Vera Lengsfeld / 26.07.2016 / 06:00 / Foto: Thomas Wolf / 23 / Seite ausdrucken

Die deutsche Bildungslücke wird zum Scheunentor

Das waren noch Zeiten: 1910 war die gesamtwissenschaftliche Literatur der Welt zu über 50 Prozent  auf Deutsch verfasst. Überproportional viele Nobelpreisträger kamen aus Deutschland. Das war ein Erfolg der von Wilhelm von Humboldt konzipierten und durchgesetzten Bildungsreform. Humboldt ging von der Überzeugung aus, aus der Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Begabungen folge, dass ein einheitliches Anforderungsniveau den einen überfordert, den anderen langweilt.

Deshalb führte Humboldt ein dreigliedriges Schulsystem ein: 90 Prozent der Schüler besuchten die Volksschule, erst für sechs, dann für acht, später für zehn Jahre. Eine Ergänzung bildete ab dem 19. Jahrhundert die Realschule , auf der man die mittlere Reife erwerben konnte. Für fünf Prozent der Schüler gab es das von Humboldt konzipierte Gymnasium, dessen erfolgreicher Abschluss zur Aufnahme eines Studiums berechtigte.

Nachzulesen ist das ausführlicher bei Thilo Sarrazin. Bereits in meiner ersten Rezension seines  neuen Buches „Wunschdenken“ habe ich geschrieben, dass es sich um mindestens drei Bücher in einem handelt. Das Kapitel Bildung ist so wichtig, dass ich es hier noch einmal extra behandeln möchte. 

Erschreckende Bildungslücken

Die Affäre Petra Hinz, die mit einem erfundenen Bildungsweg politische Karriere machte, die sie in den Bundestag brachte, hat ein weiteres Schlaglicht auf die Bildungsmisere unserer Politiker geworfen. Abkopierte Doktorarbeiten wie bei Theodor zu Guttenberg, Anette Schavan und Ursula von der Leyen sind nur die Spitze des Eisberges. Gekaufte akademische Titel wie beim Berliner Senator Mario Czaja, der seinen erschwindelten Abschluss wenigstens noch nachholte, sind kein Einzelfall. Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Kathrin Göring-Eckardt, gab in früheren Handbüchern des Parlaments an, sie sei Theologin und änderte das erst, als ihr abgebrochenes Studium thematisiert wurde. Ein komplett erfundener Bildungsweg, wie bei Hinz, ist eine neue Qualität.

Entscheidend sind aber die erschreckenden Bildungslücken unseres politischen Personals. „Damit meine ich nicht Verständnisprobleme in Bezug auf die Relativitätstheorie oder die Feinheiten moderner Geldpolitik, sondern grobe Lücken auf dem Gebiet der Geschichte und der Evolution“, schreibt Sarrazin. 

Ein Beispiel dafür ist Renate Künast von den Grünen, die es sogar bis zur Ministerin brachte. Künast, die übrigens einmal Abraham Lincoln nicht von George Washington unterscheiden konnte, forderte schon mal in der Klimadebatte, die CO2-freie Gesellschaft. Vielleicht wußte sie nicht, dass CO2 für das Pflanzenwachstum unverzichtbar ist.

Deutschlands wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Rang in Gefahr

Kein Wunder, dass die politische und gesellschaftliche Debatte, sofern sie überhaupt noch stattfindet, immer mehr an Niveau verliert. Entscheidender aber ist, dass unsere Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt und unser wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Rang in der Welt akut gefährdet ist.

Kulturelles Wissen wird nicht mehr in ausreichendem Maße weitergegeben. „Folglich geht die Allgemeinbildung der künftigen Eliten in Deutschland auf breiter Basis zurück“. Sarrazins bittere Schlussfolgerung: „Soweit im heutigen Deutschland solche Universalgenies wie Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe noch geboren werden, erlangen sie ihr breites Bildungswissen bestimmt nicht mehr im staatlichen Schulsystem, das entsprechende Angebote heute gar nicht mehr macht.“

Wie konnte es dazu kommen, dass ein so erfolgreiches Bildungssystem, wie das von Humboldt, derart heruntergewirtschaftet wurde? Das ist der „Erfolg“ einer ideologiegesteuerten Bildungspolitik, die systematisch eine Niveauangleichung nach unten fördert, um mehr „Chancengleichheit“ zu erzielen. Sarrazin: „Der Niveauverlust beginnt bereits in den Grundschulen. Er hat bewirkt, dass die fachlichen Anforderungen sowohl für den Hauptschulabschluss als auch für das Abitur deutlich niedriger sind, als in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts… In der Grundschule war es bis in die 1970er und 1980er Jahre allgemeiner Standard, dass ein Kind am Ende des ersten Schuljahres lesen konnte, dass es am Ende des vierten Schuljahres weitgehend sicher in der Rechtschreibung war, die vier Grundrechenarten beherrschte, sowie schriftlich multiplizieren und dividieren konnte.Damit erbrachte ein zehn Jahre altes Kind… Leistungen, die heute beim Hauptschulabschluss nicht mehr selbstverständlich sind.“

