Roger Scrutons Buch über Narren, Schwindler und Unruhestifter ist das lesenswerte kritische Vermächtnis eines englischen Konservativen
Inwieweit die geistige Landschaft in Großbritannien auch heute – im Zeichen der „woke“-Ideologe – noch von der einst sprichwörtlichen Liberalität geprägt ist, steht dahin. Immerhin hatte darin bis zu seinem Tod auch der Konservative Roger Scruton (1944–2020) als Philosoph, Autor zahlreicher Bücher – in der Spannweite von politischer Theorie, Ästhetik der Architektur bis hin zu Sex – als Kolumnist für Weine im linksliberalen „New Statesman“ sowie als Mitglied einer Regierungskommission für Städtebau noch einen anerkannten Platz. Im Jahr 2016 wurde er von Königin Elizabeth in den Ritterstand erhoben. Im Juli 2019 erfuhr Roger Scruton, dass er an Krebs erkrankt war. Er starb am 12. Januar 2020.
In den deutschen Feuilletons erschienen einige Nachrufe. Ansonsten ist der Name Scruton hierzulande nahezu unbekannt. Inwieweit das jetzt auf Deutsch erschienene Buch – der englische Titel lautet Fools, Frauds and Firebrands: Thinkers of the New Left – an der weitgehenden Unkenntnis etwas zu ändern vermag, steht dahin.
Eine Kritik vorab: Scrutons Kritik an den Fürsten der „Neuen Linken“ kommt in Teilen zu spät, denn die Karawane der neuesten Linken ist bereits weitergezogen. Wer liegt heute noch Jean-Paul Sartre zu Füßen, wen interessiert noch der strukturalistische Marxismus eines Louis Althusser? Und wie lange noch herrscht Habermas’ Diskurshoheit über seiner „erweiterten Bundesrepublik“? Welcher queere Studierende, dessen Identität auf seiner spezifischen, allgemein anerkannten Existenzweise beruht, möchte mit dem einst heiligen Begriff „Entfremdung“ noch etwas anfangen? Zu empfehlen ist das Buch allemal, weil es in der Übersetzung von Krisztina Koenen, die ein luzides Vorwort beigesteuert hat, als Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts – auch nach Kapiteln gesondert – gut zu lesen ist.
Das Buch – mit den verfremdeten Porträts von Adorno, Habermas, Horkheimer, Sartre, Foucault und Lukács auf dem Einband – ist verknüpft mit der Biographie des Autors. Einer sozialistischen Lehrerfamilie entstammend, erlangte Scruton ein Stipendium für Cambridge. Während der Arbeit an seiner Dissertation erlebte er mit seiner ersten, französischen Frau den Pariser Mai 1968. Empört von jenen Szenen, als vermeintlich revolutionäre Studenten („middle-class hooligans“) die Autos von zu bescheidenem Wohlstand gelangten Arbeitern in Brand steckten, verabschiedete er sich von linken Überzeugungen.
Als Gegenstück zu Zeitschriften wie dem seit den 1960er Jahren einflussreichen „New Left Review“ gründete er den „Salisbury Review“, in dem er seine Kritik an linken Denktraditionen und speziell an führenden Figuren der Neuen Linken veröffentlichte. Das daraus entstandene Buch „Thinkers of the New Left“ (1985) war in Großbritannien ein Reinfall, wurde gleichwohl in mehrere Sprachen übersetzt und zirkulierte vor allem in Samisdat-Ausgaben unter Dissidenten in Polen und der Tschechoslowakei. Durch Reisen in Osteuropa knüpfte Scruton enge Kontakte mit diesen Oppositionellen, darunter Vaclav Havel, Exponent der „Charta ´77“. 1998 zeichnete ihn Präsident Havel mit dem Verdienstorden der Tschechischen Republik aus.
Linkes Neusprech und rechte Denktraditionen
Das Buch, in Teilen eine überarbeitete Version der älteren Aufsätze, erschien in England erstmals 2015 auf Anregung von Scrutons Verleger, er solle ein Buch schreiben, das Studenten das Leben erleichtern könnte. Daraufhin macht er sich daran, „die klebrige Prosa von Deleuze“ verdaulich zu machen, „die wahnsinnigen Zaubergesänge Žižeks“ zu entmystifizieren und zu verdeutlichen, „dass in Habermas´ Theorie der kommunikativen Aktion [nicht] mehr steckt, als seine eigene Unfähigkeit zu kommunizieren.“ (16)
Links – rechts: Explikationen der vermeintlich zeitlos gültigen Begriffe umrahmen als erstes und letztes Kapitel das Buch. Seine Position als Konservativer, der das Etikett „rechts“ (da „richtig“) nicht scheut, definiert Scruton im ersten Kapitel („Was ist links?“) in Abgrenzung zu all jenen, die sich selbst als Linke bezeichnen. (5) Diese teilen eine seit der Aufklärung bestehende Sichtweise auf die Welt, welche die bestehende Ordnung als unfrei, ungleich und ungerecht, als „Strukturen der Unterdrückung“ (Michel Foucault) infrage stellt. Auch wo die jeweilige Theorie der Befreiung nicht auf eine Utopie ziele, verhüllen laut Scruton autoritative Begriffe wie „Befreiung“, „soziale Gerechtigkeit“ – es fehlen die neuestlinken Kampfbegriffe „Homophobie“, „Patriarchat“, „Islamophobie“, „wokeness“, „whiteness“ etc. – innere Widersprüche und signalisieren mit dem Anspruch auf höhere Moral den Kampf um Macht.
