Von Christoph von Marschall.
Die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und der Fremdwahrnehmung, ob Deutschland sich besonders rechtstreu, europakompatibel und rational verhalte oder nicht, war bereits fest etabliert, als sich die Migrationskrise 2015 zuspitzte. Sie wurde zu einem besonderen Einschnitt, denn hier summierten sich alle drei Verfehlungen: Deutschland ignorierte die vorhandenen vertraglichen Regelungen, versäumte europäische Absprachen, als es handelte und beschrieb die Lage sowie die Handlungsoptionen auf eine Weise, die Zweifel an der Sachorientierung weckten. Zudem beging Deutschland beim Versuch, die Folgen dieser Fehler zu beheben, die nächsten Verstöße, zum Teil abermals aus sachfremden Motiven. Die Irritationen in anderen EU-Staaten wirken bis heute nach. Das haben meine Gespräche in Paris, Warschau und Brüssel deutlich gezeigt.
Beginnen wir mit der Einstellung zur Bindewirkung europäischer Verträge. Eines der verblüffendsten Phänomene im deutschen Umgang mit Europa ist die Leichtfertigkeit, mit der das geltende Recht ignoriert und der Regelbruch hingenommen wird – samt der Verwunderung darüber, dass andere sich auch nicht an die Regeln halten wollen. Dabei ist das doch nur logisch: Häufiger Rechtsbruch hat die Folge, dass das Regelwerk nicht mehr als verbindlich angesehen wird. Da liegt ein wichtiger Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einer Bananenrepublik.
Die deutsche Bereitschaft, Vertragsbruch hinzunehmen, trat nicht erst in der Migrationskrise auf. Das ist wichtig festzuhalten. Denn eine beliebte Erklärung – oder Ausrede – in der zugespitzten Lage lautete: Wegen der Ausnahmesituation könne man sich nicht an den Buchstaben geschlossener Verträge orientieren. Vielmehr gelte: „Not kennt kein Gebot.“
Die deutsche Neigung, sich mal auf die Rechtslage zu berufen und sie mal zu ignorieren, je nachdem, wie es gerade opportun erscheint, ist jedoch viel älter. Schon in der Eurokrise trat dieser Widerspruch zutage. Das schien damals kaum jemanden in Deutschland zu stören und ebenso später in der Migrationskrise. Ein sich über Jahre wiederholender Rechtsbruch war der Hauptgrund, warum Griechenland in seine Notlage und der Euro in die Krise geriet. Die Regeln, die sich die Mitglieder zum Schutz der Währungsstabilität und zur Sicherung der Finanzdisziplin gegeben hatten, wurden missachtet. Wenn aber Rechtsbruch und Mogelei die Ursünde dieser Krise waren, hätte die rationale Konsequenz lauten müssen, sie nicht mehr zu tolerieren. In linken Sponti-Sprüchen aus früheren Jahrzehnten war diese Wahrheit noch lebendig. Konzepte mit einem immanenten Widerspruch wie „Fighting for Peace“ und „F*cking for Virginity“ haben keine Aussicht auf Erfolg.
Die Eurokrise: Neigung zum Rechtsbruch
Die Verantwortlichen in der Eurozone jedoch taten in ihrem Bemühen, Griechenland im Euro zu halten, genau das: Sie versuchten, den Rechtsbruch und seine Folgen zu heilen, indem sie nun erst recht gegen Grundregeln des Stabilitätspakts sowie der Gesetzgebung in demokratischen Rechtsstaaten verstießen. Ein Großteil der deutschen Medien lobte dieses Vorgehen, den Rechtsbruch mit noch mehr Rechtsbruch zu beantworten – vorzugsweise taten dies Medienvertreter links der Mitte, in deren Reihen die ehemaligen 68er gut vertreten sind. Sie hätten mit der Wahrheit der Sponti-Sprüche vertraut sein müssen. Aber die guten Absichten gewannen die Oberhand über die Logik.
Die No-bailout-Klausel in den Verträgen zur Währungsunion verbietet es, ein Sünderland mit europäischen Staatsgeldern vor den Folgen unsolider Finanzpolitik zu retten. Dennoch wurde diese unzulässige Vorgehensweise immer wieder als Ausweg angepriesen.
Die griechische Regierung peitschte 2015 höchst folgenreiche Reformpakete durchs Parlament, ohne sich um die Regeln des Gesetzgebungsprozesses zu scheren – wie die Beratungen in Ausschüssen und mehrere Lesungen im Plenum. Sie setzte eine Volksabstimmung an, ohne die formalen Bedingungen dafür einzuhalten, wie die rechtzeitige Bekanntgabe der Frage, über die abzustimmen sei, und ohne die Chance, Wahlkampf pro und contra zu führen. Das Referendum sollte angeblich der Demokratie dienen sowie dem Ziel, dem Volkswillen Geltung zu verschaffen. Schon das war eine Farce.
Doch es kam schlimmer. Nur eine Woche, nachdem das Volk mit gut 60 Prozent die von den Europartnern geforderten Einschnitte abgelehnt hatte, unterschrieb Regierungschef Tsipras ein noch schärferes Reformpaket und ließ das Parlament darüber abstimmen, ohne die Bürger zu befragen. Im Volk hatte die Stimmung inzwischen gewechselt. Unter dem Eindruck der Banken- und Auszahlungskrise und im Bewusstsein, dass es eben doch um den Ausstieg aus dem Euro gehen könnte, was die Regierung beharrlich geleugnet hatte, waren nun laut Umfragen 70 Prozent bereit, das schärfere Reformpaket anzunehmen. Diese Vorgehensweise – erst ein Referendum, um kurz darauf den dort ausgedrückten Volkswillen zu ignorieren – gleicht einem demokratischen Absurdistan. Trotz all dieser Defizite applaudierten viele Kommentatoren in Deutschland der Regierung Tsipras.
2018 bahnt sich nun mit den Entwicklungen in Italien die nächste schwere Eurokrise an. Wird Europa diesmal auf Einhaltung der Regeln bestehen?
Auszug aus dem Buch Wir verstehen die Welt nicht mehr von Christoph von Marschall.
Hier finden Sie den zweiten Teil dieses Beitrages.
Christoph von Marschall ist promovierter Historiker und Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion des Berliner Tagesspiegel. 2017/18 beobachtete er Donald Trumps Präsidentschaft in Washington und hatte Zugang zum Weißen Haus. Von 2005 bis 2013 war USA-Korrespondent des "Tagesspiegel". Seine Biografie "Barack Obama. Der Schwarze Kennedy" war ein Bestseller.