Unten „Subproletariat“, oben Unterforderte

Im heutigen Bildungssystem „wird am Ende der Bildungspyramide ein nicht ausbildungsfähiges Subproletariat herangezogen, während am oberen Ende die Begabten und Leistungsstarken gar nicht mehr herausgefordert werden, ihr Bildungspotential voll zu entfalten.“ Das Abitur wird immer mehr zum allgemeinen Schulabschluss, wie in den USA, der nur beschränkt zum Studium befähigt. „In den Natur-und Ingenieurwissenschaften scheitert ein großer Teil der Studenten, soweit er nicht überhaupt diese Fächer scheut, an mathematischen Propädeutika. Wegen dieser Klippe wechseln viele nach kurzer Zeit vom Bauingenieur- zum Architekturstudium.“

Weil immer mehr Schüler zum Abitur zugelassen werden, suchen die Betriebe „händeringend Lehrlinge, aber die Kandidaten hocken alle in den Gymnasien und Fachhochschulen rum… Die sogenannte Studienanfängerquote …stieg von 27,2 Prozent im Jahr 1995 auf 57,5 Prozent im Jahr 2013. Dagegen sank die Zahl der Neuzugänge im dualen System (Lehrverträge) von 569 000 im Jahr 2007 auf 497 000 im Jahr 2013“.

Mit der gestiegenen Quantität von Studenten ist eine Absenkung der Qualität verbunden. Nicht mehr das akademische Niveau bestimmt die Höhe der staatlichen Geldzuwendungen an Universitäten und Hochschulen, sondern die Anzahl der Studienabschlüsse. In NRW haben Politiker bereits über Höchstquoten für Studienabbrecher nachgedacht. Das trägt zur weiteren Absenkung des Niveaus bei, um solche Abbrüche zu verhindern.

Größtmögliche Gleichheit wird zur Bürde für das Land

Diese verfehlte Politik zur Herstellung größtmöglicher Gleichheit ist eine schwere Bürde für unser Land. Die Produktivität eines Landes ist direkt oder indirekt das Resultat von Intelligenz, Bildung und Wissen. Also sind Intelligenz, Bildung und Wissen die zentralen Faktoren für den Wohlstand von Individuen und Gesellschaften. Eine Absenkung des Bildungsniveaus nach unten, um einer Gleichheitsideologie willen, wird eher früher als später gravierende Auswirkungen auf unser Lebensniveau haben. 

Eine politische Klasse, die immer ungebildeter wird, scheint unfähig zu sein, das zu erkennen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog der Autorin: „Freedom is not free“

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Leserpost

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Werner Liebisch / 26.07.2016

@Rochow Im Amerikanischen gibt es schon ein “Freedom is not free”. Es gibt sogar Lieder mit dieser Ausdrucksweise. Es ist eine Art Danksagung an die Soldaten bzw. ans Militär die die Freiheit der Bürger erst ermöglicht.

Mathias Gärtner / 26.07.2016

Auch die Einwanderung trägt zum Abfall des Durchschnitts bei. In der Krabbelgruppe habe ich eine Grundschullehrerin kennengelernt, die an einer Schule mit sehr hohem Migrantenanteil arbeitet. Oft sei sie die einzige Deutsche in der Klasse, sagt sie. In solchen Klassen sei man am Ende der zweiten Klasse dort, wo man eigentlich nach der ersten sein sollte. Und man dürfe auch nicht auf die Unterstützung der Eltern hoffen, die seien zwar guten Willens, könnten es aber selbst oft nicht. Damit werden Bildungsverlierer in Klassenstärke produziert, und das wird unserm Land schaden.