Die Transformation der politischen Sprache bringt das Orwellsche „Neusprech“ hervor, laut Scruton vernehmbar bereits in den Parolen der Französischen Revolution. „Neusprech“ kennzeichnete die Etikettierungen, mit denen die Protagonisten der Zweiten Internationale ihre jeweiligen Gegner (Revisionisten, Reformisten, Zentristen etc.) belegten. In klassischer Verkehrung der Begriffe von Menschewiki und Bolschewiki kam Neusprech bei der Spaltung der russischen Sozialdemokratie (1903/1911) zum Vorschein. (28f.) „Wir begegnen Neusprech immer dann, wenn die wichtigste Aufgabe der Sprache, die Beschreibung der Realität, durch den rivalisierenden Zweck der Machtausübung über die Wirklichkeit ersetzt wird.“ (29).
Zu den „Wörtern respektabler Herkunft“, die durch „Neusprech“ zur Klassenkampfparole degenerierten, gehört für Scruton der „Kapitalismus“. Folglich gehört der Marxismus in all seinen Varianten zu seinen Lieblingsfeinden. Das „durchtriebenste Charakteristikum des Marxismus [sei,] dass er sich als Wissenschaft verkaufen konnte.“ (35) Andernorts trägt Scruton seine Kritik weniger polemisch vor, indem er auf den in der Marx’schen Preistheorie fehlenden Faktor der Nachfrage verweist. Er stützt sich dabei auf all jene Autoritäten, welche die Marx’sche Ökonomie – gegründet auf die „objektivistische“ Arbeitswerttheorie und die Trias von Gebrauchswert, Tauschwert und Mehrwert – samt Gesellschaftstheorie von Anbeginn kritisiert haben, obenan die Vertreter der Österreichischen Schule von Eugen Böhm-Bawerk über Friedrich August von Hayek bis zu Ludwig von Mises. (27, 231, Fn.2) Hinzu kommen Denker wie der englische Jurist und Historiker Frederic William Maitland (1805–1906), Max Weber, Werner Sombart und Raymond Aron.
Der Glaube an die universelle menschliche Natur
Zu recht kennzeichnet Scruton auch das Marx’sche Denken, das mit dem „utopischen Sozialismus“ der Frühsozialisten aufräumen wollte, in seiner „wissenschaftlich“ begründeten Zielrichtung des Geschichtsprozesses als utopisch. Während der „späte“ Marx auf eine Beschreibung der kommunistischen Zukunft verzichtet, entwirft er in der 1845/46 entstandenen Frühschrift „Die deutsche Ideologie“ die utopische Vorstellung des nicht entfremdeten, der Arbeitsteilung enthobenen Lebens. Dort steht der viel zitierte Satz, in Zukunft werde es dem Menschen möglich sein, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren.“ (zit. 25) Sofern mit Ironie begabt, mögen „linke“ Kritiker und „rechte“ Bewunderer Scrutons vermerken, dass der – auch mit Einkünften aus der japanischen Tabakindustrie – materiell höchst erfolgreiche Sir Roger auf seiner Farm „Scrutopia“, gelegen im südwestenglischen Wiltshire, für sich selbst genau dieses utopische Ideal verwirklichen konnte.
Da alles fließt, sind Konservative stets in der Verlegenheit, zu erklären, was es festzuhalten und zu bewahren gilt. Scruton verficht einen Konservativismus in britischer Tradition. Als Ahnherr gilt Edmund Burke, Verteidiger der Rechte der Kolonisten in Amerika (rights of Englishmen) und Feind der Französischen Revolution. Nicht nur für englische und/oder amerikanische Konservative – etwa auch für Hannah Arendt – sind die Glorreiche Revolution von 1688 und die Amerikanische Revolution von Ursprung und Verlauf her grundsätzlich verschieden von der ins Totalitäre mündenden Revolution in Frankreich.
Scruton bekennt sich als Platoniker, in der politischen Theorie lässt er indes nur den späten Platon der „Gesetze“ (nomoi) gelten. Im übrigen verfährt er eklektisch. Er verteidigt die englisch-schottische Aufklärung mit ihrem Glauben an die universelle menschliche Natur und die Vernunft gegen die „postmodernen“ französischen Destruktionisten und den „relativistischen Guru“ Edward Said (325, 328f.) Zu den vielen Quellen seines Denkens zählen Samuel Taylor Coleridge, Joseph de Maistre, Hegel, Dostojewski, John Ruskin und T.S. Eliot.
