllen durch und alle sind erschrocken. Eine Überraschung ist das nicht, denn der US-Präsident hatte…/ mehr

Gunter Weißgerber / 13.03.2025 / 09:45 / 20

Mehr Realismus wagen

Viele Politiker bleiben bei der Ukraine-Politik in ihrer Wunsch-Wahrnehmung gefangen. Die beiden Sozialdemokraten Gunter Weißgerber und Robert Hagen, der eine schon ohne und der andere…/ mehr

Gunter Weißgerber / 26.02.2025 / 06:00 / 109

Nach der Wahl: Wie geht es jetzt weiter?

Wem das Wohl und Wehe der eigenen Bevölkerung und des eigenen Landes am Hintern vorbeigeht, der bekommt eben spezielle Wahlergebnisse. Doch welche realpolitischen Möglichkeiten gibt…/ mehr

Gunter Weißgerber / 20.02.2025 / 14:00 / 102

Der doppelte Trump

Donald Trump macht vieles richtig, da würde ich ihm gern anerkennend auf die Schulter klopfen. Hinsichtlich der Ukraine bin ich aber maßlos erschüttert. Wie geht das…/ mehr

Gunter Weißgerber / 15.02.2025 / 12:00 / 78

Der erste Verfassungszusatz der USA auf Stippvisite in München

Am 14. Februar sprach nicht irgendwer aus Übersee in München zur versammelten Elite aus Politik, Medien, NGOs. Es war sozusagen der erste Verfassungszusatz der Verfassung…/ mehr

Gunter Weißgerber / 13.02.2025 / 14:00 / 36

Fracksausen vor dem amerikanischen Reform-Virus

Staatsstreich in den USA! So tönen manch deutsche Alarmrufe. Aber was, wenn Trump nur zurückstreicht? Fürchten die EU-Apparatschiks etwa schon um ihre Brüsseler Spitzenposten? Landauf, landab…/ mehr

Gunter Weißgerber / 04.02.2025 / 15:00 / 27

US-Waffen gegen ukrainische Rohstoffe: Ein guter Trump-Deal?

Donald Trump könnte für weitere US-Waffenhilfe ukrainische Rohstoffe bekommen. Kanzler Scholz nennt die Idee für „egoistisch und „sehr selbstbezogen“. Dabei wäre es ein Geschäft, das beiden Seiten…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com