Enrico Schneider / 26.07.2016

Sehr geehrte Frau Lengsfeld, ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu, wenn Sie die Abflachung des Anforderungsniveaus in den allgemeinbildenden Schulen beklagen. In der Tat betreibt die Politik auf diesem Gebiet eine Gleichmachererei, denen die Begabten und Intelliegenten zum Opfer fallen. Diese Opfer könnten aber vermieden werden, sofern man eben diesen Schülern neben dem normalen Unterricht weiterführende Bildungsangebote unterbreiten würde. Dies erfolgt aber nur in den wenigsten Fällen. Widersprechen muss ich Ihnen aber, wenn Sie beklagen, dass Deutschland bei seinem Anteil an der Gesamtzahl der Nobelpreisträger in den letzten 100 Jahren zurückgefallen ist, und Sie diesen Rückfall auf das niedrige Anforderungsniveau in unseren Schulen zurückführen. Ich denke, der niedrige Anteil deutscher Nobelpreisträger ist vielmehr einem Aufholen anderer Nationen in Sachen Bildung geschuldet. Letztlich haben die anderen Nationen ihre menschlichen Ressourcen erschlossen. Ein Blick in die Liste der Nobelpreisträger bestätigt meine Ansicht. In der ersten Hälfte des 20. Jhrd. finden sich neben Deutschen auch sehr viele Niederländer, Franzosen, Briten und auch schon viele Amerikaner, Angehörige aus Nationen, in denen wie in Deutschland die Bildung bereits einen sehr hohen Stellenwert genoss. In der zweiten Hälfte machten sich dann die enormen Investitionen der anderen Nationen in ihre Bildungssysteme bezahlbar.  Deutschland betreibt nach wie vor eine hervorragende Grundlagenforschung und wird auch in den nächsten Jahren Nobelpreise erhalten.

Detlef Dechant / 26.07.2016

Ich kenne Hochschullehrer in geisteswissenschaftlichen Fakultäten, die sich schon scheuen, auch nur ein “befriedigend” zu geben, weil das bei Studenten bereits Panik auslöst und zu juristisch begleiteten Rundumschlägen führt, um die Noten anzuheben. Dazu werden von der Hochschulleitung dann Berichte und Begründungen usw. angefordert. Um diesem ganzen zusätzlichen unbezahlten Arbeitsaufwand zu entgehen, geben viele gleich ein “gut” oder “sehr gut”. Soll doch der Absolvent damit glücklich werden. Im Job, sofern er einen bekommt, wird er dannschon scheitern. Leider ist Letzteres auch nicht der Fall, weil diese Absolventen irgenwo in der öffentlichen Sozialarbeit gut dotierte “Versorgungsjobs” bekommen, da hier die grün-sozialistische Sozialarbeitgeberlobby für ihre Wählergruppen sorgt. Das alles auf Kosten und mit den SSteuergeldern des braven produktiven Arbeitnehmers aus dem deutschen Mittelstand. Aber es geht auch schon an den Gymnasien los. Sagte mir doch ein Gymnasiallehrer aus NRW, woher denn sonst!, am Rande einer Fortbildungstagung,  dass, wenn er einen Schüler habe, der in ein “mangelhaft” abrutsche, er ellenlange Berichte schreiben müsse, was er alles tue, um diesen zu fördern. Wenn das nichts fruchte, müsse er dass rechtfertigen. Da ist es viel weniger zeitaufwändig, diesem das “ausreichend” zu belasssen nach dem Motto: nach mir die Sintflut.

Thomas Bonin / 26.07.2016

Besten Dank, verehrte Frau Lengsfeld, für Ihre Buchrezension (wie übrigens auch alle anderen von Ihnen hier veröffentlichten). Zu meinem Bedauern decken sich meine diesbezüglichen persönlichen Beobachtungen mit Ihren Erfahrungen. Wenn ich mich mit Jugendlichen (etwa frisch gebackenen Abiturienten) unterhalte - das passiert recht häufig - dann lautet die häufigste Antwort auf Fragen nach simplen gesellschaftlich bezogenen Zusammenhängen: “Keine Ahnung”. Was zunächst noch OK wäre, wenn wenigstens im Anschluss eine Art Neugierde zum Füllen der Wissenslücke bestünde bzw. erkennbar wäre (Smartphones befinden sich immerhin permanent im Online-Modus, Google App inklusive): müsste angestrengt überlegen, wann sowas stattgefunden hat. Falls mich jemand fragt, wie diesem Umstand abzuhelfen wäre, würde ich - eingedenk der skizzierten Gesamtsituation in diesem Lande - antworten: Keine Ahnung!

Ulf Pohle / 26.07.2016

...........das Land Sachsen-Anhalt will jetzt auch ganz oben mitspielen in der “Liga der Chancengleichheit” - demnächst werden die Anforderungskriterien für das Bestehen des Abiturs gesenkt.  Endlich: ” Land der Abiturienten”.

Jan Müller / 26.07.2016

Leistungen, die heute beim Hauptschulabschluss nicht mehr selbstverständlich sind.—— Haha Hautschulabschluss?es gibt Leute die STUDIEREN und können nicht mal den Dreisatz erklären!!!Und das war schon vor 20 Jahren(in Köln)! Realschüler können einfachste Aufgaben nicht im Kopf rechnen.

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