Für Scruton besteht Konservativismus aus „einer Politik der Sitten, der Kompromisse und der entschiedenen Unentschiedenheit (Hervorh. H.A.). Für Konservative seien politische Zusammenschlüsse wie Freundschaften: Sie haben kein übergeordnetes Ziel und ändern sich Tag für Tag, der unvorhersehbaren Logik einer Konversation folgend.“ Extremisten sind in „einer konservativen Allianz“ unwillkommen, sie sind „isoliert und sogar gefährlich.“ (24)
Protagonisten der englischen New Left
Ungeachtet des provokativen Buchtitels und seiner Lust an Polemik begegnet Scrutons den meisten der kritisierten Autoren mit Fairness. Das gilt etwa für das zweite Kapitel, wo er – ungeachtet der Überschrift „Missgunst in Großbritannien“ – den Historikern Eric Hobsbawm und Edward P. Thompson Anerkennung zollt. Hobsbawms Werke seien fesselnd zu lesen. Hingegen verfehle seine strikt „materialistische“ Analyse, der „Klassenkampf“ als zentrale Kategorie seiner marxistischen Geschichtsschreibung, die vermeintlich ideologiekritische Abwertung von Nation und Tradition (Eric Hobsbawm – Terence Ranger: The Invention of Tradition, 1983) die historische Wirklichkeit. Die reale Bedeutung der „Nation für sich“ – gegenüber der von Intellektuellen internationalistisch herbeigeträumten „Klasse für sich“ – habe sich in der Opferbereitschaft des britischen Volkes im Kampf gegen Nazi-Deutschland erwiesen. (57) Entsprechend ablehnend erwähnt Scruton auch Benedict Anderson und Ernest Gellner, die beiden anderen Kritiker der Nation als einer modernen „Erfindung“, sprich Fiktion. (56)
Hinsichtlich der Biographie Hobsbawms, der aus Deutschland fliehen musste, äußert Scruton Verständnis für dessen antifaschistischen Überzeugungen. Das rechtfertige aber keineswegs die ideologische Einseitigkeit – etwa in der Glorifizierung der „Massen“ – und die blinden Flecken in seiner Geschichtsschreibung. „Als ich Das Zeitalter der Extreme las, war ich erschüttert darüber, dass das Buch nicht mindestens so sehr als Skandal empfunden wurde wie David Irvings Leugnung des Holocaust. Ich war gezwungen, erneut zu erkennen, dass Verbrechen der Linken nicht wirklich Verbrechen sind, und dass jene, die sie mit Schweigen übergehen, dies immer mit den besten Motiven tun.“ (60)
Mit Lob wird E.P. Thompson bedacht, und dies nicht etwa nur deshalb, weil er – anders als Hobsbawm, der bis zur Selbstauflösung der CPGB sein Parteibuch behielt – nach dem Ungarnaufstand 1956 die kommunistische Partei verließ, sondern weil er „einen wunderbaren, für empirische Fakten empfindlichen, investigativen Geist [besaß]... Eloquent und wirkmächtig betonte er die Verpflichtung aller Historiker, ihre sauberen Theorien zu verwerfen, wenn sie den Tatsachen widersprachen.“ (66) Thompson bewies intellektuelle Redlichkeit in der Auseinandersetzung mit neulinken „Scharlatanen“ wie Louis Althusser, was nicht zufällig mit dem von Perry Anderson betriebenen Ausschluss aus dem New Left Review zusammenfiel. (66)
Mit scharfer Kritik wendet sich Scruton im siebten Kapitel („Der weltweite Kulturkampf der Neuen Linken von Gramsci bis Said“) gegen Perry Anderson, der als radikaler firebrand und als langjähriger Herausgeber (1962–1983) des New Left Review – anders als sein Bruder Benedict – auf eine akademische Karriere verzichtete. Es geht dabei nicht allein um Andersons Abwertung konservativer Repräsentanten der britischen Kultur, etwa des Literaturkritikers Frank R. Leavis. „Wer Leavis ablehnt, lehnt auch Burke, Coleridge, Arnold, Hazlitt, Ruskin und Eliot ab, all jene, die kritische Präsenz in unserer nationalen Kultur gezeigt haben.“ (311). Mit seiner Kritik an nicht-marxistischen „weißen Einwanderern“ (wie Lewis B. Namier, Ludwig Wittgenstein, Karl Popper und andere), die wie eine Welle „die flachen Gebiete des englischen intellektuellen Lebens [überrollte“] (zit. 310), habe Perry Anderson das Bild einer „kulturellen Verschwörung“ vermittelt und dabei „einen langen Weg auf einem bekannten und verwerflichen Pfad zurückgelegt.“ (312)
Für deutsche Leser informativ sind Scrutons Ausführungen zu hierzulande weniger bekannten britischen Autoren wie Christopher Hill, dem Historiker des englischen Bürgerkriegs, zu dem Soziologen Ralph Milliband (Vater der Labour-Politiker Edmund und David Milliband) sowie zu dem Kulturtheoretiker Raymond Williams, im britischen Bildungswesen einflussreicher Vermittler der Philosophie Gramscis. (292ff.) Bezüglich Christopher Hill, der während der letzten zwei Kriegsjahre Beamter im Außenministerium war und nach dem Krieg Mitglied der Historikerzelle der KP in Oxford, erinnert Scruton an den Verdacht, Hill habe – wie die notorischen „Cambridge Five“ – zum Netz sowjetischer Spione gehört, die Stalin „brauchte, um die Übernahme Osteuropas vorzubereiten.“ (45f.)
