Cornwall ist, was die Briten einen „acquired taste“ nennen. Der Reiz des Landes, vor allem seines westlichen Zipfels, erschließt sich nicht auf den ersten Blick und auch nicht jedem. Das Wetter im Westen, obgleich er tief im Golfstrom und etwa auf der Höhe von Frankfurt, also nicht gerade in Polarnähe liegt, kann alles sein, südländisch mild und nördlich rau, und beides im Verlauf eines Tages. Der Luxus in den Unterkünften ist – mit Ausnahmen – auch eher rau zu nennen.
Und dann ist da noch eine Sache: Wenn ich, wie jetzt wieder, vor meinem urigen Pub, dem „King’s Arms“ in St. Just sitze, höre ich neben den vielen englischen Stimmen immer wieder auch deutsche. Und zwischen den vielen geparkten englischen Autos auf dem Market Square steht fast immer auch ein Auto aus Siegburg oder Traunstein, jedenfalls aus Deutschland. Sonst kaum Ausländer. Einen Holländer mit Wohnwagen habe ich gesehen und einen Dänen. Das war’s. Nein, halt, vier puppensüße Japanerinnen gab es auch. Aber die sind ja wie die Deutschen – einfach überall.
Was machen meine Landsleute hier? Was mache ich hier? Was bringt sie dazu, Fish and Chips, diese eigenartige englische Köstlichkeit zu verspeisen? Was bringt mich dazu, zu meinem Pint „Tribute“ ein Cornish Pasty (gesprochen: Pästi) zu mampfen, diese in der Tat gewöhnungsbedürftige Landesspezialität? Eine Teich-„Pastete“, gefüllt mit Kartoffeln, Fleisch und kräftigen Gewürzen und einem dicken Rand zum Festhalten, wie es früher die Bergleute taten, wenn ihnen die Frauen diese kräftige und handliche Mahlzeit zur Arbeit brachten.
Der Bergbau ist eine weitere Besonderheit Cornwalls. Die steinernen Überreste der alten Zink- und Kupferminen gehören zur Landschaft des Westens. Backsteinschornsteine und andere Ruinen: Wer sie mag, bewundert sie wie Ruinen kleiner Burgen; wer will, kann sie aber auch als Trümmer wahrnehmen, die das Landschaftsbild stören. Tatsächlich sind sie Weltkulturerbe und bereichern die Sprödigkeit des Charmes, den dieses Land ausstrahlt.
Als Freund dieses spröden Charmes und in einem Anflug nationalen Stolzes sage ich mir: Die hier fast exklusiv vertretenen Deutschen haben eben einen besonders guten Reisegeschmack. Sie lieben das, was nicht jeder gleich mag. Dann denke ich an meine zahlreichen Landsleute am Ballermann und verwerfe diesen Gedanken sofort. Den mag zwar auch nicht jeder, aber aus anderen Gründen. Und dann denke ich an Sylt und Kitz mit ihrem Snob-Appeal, und an die Studien-Deutschen auf der Akropolis und in Angkor Wat. Und ich komme zu dem Schluss: Die Deutschen sind wie die Japaner – einfach überall.
Warum die Japaner so sind, weiß ich nicht. Von meinen Landsleuten weiß ich, dass sie nun mal geborene Unruheherde sind. Sie können nicht stillsitzen. Das macht sie fleißig und das treibt sie mehr als andere umher, also auch nach Cornwall. Es scheint eine uralte Unruhe zu sein, ein genetischer Fußabdruck aus der Zeit der Völkerwanderung. Das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust, es steckt vielen Deutschen im Blut.
Und Cornwall ist ein Land für Wanderer. Auto fahren kann man auch. Aber je weiter man nach Westen kommt, desto enger werden die Straßen. Die meisten sind schließlich Einbahnstraßen, auf denen in beide Richtungen gefahren wird. Da muss einer schon mal den Rückspiegel einklappen, damit man aneinander vorbei kommt.
Aber das Wandern ist hier nicht zu überbieten. Endlose Küstenwege mit immer neuen grandiosen Meerblicken. Wunderbare Wanderwege durchs Hochmoor. Und diese Schornsteine sind wirklich hübsche Wegmarken. Ein Hauch von Ruhrgebiet ohne Hochöfen und ohne Großstädte mit herrlicher Luft und alles direkt am Meer.
Allerdings sind es keine deutschen Wanderwege. Es sind „Public Footpaths“, also öffentliche Fußpfade, oft kaum mehr als ein Wegerecht am Rand eines Feldes und vorbei an besorgt muhenden Kühen und ihren schönen Kälbern. Keine deutsche Wanderperfektion, sondern Trampelpfade, nicht selten steinig, aber liebevoll ausgewiesen und mit traumhaften Blicken: weit hinein ins Land und vor allem weit hinaus aufs Meer. Großbritannien ist eine Insel, und dies nirgendwo mehr als in Cornwall.
Vielleicht ist es ja das: Die Sehnsucht der zentraleuropäischen Festlandsdeutschen nach einer Insel. Inselsehnsucht, ja, das könnte es sein.