Am Anfang war Unbehagen über ein Interview in den Tagesthemen. Moderatorin Carmen Miosga als unterwürfige Stichpunktgeberin, Carolin Emcke, die diesjährige Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, als Allwissende und über jeden Zweifel Erhabene. Die Frau will locker rüberkommen, wirkt aber eher verkniffen, reagiert auch unangemessen. So bricht sie zum Beispiel als Miosga fragt, ob es nicht allmählich Zeit sei für einen neuen „Aufstand der Anständigen“, in lautes Gelächter aus: Sie würde für diesen Aufstand gern auch viele „Unanständige“ mitnehmen. Der Witz zündet nicht, irgendwas stimmt da grundsätzlich nicht, es ist wohl die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Carolin Emcke inszeniert sich als „Suchende“, hat aber in Wahrheit längst alle Antworten gefunden. Danach hörte ich ihre Frankfurter Rede, las ihre Artikel, und der erste Eindruck vertiefte sich.
Die Journalistin und Philosophin Emcke umgibt der Nimbus der „sensibel wahrnehmenden“ und „nüchtern aufklärenden“ Kriegsreporterin. Nach eigener Aussage schreibt sie gegen „apokalyptische Weltsichten“ an, „mit Texten, die sich auf die reale Welt und Fakten beziehen“. In ihrem aktuellen Buch „Gegen den Hass“ versucht sie, „Wahrnehmungsraster“ ausfindig zu machen, mit denen „Menschen in ihrer einzigartigen Individualität“ zu „angeblich gefährlichen Anderen“ konstruiert und kollektiv ausgegrenzt werden. Wir alle müssten verhindern, fordert sie in dem schon erwähnten Tagesthemen-Interview, dass es überhaupt möglich ist, Bösartigkeit auf Menschen zu projizieren, die Angst hätten – und meint damit Rechtspopulisten und Flüchtlinge. Böse Gedanken und Worte für alle Zeiten aus der Welt schaffen zu wollen, mag ein frommer Wunsch sein, klingt aber weniger nach Fakten als nach einer völlig lebensfremden Utopie.
Eine Hohepriesterin der politischen Korrektheit und die Quadratur des Kreises.
Nein, Emcke ist alles andere als eine nüchterne Chronistin dessen, was ist. Eines ihrer Hauptanliegen ist die Warnung davor, dass die „Grenzen des Sagbaren verschoben“ werden. Ressentiments und „rassistische Zuschreibungen“ dürfen nicht ausgesprochen werden, und was alles „rassistisch“ ist, bestimmt die Journalistin. Das hat etwas Totalitäres. In ihrer Frankfurter Rede tritt sie nach gegen Martin Walser, einen ihrer Vorgänger, der 1998 in seiner umstrittenen Dankesrede gesagt hatte, der Umgang mit Auschwitz eigne sich nicht als „Moralkeule“ oder „Pflichtübung“. Über diese Formulierungen, die manche als Versuch interpretierten, einen „Schlussstrich“ zu ziehen, wurde damals – besonders zwischen Walser und dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden Bubis – erbittert gestritten. Doch für Emcke verbieten sich kontroverse Äußerungen dieser Art von vornherein. Lieber nimmt sie die Pose einer Hohepriesterin der politischen Korrektheit ein: „Ich kann hier nicht stehen, ohne an diesen nicht nur für Ignaz Bubis furchtbar schmerzlichen Moment in der Geschichte des Preises zu erinnern.“
Als 2010 durch die hitzige Diskussion um die beiden Bücher „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin und „Das Ende der Geduld“ von Kirsten Heisig erstmals in der breiten Öffentlichkeit das Thema der muslimischen Parallel- und Gegengesellschaften in Deutschland diskutiert wurde, gehörte Emcke mit ihrem Artikel „Liberaler Rassismus“ in der ZEIT zu denjenigen, die dabei halfen, die wichtige Diskussion abzuwürgen und zu tabuisieren. Vergleicht man die Aussagen dieses Schlüssel-Artikels mit ihren Positionen des Jahres 2016, stellt man fest, dass sich seitdem an diesen nichts entwickelt oder verändert hat. Das behauptete Erkenntnisinteresse, die angebliche „Neugier“ sind nur vorgetäuscht, eine sympathische Verpackung. Der Inhalt aber ist ideologischer Beton.
Emcke preist die bunte Vielfalt der multikulturellen Gesellschaft, die individuelle Unverwechselbarkeit jedes einzelnen Menschen und die „demokratische Geschichte“, die „von allen gemacht“ wird, doch diejenigen, die Hass produzieren – und das sind für sie offenbar sehr viele – gehören von alledem ausgeschlossen. Einen Widerspruch vermag sie darin nicht zu erkennen. „Kollektive Identitäten“ wie Nationen hält sie für „konstruiert“. Ihre Theorie, dass alles „konstruiert“ sei, setzt sie als selbstverständliche und allgemein anerkannte Wahrheit voraus. Dass sie krampfhaft versucht, all das zu dekonstruieren, was eine Gesellschaft üblicherweise zusammenhält, im selben Atemzug aber an die „Gesamtgesellschaft“, appelliert, keine „Muster der Ausgrenzung“ mehr zu dulden, gleicht einer Quadratur des Kreises.