Von amerikanischen liberals über Sartre zur französischen Nonsens-Maschine
Weniger ergiebig erscheint das dritte Kapitel, wo Scruton – er lebte und lehrte mehrere Jahre in den USA – den einst berühmten keynesianischen Ökonomen John Kenneth Galbraith und den Rechtsphilosophen Ronald Dworkin, als Protagonisten des amerikanischen liberalism, aufs Korn nimmt. Nicht anders als für amerikanische Konservative ist liberalism für Scruton identisch mit socialism. An Galbraith rügt er dessen ironisch herablassende Kritik am consumerism als Kennzeichen der – von Galbraith keineswegs abgelehnten – kapitalistischen Industriegesellschaft, an Dworkin dessen linksliberale Interpretation der amerikanischen Verfassung.
Der in New York und London lehrende Dworkin (1931–2013) gehörte zu den Vorkämpfern der „positiven Diskriminierung“ (in den USA bekannt als affirmative action), welche soziale Gerechtigkeit und mehr Gleichheit – equity als Schlüsselbegriff anstelle von equality im Sinne von Rechtsgleichheit – vermittels Quoten erzielen will. (101) Inwiefern diese Praxis zur Radikalisierung des liberalism im Zeichen von identiy/diversity, queerness und wokeness beigetragen hat, muss offen bleiben. Der von Dworkin beförderten Tendenz widersetzt sich Scruton wie folgt: „Für einen Konservativen ist es eine Frage des gesunden Menschenverstandes, dass die ununterbrochene Liberalisierung und die ständige Umänderung der Gesetze, um sie dem Lebensstil der New Yorker Elite anzupassen, irgendwann zu einer Gefahr für die Gemeinschaft werden würde.“ (98)
Im folgenden, 57 Seiten langen Kapitel – das erste von drei über die Welt der französischen Linken – setzt sich Scruton mit dem Emanzipationsbegriff bei Sartre und Foucault auseinander. Er eröffnet Kapitel mit einer Betrachtung über den französischen Katholizismus, der einerseits seit dem Ersten Weltkrieg eine Renaissance im Zeichen des renouveau catholique erlebte, andererseits durch den atheistischen Nationalismus eines Charles Maurras sowie durch Vichy kompromittiert war. Unter anderen Vorzeichen traf dies auf die französische KP und deren keineswegs unbefleckte Rolle vor und während der Résistance zu.
Vor diesem Hintergrund übte seit den dreißiger Jahren der russische Emigrant Alexandre Kojève (Aleksandr V. Koževnikov, 1902–1968) – später als hoher französischer Staatsbeamter einer der Wegbereiter der westeuropäischen Einigung unter „lateinischer“ Ägide – als Vermittler der Hegelschen Dialektik auf die französischen Intellektuellen – von Georges Bataille, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir über Raymond Aron und Jacques Lacan bis zu Maurice Merleau-Ponty – große Faszination aus. Wie Sartres einstiger Freund Aron feststellte, füllte der Marxismus bei den linken Intellektuellen die Lücke, die das Schwinden der Religion hinterlassen hatte.
„Mephisto der westlichen Philosophie“
Für Sartre und andere ging es fortan um den Widerspruch zwischen der Vision der radikalen Freiheit des seiner selbst bewussten Individuums und um dessen Wahrnehmung der gesellschaftlich bedingten „Entfremdung“, der säkularen Version des biblischen Sündenfalls. Die Auflösung des Widerspruchs fand Sartre in seinem von Edmund Husserl und Martin Heidegger inspirierten Existenzialismus. Unnachsichtig gegenüber dem politischen Sartre und dessen Fehlleistungen – von der dürftigen Teilhabe an der Résistance, der vermeintlich kritischen Haltung vis-à-vis der KP über die Bewunderung für Fidel Castro bis zur Rechtfertigung der Morde des palästinensischen Terror-Kommandos bei den Olympischen Spielen in München 1972 – lässt ihn Scruton als „komplexen Denker“ gelten. (121) Er hält zwar nichts von Sartres „Authentizitätskult“, betrachtet ihn jedoch als den „großen Verneiner, [den] Mephisto der westlichen Philosophie.“ (128) Dazu ein weiterer rühmender Satz: „Die Beschreibungen des sexuellen Verlangens sind Sartres eindringlichsten Betrachtungen und beispiellos in der philosophischen Literatur.“ (129)
Die „synthetisierende Poesie seines Stils erhebt sich über den Schlamm linker Texte wie ein Adler über den Sumpf“, heißt es über Foucault. (152) Doch geht es nicht um dessen literarische Begabung, sondern um den Inhalt seiner Werke, id est um das Konzept der befreienden Gewalt. Foucaults Herrschaftstheorie, seine Fixierung auf die Bourgeoisie als Verursacherin aller Unfreiheit, erst recht seine Rechtfertigung der terreur in der Großen Revolution ist mehr als fragwürdig. Theoretisch untauglich findet Scruton den Begriff der épistèmes für Wissensstrukturen als subtilen Herrschaftsinstrumenten. Es handelt sich um kaum anderes als eine Neuauflage der Marx’schen Ideologiekritik. Dass Foucault sich für die Iranische Revolution und das Mullah-Regime begeistern konnte, wird durch seine Sympathie für die polnische Solidarność nicht aufgewogen.
