Von Erik Lommatzsch
Dinge geschehen, obwohl gewarnt wurde, obwohl sie zu verhindern gewesen wären. Passieren sie dann doch und es folgt ein Hinweis auf eben diese Warnungen, so nennt man das in verbreiteter Lesart Instrumentalisierung. Das gehört sich, wiederum nach verbreiteter Lesart, natürlich nicht. Böse. Keine Instrumentalisierung hingegen ist es offensichtlich, einen soeben verstorbenen und über die letzten Jahre schwer kranken Politiker für die eigene Agenda in Anspruch zu nehmen. Da geht es ja auch um Europa, um ein Europa, vor dessen „Zerbrechen“ immer wieder gewarnt wird. (Was genau passiert da eigentlich? Bricht die Apennin-Halbinsel ab? Nachgeredet wird derartiger Unsinn jedenfalls mit erschreckender Intensität. Wenn man EU meint, sollte man auch in der Lage sein, das zu sagen. Das gute alte Europa an sich ist nicht so brüchig.)
Klar, natürlich wollte Helmut Kohl Europa genauso, wie es im Moment geformt wird. Ein deutliches „immer mehr“ in Richtung Brüssel. Oder doch nicht? Vielleicht ganz praktisch, dass er zu ausführlicheren Stellungnahmen schon länger nicht mehr in der Lage war. Berufen kann man sich auf ihn jedenfalls gut. Ein großer Europäer. Das hat er von sich aus gewiss auch so gesehen, aber möglicherweise nicht ganz genau dasselbe gemeint, wie diejenigen, die ihn deshalb in Reaktion auf die Todesnachricht lautstark loben. Mitunter zuckt man zusammen, wer so alles in diesen Chor einstimmt.
Übrigens: Der ebenfalls gerade verstorbene Doyen der deutschen Zeitgeschichte, Hans-Peter Schwarz, der als Adenauer- und Kohl-Biograph hervorgetreten ist und die Politik beider Herren nicht unkritisch, aber doch mit deutlicher Sympathie darstellte, vertrat in seinem letzten Werk („Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten“) mit Blick auf die Aufgabe staatlicher Souveränität doch etwas andere Standpunkte als dieses gegenwärtige „immer mehr“. Aber das muss nichts zu sagen haben.
Dorfmief vom Feinsten
Zurück zu Kohl. Im Unterschied zu anderen Institutionen und den Nachrichtensendern benötigte die CDU vergleichsweise lange, um die Neuigkeit auf ihrer Internetseite zu platzieren. Gut, es war Freitagnachmittag, auch bei der Partei, deren Bundesvorsitz Helmut Kohl von 1973 bis 1998 innehatte und an deren Spitze er, ebenfalls bis 1998, 16 Jahre lang als Bundeskanzler die Regierung führte.
Gewürdigt worden sind Leben, Aufstieg und Politik, allem voran natürlich sein Wirken für die deutsche Wiedervereinigung im Oktober 1990, in verschiedenen Nachrufen, Sondersendungen, etc. Bei aller notwendigen Kritik und Distanz, er war fraglos einer der wichtigsten und wohl auch einer der erfolgreichsten Politiker des 20. Jahrhunderts. Darf man eigentlich auch sagen „ein großer Deutscher“? Oder würde das Tür und Tor zu Missverständnissen öffnen?
Erstaunlich ist jedenfalls, wie die Nachrufe sich doch recht deutlich sogleich an eine nicht nur unterschwellige öffentliche Demontage machen, bzw. die Fortsetzung einer spätestens mit Übernahme der Kanzlerschaft einsetzenden, nur 1989/90 kurz unterbrochenen Demontage betreiben. Kohl habe Verdienste, das schon. Aber, aber! „Am Ende überschattete die CDU-Schwarzgeldaffäre seine Kanzlerschaft“, wusste die 20-Uhr-Tagesschau am 16. Juni 2017 nach gerade einer reichlichen halben Minute Bericht anlässlich seines Todes hinzuzufügen. „Überschatten“? Die ganze Kanzlerschaft? Wo bleibt der Sinn für Dimensionen? Der war allerdings seinerzeit bereits bei der CDU abhandengekommen, Stichwort Ehrenvorsitz. Kohl war quasi genötigt worden, diesen niederzulegen. Auch hier war die Abwägung von jahrzehntelangem politischen Wirken und – juristisch unbestreitbarem – punktuellem Fehlverhalten schon arg schieflagig.
Die ARD-Sondersendung im Anschluss an besagte Tagesschau berichtete direkt aus „Oggersheim“, so auch die Einblendung. Oggersheim ist ein Stadtteil von Ludwigshafen. Kohl wurde von Journalisten gern mit diesem Etikett versehen, er sei der „Mann aus Oggersheim“. Nicht Bodenständigkeit, Provinzlertum sollte so suggeriert werden. Kohl mochte diese Zuschreibung nie. Aufgegriffen, respektive nachgeplappert, wird sie nach wie vor gern. Einmal in Gang Gesetztes bleibt unhinterfragt und ist oft sehr wirkmächtig. Oggersheim wird inzwischen tatsächlich vielfach für eine eigenständige Ortschaft gehalten. Dorfmief vom Feinsten, versteht sich.
Die Landschaften blühen im Vergleich zu früher
Nahezu abstoßend ist es, penetrant Bilder eines sichtlich kranken oder sich kaum noch äußern könnenden Helmut Kohls, etwa von seinem kurzen Auftritt im Jahr 2012, einzuflechten. Kann man die Dinge nicht anders gestalten? Ist es Zufall, war gerade nichts weiter zur Hand? In Nachrufen anderer, ebenfalls zuletzt gesundheitlich eingeschränkter Persönlichkeiten wird gnädiger verfahren. Aber vielleicht sind die Fotoarchive hier einfach nur besser bestückt. Oder das Wochenende ist noch nicht angebrochen.
Gern wird auf Helmut Kohls Ausspruch der „blühenden Landschaften“ verwiesen, die er dem Gebiet der der Bundesrepublik beitretenden DDR voraussagte. Durchweg negativ, die Voraussage sei nicht eingetroffen, Häme. Der Autor dieser Zeilen stand diesbezüglich schon immer etwas allein, bleibt aber nach wie vor dabei: Mit Blick auf die marode, heruntergewirtschaftete DDR (1988 soll es hier für die Äußerung „Besuchen Sie Meißen, so lange es noch steht!“ eine empfindliche Strafe gegeben haben): Nicht jedermanns persönliche Hoffnungen haben sich erfüllt, es kam zu Ungerechtigkeiten, keine Frage. Aber um fast allerorts im Vergleich zu früher blühende Landschaften zu sehen, genügte und genügt ein oberflächlicher Blick.
Positive, abwägend-reflektierte oder negative Geschichtsschreibung, journalistische Werke, Gewogenes, Kritisches und sehr Kritisches über Helmut Kohl gibt es zuhauf. Das soll so sein, das ist gut so und die Forschung hat mit Sicherheit auch noch einiges vor sich. Angesichts des Todes eines 87-jährigen, bedeutenden, in großen Teilen der Welt äußerst geschätzten Staatsmannes: Kann man ihn, wenigstens in diesem Moment, nicht einfach einmal würdigen und vielleicht auch ein wenig stolz sein, dass Helmut Kohl 1989/90 zur rechten Zeit am rechten Ort war und – bezüglich der deutschen Einheit – Großes und vielfach noch kurz vor der Realisierung für unmöglich Gehaltenes geleistet hat?
Erik Lommatzsch (www.erik-lommatzsch.com) ist Historiker und lebt in Leipzig.