Dabei schottet Emcke sich und ihre Thesen schlau gegen mögliche Kritik ab. Wer wollte ihrem Plädoyer gegen „Verallgemeinerung“ und „Ausgrenzung“ widersprechen? Wer kann etwas dagegen einzuwenden haben, dass sie den „Opfern eine Stimme geben“ will? Zumal sie selbst nach eigener Aussage „als Homosexuelle und als Publizistin […] gleich zu zweien der in diesem Kontext besonders verhassten gesellschaftlichen Gruppierungen“ gehöre. Eine Frau, die – wie Adam Soboczynski richtigerweise bemerkt, „heute zur global bestens vernetzten und arrivierten Meinungselite zählt“, geriert sich als Opfer. Entsprechend zaghaft fiel nach ihrer Frankfurter Rede die Kritik aus. Bevor die Feuilletonisten sich trauten, leisen Widerspruch zu äußern, wurden stets erst einmal die „kluge“ und „großartige“ Rede oder das „überzeugende Plädoyer für Menschenrechte, Liberalismus und Diversität“ gelobt.
Der blinde Fleck
Hass definiert Emcke als „Engführung der Wirklichkeit“. Überall sieht sie „Populisten und Fanatiker der Reinheit“ ihr Unwesen treiben, die „polnische und rumänische Europäerinnen“ jagen, „schwarze Deutsche“ angreifen, „muslimischen Frauen den hijab“ und „jüdischen Männern die Kippa vom Kopf reißen“. Ist das wirklich eine nüchterne Beschreibung der Wirklichkeit, oder verzerrt Emcke hier nicht selbst in grotesker Weise die Realität und produziert genau das, was sie anderen vorwirft: eine apokalyptische Phantasmagorie? Wer reißt denn bitte muslimischen Frauen in Deutschland den Hijab vom Kopf? Wer jagt gar Polinnen durch die Straßen oder greift dunkelhäutige Deutsche an?
Auffällig ist auch, dass Muslime in Emckes Texten ausnahmslos in der Opferrolle vorkommen. In ihrer Frankfurter Rede ergänzt sie ihr Plädoyer für die sexuelle Selbstbestimmung lesbischer Frauen ausgerechnet mit dem Beispiel von „Islamfeinden“, die Frauen das Recht absprechen wollen, ihre Kopftücher „selbstbestimmt und selbstverständlich“ zu tragen. Im Interview mit dem Tagesspiegel führt sie als Beispiel für negative Stereotypen an: „Immer sind die Muslime schuld“. Und im Tagesthemen-Interview beschreibt sie als Opfer des Hasses „diejenigen, die Angst haben müssen, auf die Straße zu gehen, vor deren Schulen oder Synagogen oder Moscheen Polizeischutz steht“.
Hat die Kriegsreporterin bei ihren zahlreichen Auslandsreisen wirklich nicht mitbekommen, wie Christen und andere Andersgläubige als rechtlose Minderheiten fast überall in der islamischen Welt von Extremisten drangsaliert, verfolgt oder sogar umgebracht werden? Weiß sie nicht, dass sich in Deutschland die Berichte über Übergriffe von Muslimen auf christliche Flüchtlinge häufen? Ist ihr nicht bewusst, dass auch in Moscheen und innerhalb der muslimischen Communities in Deutschland Hass, Vorurteile und Ressentiments en masse produziert werden? Nichts davon taucht in ihren Texten auf. Die „religiösen Fanatiker“ und „Dschihadisten“, die sie hin und wieder alibihaft einflicht, wirken wie Nebelkerzen, die den blinden Fleck des islamischen Extremismus jedoch nicht verdecken können.
Eine perfide Masche
Damit nicht gleich auffällt, dass sie sich – aus welchen Gründen auch immer – als Sprachrohr der reaktionären deutschen Islamverbände betätigt, mit denen sie das genüssliche Auswalzen der selbstgewählten Opferrolle gemein hat, wendet Emcke eine Masche an, die man nur als perfide bezeichnen kann: Sie garniert und veredelt die Beispiele ihrer „Engführung der Wirklichkeit“ in Deutschland, wonach Muslime angeblich permanent diskriminiert und verfolgt würden, mit jüdischen Attributen wie „Synagogen“ und „Kippas“. Ihre Aufzählung der scheinbar gleichwertigen Opfergruppen „Muslime und Juden“ lässt einen erst einmal automatisch mit dem Kopf nicken, bis man stutzt und ins Grübeln kommt: Sind es nicht in den meisten Fällen gerade religiös verhetzte arabische Jungmänner, die jüdischen Männern die Kippa vom Kopf reißen? Steht der Polizeischutz vor den Synagogen (nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Ländern Westeuropas) etwa wegen einheimischer Rechtspopulisten, oder nicht vielmehr aus der berechtigten Angst heraus, islamische Extremisten könnten ihren Judenhass in die Tat umsetzen?
Wer den Jubel der anwesenden Politprominenz bei der Preisverleihung in der Franfurter Paulskirche gesehen hat, die geradezu hysterische Affirmation, die Carolin Emcke von Claudia Roth, Heiko Maas, Aiman Mazyek, Joachim Gauck und vielen anderen zuteil wurde, begreift, dass das Buch „Gegen den Hass“ zur rechten Zeit kommt. Es ist ein willkommener Persilschein für eine verunsicherte politische Klasse, die es längst aufgegeben hat, in einer sie überfordernden Epoche der Globalisierung und Massenmigration reale Veränderungen anzustreben. Stattdessen legen diese Politiker alle ihre Kräfte in den Kampf gegen den in den Nischen der Internetforen und Kommentarspalten noch verbliebenen Widerspruch, den sie versuchen, pauschal als „Hass“ zu denunzieren und mundtot zu machen. Emcke als „Progadandistin der Reinheit“, nämlich der Reinheit der Gesellschaft von echtem Meinungsstreit, kommt da als Preisträgerin wie gerufen.
Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor. 2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“.