Bei den späten Schriften Foucaults gewann Scruton den Eindruck, dass dieser sich „normalisiert“ habe. Sein Resümee: Er habe immer den Eindruck gehabt, „dass Foucaults aggressive linke Einstellung keine Kritik der Wirklichkeit, sondern ihre Abwehr war, es war die Weigerung zu akzeptieren, dass die Normalität – trotz aller ihrer Mängel – das Einzige ist, was wir haben.“ (170)
Dass der nie endende Weg der Befreiung von „Nonsens in Paris“ markiert ist, zeigt Scruton vor allem im sechsten Kapitel, wo er – vergnüglich zu lesen – gegen die teils verblichenen, teils noch leuchtenden Sterne des Pariser Intellektuellenhimmels – Louis Althusser, Gilles Deleuze, Jacques Lacan, Jacques Derrida usw. – polemisiert. Als Produzent von Neusprech, identisch mit hochgestochenem Nonsens, steht der Psychiater und Psychoanalytiker Lacan obenan. Der „shrink from hell“ (= Seelenklempner aus der Hölle“) – so der englische Philosoph und Neurowissenschaftler Raymond Tallis – und serielle Verführer traktierte nicht nur zehn Klienten in einer Stunde, sondern faszinierte mit seinen auf die Wandtafel des Hörsaals geworfenen mathèmes – eine mit mathematischen Chiffren angereicherte Adaption des von Kojève übernommenen Begriffs des „Anderen“ (l´Autre) – die Studenten des Pariser Mai ´68. In Lacans Zauberkasten fand Scruton folgendes Zitat: „[Es ist] nicht mehr nötig, auf den veralteten Begriff des Masochismus zu rekurrieren, um den Sinn der Wiederholungsspiele zu begreifen, in denen die Subjektivität die Beherrschung ihrer Gottverlassenheit und die Geburt des Symbols hervorbringt.“ (Zit. 256).
Mit Nonsens-Zitaten zerlegt Scruton die mit dem Schlüsselbegriff des „Rhizoms“ (= Pilzgeflecht) auf Subversion der Macht der Bourgeoisie zielende Theorie von Deleuze, der laut Foucault „le siècle Deleuze“ begründet hat. In Differenz und Wiederholung (dt. 1992) appliziert Deleuze Nietzsches Zarathustra als „den dunklen Vorboten der ewigen Wiederkunft“ wie folgt: „Die ewige Wiederkehr sondert aus, was, indem es den Transport der Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft selbst unmöglich macht.“ (Zit. 261). In dem von Deleuze zusammen mit Félix Guattari verfassten Buch Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie (dt. 1992) geht es darum, die allenthalben unterdrückerischen, „binären Strukturen“ der westlichen Kultur bloßzulegen: „Unsere Semiotik des modernen Weißen Mannes, also des Kapitalismus, hat einen Vermischungszustand erreicht, in dem Signifikanz und Subjektivierung einander tatsächlich durchdringen.“ (Zit. 266).
Nachdem mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion für einen historischen Augenblick auch im Westen linke Theoriegebäude zusammengestürzt schienen, erhob sich laut Scruton im 21. Jahrhundert in Gestalt der „French theory“ erneut das „Monster aus der Tiefe“ (333) – eine Anspielung auf das Verwirrung und Verwüstung anrichtende „Tier“ (engl. „the beast“) aus der Johannes-Offenbarung. Scrutons Kritik an Alain Badiou und Slavoj Žižek zielt auf deren Geschichtsmetaphysik. Beide sind – unangefochten von Empirie und Historikern wie Francois Furet – unvermindert positiv fasziniert von der Revolution. Badiou spricht in Großbuchstaben von „dem EREIGNIS“ (358). Auch Žižek, Schüler Badious und Verehrer Lenins, findet eine Rechtfertigung für den „humanistischen Terror“ von Robespierre und St. Just im Gegensatz zum „antihumanistischen oder inhumanen“ Terror der Nazis. (371) Scruton: „Und so hat die Utopie erneut unangefochten die Stelle eingenommen, die die Theologie nicht mehr einnehmen konnte...“ (375)
„Bergab zu Habermas“
Im fünften Kapitel, übertitelt mit „Ödnis in Deutschland: Bergab mit Habermas“, seziert Scruton die deutsche Geisteslandschaft im 20. Jahrhundert. Die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des Menschen und – nach eigenem Bekenntnis – der eigene Glaubensakt durch „Übertreten zum Marxismus“ (zit. 176) bildeten das große Lebensthema von György (Georg) Lukács (1885–1971), dem an seiner Herkunft leidenden Spross des deutsch-jüdischen Großbürgertums in der K.u.k. Monarchie. Mit seiner Kapitalismuskritik fand der von Hegel – und in seiner Jugend auch von Georges Sorel (!) - beeinflusste Lukács in Adorno einen Geistesgenossen. Mit Kultbegriffen der „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ wirkte er als einer der Stichwortgeber der Achtundsechziger.
Scrutons Kritik an Lukács zielt – von dessen Agieren im Moskauer Exil und in Ungarn abgesehen – auf dessen behaupteten Humanismus, einhergehend mit intellektuellen Hochmut gegenüber allen „Nihilisten“, „Reaktionären“ und Nostalgisten“. Erhellend sind zwei Zitate: „Die kommunistische Ethik macht die Akzeptanz der Notwendigkeit, böse Taten begehen zu müssen, zur wichtigsten Pflicht.“ (Zit. S.137) Auf die Kritik der Grenznutzenschule an Marx reagierte Lukács mit bloßer Polemik: „Die ‚Grenznutzentheorie‘ der imperialistischen Periode ist der Gipfel der abstrahierenden und formalistischen Entleerung der Ökonomie.“ (Zit. 181). Die Soziologie hielt Lukács, in Heidelberg einer der Schüler Max Webers, für eine „neue Wissenschaft der Verfallszeit“, daraus entstanden, „dass die bürgerlichen Ideologen Gesetzmäßigkeit und Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung von der Wirtschaft getrennt erkennen wollen.“ (Zit. ibid.)
