Vera Lengsfeld / 18.02.2008 / 22:46 / 0 / Seite ausdrucken

Die düstere Seite von Tallin

Tallin ist sicher die schönste der baltischen Hauptstädte. Wenn man durch die Altstadt schlendert, staunt man, wie gründlich alles Sowjetische verschwunden ist. Die Häuser sind restauriert, eine Fülle von Cafes, Restaurants, Szenelokalen und Läden locken den Besucher.
Ab und zu gibt es deutsche Namen auf den Hinweistafeln: Kick in de Köck heißt einer der Türme der Stadtmauer, Weckengang eine kleine Gasse mit der ältesten Bäckerei der Stadt. Das erste Haus am Marktplatz heißt „Alte Hanse“, gegenüber liegt der „Pfeffersack“. Mir schmeckt es am besten im „Klosteri Alt“
Die Baltendeutschen haben jahrhundertelang die Gegend geprägt. Jetzt gibt es sie kaum noch. Warum, erfahren wir im „Okkupationsmuseum“ Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurden Estland und die andern baltischen Staaten von den Sowjets besetzt. Die Deutschen durften ausreisen, mussten aber ihr Hab und Gut zurücklassen. Geblieben sind die Kommunisten. Sie waren später maßgeblich am Widerstand gegen die Nazis beteiligt. In einer Vitrine liegt ein Flugblatt, auf dem der deutsche Kommandant von Tallin die Hinrichtung von fünf Menschen ankündigt, die feindlichen Fallschirmspringern geholfen haben sollen. Vier davon waren Baltendeutsche, die jüngste 21 Jahre alt, die Friseuse Heli Dunkel. Hingerichtet wurden sie im schrecklichsten Gebäude der Stadt, das wir nach dem Okkupationsmuseum besuchen. Es steht direkt am Ostseestrand, in Sichtweite des Hafens. Gebaut wurde es als Festung unter Zar Nikolaus dem Ersten, später in eine Kaserne umgewandelt, dann in ein Gefängnis. Die Schrecken des Paterei- Gefängnisses stehen denen der Lubljanka nicht nach. Das Gebäude ist 200 m lang, drei Stockwerke hoch, durch mehrere Anbauten aus sowjetischer Zeit erweitert und ergänzt. Bis zum Jahr 2001 wurde es noch als Gefängnis betrieben, dann geschlossen. Jetzt soll es auf seine Festungsstruktur zurückgebaut und in ein Luxushotel umgewandelt werden. Allerdings kann man sich kaum vorstellen, wie es aussehen könnte, wenn die Reichen und Schönen hier einen Wellness-Aufenthalt buchen.
Diese Mauern haben jahrzehntelang Leid und Tod aufgesogen. Kann hier je die Leichtigkeit des Seins herrschen?
Vorerst deutet nichts darauf hin. Die doppelt mannshohen Mauern umschließen ein riesiges verwahrlostes Gelände, in dem alle Erfindungen des sowjetischen Geheimdienstes für die Gefangenenhaltung zu finden sind. Das geht los, mit den Freiluftkäfigen auf dem Hof. Die kenne ich vom Stasiknast Hohenschönhausen. Nur, dass es hier passieren konnte, dass die Gefangenen tagelang in diesen Käfigen ausharren mussten, wenn das Haus gerade überfüllt war. Wenn ein politischer Gefangener schließlich zur Aufnahme ins Gebäude gebracht wurde,
steckte man ihn erst einmal in eine 1,60 m hohe und kaum 60 cm breite Zelle, um ihm klar zu machen, dass er aus seinem Leben vollständig heraus gefallen war. Erst nach Stunden wurden die Häftlinge in die Effektenkammer geführt. Es wurde immer nur einer abgefertigt, die andern mussten wieder in kleinen Kammern warten, die zwar höher waren, so dass man aufrecht stehen konnte, aber mit einer Art Sieb an der Decke bedeckt, durch das kaltes Wasser gegossen wurde, um den Gefangenen das Warten unerträglicher zu machen. Wer dann in die Zellen kam, musste sich die mit dutzenden anderen Gefangenen teilen. In einigen Zellen gibt es nur einen Balken in der Mitte, auf dem man sitzen konnte, sonst nichts. Die Fenster der Zellen auf der Meerseite sind mit Sichtblenden versehen. Die Gefangenen sollten keinen Trost darin finden, auf das Meer zu blicken und einen Augenblick ihre verzweifelte Lage zu vergessen. In den Zellen der zum Tode Verurteilten gibt es ein Klappbett, das tagsüber an der Wand befestigt wurde, einen schmalen Stamm als Sitz und ein kaum breiterer Stamm als Tischchen. Die Wände sind in einem Dunkelbau gestrichen, das man auch unter mehreren Farbschichten in Hohenschönhausen gefunden hat. Die Gefangenen sollten in ihren letzten Tagen nichts Freundliches in ihrer Umgebung finden. Wenn der Todgeweihte zur Hinrichtung abgeholt wurde, sagte man ihm, es gehe zum Duschen.

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