Von Christoph von Marschall.
Wie transatlantisch sind wir?
Die westlichen Demokratien standen schon vor der US-Wahl 2016 unter erheblichem Druck. Ganz besonders galt das für die EU-Länder. Und dann kam auch noch Donald Trump. Er wurde zum Inbegriff für alles, was falsch läuft, zumindest in den deutschen Debatten.
Liegt das nur an ihm? Und war es unausweichlich? In der Theorie hätte sich das deutsche Verhältnis zu Trumps USA anders entwickeln können – sagen jedenfalls Nicht-Deutsche, die das Staunen noch nicht verlernt haben und das deutsche Leiden an den USA mit Verwunderung wahrnehmen. Da zieht ein Mann mit deutschen Wurzeln ins Weiße Haus ein, zum vierten Mal nach Herbert Hoover, Dwight Eisenhower und Richard Nixon. Der Großvater stammt aus Kallstadt in der Pfalz, in dem leicht amerikanisierten Nachnamen Trump lässt sich noch die deutsche Urform Drumpf erkennen. Man könnte den zwei Generationen kurzen Weg vom einfachen Einwanderer zum Präsidenten auch als Aufstiegsgeschichte erzählen – und bei allen inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten ein wenig stolz darauf sein, dass ein Landsmann solch einen Erfolg errungen hat.
Es kam gerade umgekehrt. Dem Präsidenten mit den deutschen Wurzeln gaben die Bundesbürger bei Fehltritten oder umstrittenen Entscheidungen keinen emotionalen Rabatt. Sie gingen schärfer mit ihm ins Gericht als andere Nationen. In den deutschen Debatten über den Zustand des Globus seit der überraschenden Wahl dieses US-Präsidenten am 8. November 2016 klingt es oft so, als sei Trump die Hauptursache der schwierigen Lage.
In Wahrheit waren die vielfältigen europäischen Binnenkonflikte und Krisen allesamt offenkundig, bevor Trump die transatlantische Bühne betrat. Sie haben ursächlich mit ihm nichts zu tun. Sie sind älter als sein Einstieg in die internationale Politik. Doch als er ins Amt kam, passierte etwas Erstaunliches. In Deutschland redeten viele so, als sei er das entscheidende Glied in den Argumentationsketten – sowohl bei den europäischen Herausforderungen wie der Migrationskrise, der Zukunft des Freihandels, der Verteidigungspolitik, der Energieversorgung, dem Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und mit Russland als auch bei den außereuropäischen Streitthemen. Die Medien und die Bürger in Deutschland haben oft klare Meinungen zu diesen Konflikten. Die Bundesregierung und ihre Partner in Europa üben aber wenig Einfluss aus, weil die EU-Staaten sich nicht zu einer gemeinsamen Position durchringen können oder weil sie die Risiken der Einmischung scheuen; dazu gehören zum Beispiel der Nahostkonflikt, die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die Bedrohung durch Nordkoreas Atomwaffen und der Umgang mit China.
Ebenso wahr ist freilich, dass auch Trump keinen Stolz auf seine Familiengeschichte erkennen lässt. In früheren Lebensabschnitten schien es fast so, als wolle er seine Herkunft neu erfinden. Er gab sich als Abkömmling von Schotten oder Schweden aus. Im Wahlkampf und in den ersten anderthalb Jahren seiner Präsidentschaft benutzte er Deutschland als verbalen Prügelknaben. Ob Migrationspolitik, Verteidigungsausgaben oder Exportüberschuss: Nach seinem Urteil machte die Bundesregierung alles falsch.
Der Januar 2017, in dem Trump als US-Präsident vereidigt wurde, war zugleich der Beginn eines Wahljahres in Deutschland mit mehreren Landtagswahlen sowie der Bundestagswahl im September. Bei ganz vielen Themen, die auch ohne direkten Bezug zu ihm hätten diskutiert werden müssen, rückte Trump ins Zentrum des Meinungsstreits. Man dürfe doch nicht ihm zuliebe die Verteidigungsausgaben allmählich in Richtung zwei Prozent vom BIP erhöhen. Im Konflikt um die gemeinsame europäische Energiepolitik und die Russland-Sanktionen hieß es nun, Deutschland dürfe sich nicht von Trump vorschreiben lassen, wie es sich versorge. Nach Trumps Ankündigung, die USA aus dem Pariser Klimaabkommen herauszuführen, konnte man in erstaunlich vielen Kommentaren lesen, China sei auf diesem Feld ein besserer Verbündeter als die USA.
Manche bejubelten sogar den Beitritt Syriens zum Klimaabkommen – ein Bürgerkriegsland unter einem grausamen Diktator, der Giftgas einsetzt und Krankenhäuser bombardieren lässt. Es ist wohl unbestritten, dass Giftgas und Krieg nicht gerade klimafreundlich sind. Aber wichtiger war denen, die Syriens Beitritt lobten, diese Erkenntnis: Damit seien die USA der einzige Staat weltweit, der sich nicht zum Pariser Abkommen bekenne; sie seien also vollkommen isoliert. Die Häufung von Hurrikans im ersten Trump-Jahr wurde als Beleg interpretiert, wie verfehlt die amerikanische Klimapolitik sei – obwohl solche Häufungen auch in der Vergangenheit alle zehn bis zwölf Jahre zu beobachten waren.
Überhaupt China: Das Land, das gegen so viele Prinzipien der freien Marktwirtschaft verstößt und Protektionismus praktiziert, wurde 2017 zur Hoffnung für eine liberale Handelsordnung erklärt. Denn Trump war aus der Transpazifischen Wirtschaftspartnerschaft TPP ausgetreten und drohte, die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA (Kanada, USA, Mexiko) zu kündigen oder den Vertrag zumindest neu zu verhandeln. Kurz zuvor waren viele in Deutschland noch gegen Freihandel auf die Straße gegangen, speziell gegen ein Transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP). Tatsächlich hatten die TTIP-Gegner nur in drei von 28 EU-Staaten – Deutschland, Luxemburg, Österreich – in manchen Umfragen die Mehrheit gehabt, anderswo dominierten die Befürworter. Im Eurobarometer vom Herbst 2016 waren 53 Prozent der EU-Bürger für ein TTIP, 34 Prozent dagegen, 13 Prozent unentschieden. Dennoch taten die deutschen TTIP-Gegner so, als gebe es eine paneuropäische Widerstandsbewegung. Als nun aber Trump gegen Freihandel agitierte und auch noch die Wahl gewann, verebbte der Protest gegen Freihandel in Deutschland. Denn nun war es Trump, der Freihandelsverträge infrage stellte. Mit ihm wollten die TTIP-Gegner nichts gemein haben.
Auszug aus dem Buch Wir verstehen die Welt nicht mehr von Christoph von Marschall.
Den ersten Teil dieses Beitrages finden sie hier.
Christoph von Marschall ist promovierter Historiker und Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion des Berliner „Tagesspiegel“. 2017/18 beobachtete er Donald Trumps Präsidentschaft in Washington und hatte Zugang zum Weißen Haus. Von 2005 bis 2013 war USA-Korrespondent des "Tagesspiegel". Seine Biografie "Barack Obama. Der Schwarze Kennedy" war ein Bestseller.