Lukács begriff sich – proklamatorisch in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923) – als Vor-Denker und Interpret des den Kapitalismus überwindenden proletarischen Klassenbewusstseins. Auf ein Satzungetüm, in dem es darum geht, „die verdinglichte Struktur des Daseins praktisch zu durchbrechen“, antwortet Scruton: „Ach, was für ein Unsinn!“ (194)
Herbert Marcuses Suhrkamp-Bestseller-Bändchen „Kritik der repressiven Toleranz“ deklariert Scruton zu recht als Billigware. Schade, dass dort, wo er den Autoritäten der Frankfurter Schule ohne die von westdeutschen Linken gepflegte Ehrfurcht entgegentritt, eine Kritik von „Autorität und Familie“ – neben Marcuses Traktat die andere Bibel der westdeutschen 68er – fehlt. Seine These, dass Max Horkheimer in seiner „kritischen Theorie“ Kants kategorischen Imperativ mit marxistischen Kategorien in Gesellschaftskritik umformte (202), dürfte unter Linken sogar Zustimmung finden. Umgekehrt wird – wenngleich evident – der Befund auf Ablehnung stoßen, dass „fast alles, was er [Horkheimer] sagt“, auch in der Technikkritik von Ernst Jünger oder Martin Heidegger anzutreffen ist. (203)
Dialektische Taschenspielertricks
Als Konservativer äußert Scruton eine gewisse Sympathie für die Konsum- und Kulturkritik der Frankfurter Schule, hält jedoch fest, dass derlei Kritik auch bei dem christlichen Sozialkonervativen John Ruskin, bei Matthew Arnold, T.S. Eliot und F.R. Leavis zu finden ist. Adornos Aversion gegen den amerikanischen Kapitalismus – angeblich wesensverwandt mit dessen „totalitärer“ Version des Faschismus – hält er für „von Grund auf unehrlich“. (209) Auch missfällt ihm in den Schriften der Frankfurter Schule die „liturgische Stimme“. (204) Ein Text, in dem Adorno Johann Sebastian Bach zunächst „als altertümlichen Polyphoniker“ bezeichnet, endet in folgender Conclusio: „Das längst Vergangene wird zum Träger der Utopie des musikalischen Subjekt-Objekts, der Anachronismus zum Boten der Zukunft.“ (Zit. 207) Die Passage dient Scruton als Beleg für Adornos dialektische „Taschenspielertricks“. In dessen Weltdeutung stehe Bach „auf der richtigen Seite der Geschichte, nämlich auf der Seite, wo nach Utopia gesucht und wo – in objektiver Form – die echte Freiheit des Subjekts bewahrt werde.“ (207f.) Der Thomaskantor pries das Evangelium der christlichen Erlösung, nicht der Utopie.
Siebenundzwanzig Seiten sind Habermas, dem letzten –- von Horkheimer anno 1961 abgelehnten – Repräsentanten der Frankfurter Schule gewidmet. Dass Habermas’ – vermeintlich „universalistische“, von Fall zu Fall abgewandelte – Sozialphilosophie einen biographischen Hintergrund in dessen Nazi-Jugend hat, wird nur beiläufig erwähnt. (172) Dass es sich dabei – und um Habermas’ lautes Bekenntnis zur westlichen „Umerziehung“ – um das spezifische , psychologisch verwurzelte, erkenntnisleitende Interesse handelt, steht nicht im Zentrum von Scrutons kaustischer Kritik. Auch fehlt ein Kommentar zu Habermas’ Agieren im sog. „Historikerstreit“ sowie zu dessen sonstigen autoritären Auftritten im deutschen Kulturbetrieb.
Scruton belässt es nicht bei Sprachkritik an Habermas’ Prosa („unentwirrbares Geschwafel“, 212), sondern unterzieht sich der Mühe der Analyse dessen, was dieser zunächst als Kritiker der „Legitimitätsprobleme im Spätkapitalismus“ (1973) – ein von Sombart entliehener, Endzeit signalisierender Terminus –, sodann als Theoretiker des „kommunikativen Handelns“ (1981), zuletzt als Protagonist einer „transnationalen Demokratie“ in assoziativer Weitschweifigkeit zu Papier gebracht hat. Den illustren Begriff der „Emanzipation“ verknüpft der spätere Habermas mit der „idealen Sprechsituation“ im „herrschaftsfreien Diskurs“, danach (1996) – von Scruton unerwähnt – mit der Abstraktion der „deliberativen Demokratie“. Habermas „streift um das alte Thema des Gesellschaftsvertrags herum, ohne die Kant’sche Frage zu stellen, ob der hypothetische Vertrag ausreicht, um die Legitimität zu sichern, und ob ein gerade gültiger Vertrag seine Geltung verlieren kann.“ (221)
Scruton legt Modus und Impetus der Habermas’schen Begriffsflut offen: Habermas operiert mit Tautologien (Zitat:„Ein Argument enthält Gründe, die in systematischer Weise mit dem Geltungsanspruch einer problematischen Äußerung verknüpft sind. Die >Stärke< eines Arguments bemisst sich, in einem gegebenen Kontext, an der Triftigkeit der Gründe...“ [219]), sein „herrschaftsfreier Diskurs“ begründet den eigenen Herrschaftsanspruch. Scruton spricht aus, was in den deutschen „Diskursen“ – von ein paar ironisch Begabten abgesehen – keiner wagt zu sagen: Habermas’ „deliberative“ Diskurspraxis, zusammengesetzt aus „informierten Teilnehmern“, ist ein autoritäres Unternehmen. Mit dem Griff zum Telefon dirigiert er die Feuilletons.
Das Emanzipationsversprechen hat praeceptor Germaniae occidentalis Habermas neuerdings in seinen Projekten der „transnationalen“ europäischen Integration verpackt. „Habermas [vermeidet] die Erörterung der echten Fragen, vor denen wir stehen, und empfiehlt uns, sie zu diskutieren, nur um eine Diskussion zu vermeiden. Ich befürchte, beim neuen Europa geht es genau darum.“ (228) Das europäische Projekt wird seit langem von der Brüsseler Bürokratie vorangetrieben, ohne dass hierzulande deren ehedem noch beklagtes „demokratisches Defizit“ auf vernehmbaren Widerspruch stößt. Die europäische Praxis kommentiert Scruton, Befürworter des Brexit, wie folgt: „Tatsächlich war es Hegel, der Ideologe der >bourgeoisen [recte: bürgerlichen] Gesellschaft<, der die Beamten als die wahre Oberklasse identifiziert hat.“ (227)
Die Liebe zur Totalität
In den 1960er Jahren entdeckten westeuropäische Linke von Antonio Gramsci (1891–1937), dem nach qualvoller Haft verstorbenen Märtyrer des italienischen Kommunismus, als vom Stalinismus unbefleckte Autorität und als Quelle der Inspiration. In den 1948–1951 erstmals veröffentlichten „Gefängnisheften“ sann Gramsci über den Industriekapitalismus im Zeichen des Fordismus, über die italienische Geschichte und insbesondere über die Niederlage des italienischen Sozialismus, den Aufstieg und Sieg des Faschismus unter dem revolutionären Ex-Sozialisten Benito Mussolini nach. Für Hobsbawm war Gramsci „ein außerordentlicher Philosoph, ein Genie vielleicht, aber mit Sicherheit der originellste Denker des zwanzigsten Jahrhunderts in der westlichen Welt.“ (Zit. 278) Rühmende Worte fand auch Norberto Bobio (nach spätem – von Scruton unerwähntem – Bekenntnis in jungen Jahren Faschist) für Gramscis „Person und Werk“. (Ibid.)
Von Gramsci, der den „Vulgärmaterialismus“ attackiert hatte, kamen die neuen linken Leitbegriffe, obenan die „kulturelle Hegemonie“ und die „Zivilgesellschaft“. Bedauerlicherweise kommt in der Kritik von Scruton, dem aus der englischen Geschichte die „civil society“ – die Antithese zum monarchischen Absolutismus der Stuart-Könige – vertraut ist, Gramscis unklarer Begriff der società civile – als „Zivilgesellschaft“ der omnipräsente Terminus der zeitgenössischen lingua politica – nicht vor. Seine Kritik zielt auf das kulturrevolutionäre Konzept sowie auf den Elitebegriff Gramscis, dem ein Bündnis der Intellektuellen mit den „Massen“ vorschwebte. Durch einen neuen, aus der veränderten Alltagskultur erwachsenen „historischen Block“ – nicht mehr durch das Proletariat als historisches Subjekt – wollte Gramsci das sozialistische Endziel zu verwirklichen. Zum maßgeblichen revolutionären Subjekt avancierten bei Gramsci die Intellektuellen (was bis heute dessen „Philosophie der Praxis“ nicht nur bei linken Intellektuellen höchst attraktiv macht).
Mit seiner Betonung des kulturellen Faktors (id est des „Überbaus“) „überzeugte [er] seine Anhänger, dass revolutionäre Praxis und theoretische Korrektheit identische Merkmale seien und dass Lernen gleich Weisheit und Weisheit gleich das Recht zu herrschen sei.“ (280) Unter Bezug auf Eric Voegelin klassifiziert Scruton Gramscis Denken – und die Attraktivität von „Gramscis Art des Linksseins in katholischen Ländern, insbesondere in Italien“ – als eine säkulare Variante der christlichen Häresie der Gnosis. (Ibid.)
Gramsci war unter anderem von Georges Sorel beeinflusst, der Lenin und Mussolini zu erfolgreichen Praktikern seiner Theorie – id est des „Mythos“ der revolutionären Gewalt – erklärte. Sein elitäres Führungskonzept, enthalten im Begriff der „Hegemonie“, war von Machiavelli entliehen. Nicht zufällig lautet der Titel einer der Gefängnisschriften „Der moderne Fürst“ (leider sinnstörend übersetzt mit „Prinz“ [284 Fn. 9, 286, 289]). Der „moderne Fürst“ ist die Partei, geführt von der Avantgarde der Intellektuellen. (286) Dass Gramscis Vision von der Harmonie der „Massen“ und der Intellektuellen eine Fiktion ist und hinter dem Führungsanspruch der Intellektuellen die Figur des charismatischen Führers aufscheint, liegt auf der Hand.
Scruton weist nicht nur Gramscis schlichte Unterscheidung von historisch integren „Massen“ und den inferioren Trägern des Faschismus – „der untersten Schicht der italienischen Bourgeoisie“ (Gramsci, zit. 290) – zurück. Er arbeitet Züge in Gramscis Denken heraus, die in den neulinken Diskursen gerne ignoriert werden: die „tiefe, strukturelle Gemeinsamkeit von Kommunismus und Faschismus“ (wobei er – keineswegs allein – eine Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit dem italienischen Faschismus für „höchst fragwürdig“ erklärt). (281) In ihrer „Unbedingtheit“ zur Durchsetzung ihrer gegensätzlichen Ziele – hier Macht um im Dienste der Menschheit, dort Macht um der Macht willen – ist der psychologische Impetus identisch. Beide versuchen, eine Massenbewegung zu organisieren und unter Führung der Partei Staat und Gesellschaft zu einer „totalen“ Einheit zu verschmelzen. (282) „Der Kommunist teilt die tiefe Verachtung des Faschisten gegenüber jedweder Opposition... Doch die Frage der Opposition ist die alles entscheidende Frage in der Politik“, schreibt Scruton. (287) Im Hinblick auf Gramsci wäre indes noch einmal zu prüfen, ob dessen angestrebter „historischer Block“ die Existenz einer Opposition zuließe oder nicht. Jedenfalls gehört zur Geschichte der Linken ihre Aufspaltung in Fraktionen, in Gemäßigte und Radikale, Pragmatiker und Verwalter der reinen Lehre, nicht zuletzt der Abfall von Renegaten.
Auch bei Gramsci taucht der Begriff des fascio für das Proletariat als einer idealen Einheit auf – ein von den italienischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts entworfenes Bild. (282, 291). Natürlich steckt in dem Wort fascio (= Bund, Verband)“) noch nicht Gestalt und Praxis der faschistischen Kampfbünde. Nichtsdestoweniger erkennt Scruton in der von Neomarxisten, aber auch von Sartre, etablierten – und ritualisierten – Kategorie der „Totalität“ eine Geistesverwandtschaft zu dem von Giovanni Gentile, dem abtrünnigen Croce-Schüler und Chefintellektuellen des italienischen Faschismus, propagierten „totalen Konzept des Lebens“. Scruton: „Die Rhetorik der Totalität verbirgt die Leere im Herzen des Systems, wo eigentlich Gott hingehörte.“ (136)
Relativismus als neuestlinker Dogmatismus
Amerikanische Konservative unterschiedlicher Couleur, die mit dem Namen Gramsci womöglich wenig anfangen können und auch von Marx (und den Marxismen) nicht allzuviel wissen, nennen das, was sich seit mehr als zwanzig Jahren an den Universitäten und in den Medien abspielt, als „Kulturmarxismus“. Auch Scruton spricht von „Gramscis Kulturrevolution“, die in die USA transferiert, „zum kulturell zersetzenden Wurm“ wurde. (331)
Scruton verweist auf die Paradoxie des von Propheten der Postmoderne verkündeten Destruktionismus: die für kulturrelativ, machtbesetzt, „kolonialistisch“ usw. erklärten Denktraditionen der westlichen Kultur werden im Zeichen der political correctness durch das postmoderne Curriculum allumfassender Gleichwertigkeit – mit Ausnahme der „alten weißen Männer“ als neues Hassobjekt anstelle der Bourgeoisie – ersetzt. Es handelt sich um nichts anderes als um eine theoretisch ungeordnete, nichtsdestoweniger absolute Gültigkeit beanspruchende Dogmatik, über deren Einhaltung die akademischen Wächter der neuen Orthodoxie befinden.
Scruton geht noch einen Schritt weiter. Die links-progressistischen Relativisten gehören zum Lager des Liberalismus – ein mittlerweile auch auf die europäischen Liberalen ausweitbarer Begriff des liberalism. Unter dem Signum der Beliebigkeit von Meinungen und Freiheit der Lebensstile praktiziert der von hegemonialen Kulturlinken besetzte Liberalismus Zensur über die Kritiker des ideologischen Absolutismus. (330)
Die Herrschaftstechnik der neuesten – und früherer – Linken bestehe darin, für konservative Kritiker ihrer Ideologie die Beweislast umzukehren. Niemand, so schließt Scruton, habe dies „klarer erkannt als der reformierte Totalitäre Platon.“ (397) Er wisse aber, dass sein Versuch, die Beweislast umzukehren, von seinen linken Gegnern niemals angenommen werde. (398) Mit dieser resignativ klingenden Feststellung, die von „Linken“ als Hochmut ausgelegt wird, scheint Scruton die tiefe Spaltung, die in der amerikanischen Gesellschaft aufgebrochen ist und auch in Europa zu erkennen ist, als unabänderlich hinzunehmen, ohne noch auf eine Überwindung der ideologischen Gegensätze zu hoffen.
Roger Scruton: Narren Schwindler und Unruhestifter. Linke Denker des 20. Jahrhunderts, München (FinanzBuch Verlag) 2021, 410 Seiten
(20220213PG)