Gunter Weißgerber / 14.04.2020 / 15:45 / Foto: Pixabay / 21 / Seite ausdrucken

Die Degradierung des Souveräns

Deutschland befindet sich gerade im Notstandsmodus. Ein Zustand, der Politikern gefällt, die gern mal so richtig durchregieren. Da könnten sogar bisherige demokratische Spielregeln geändert werden, praktischerweise beschäftigen sich ja alle mit dem Coronavirus, und das Versammeln und Protestieren ist zudem gerade streng verboten. Auch zur Verkleinerung des Bundestags machen beunruhigende Pläne die Runde.

„Derzeit sitzen 111 Abgeordnete zu viel im Bundestag. Eine Reform des Wahlrechts ist nötig, doch die Koalition kann sich nicht einigen. Wolfgang Schäuble will ein Deckelungsmodell.“ So vermeldete es das ZDF am Gründonnerstag. Der Deutsche Bundestag gehört mit aktuell 709 Abgeordneten, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, zu den mitgliederstärksten Parlamenten der westlichen Welt. Das ist durchaus steigerungsfähig: Mit der Bundestagswahl 2021 droht das Durchbrechen der Schallmauer von 800 Sitzen.

Gestiegen ist aber nicht die Zahl aller Abgeordneten. Die Zahl der direkt gewählten Parlamentarier entspricht logischerweise wie eh und je der Zahl der Wahlkreise. Zugenommen hat allein die Zahl der Listen-Mandate. Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 waren noch 49,55 Prozent der Bundestagsabgeordneten direkt gewählt, jetzt sind es im angeschwollenen Bundestag nur noch 42,17 Prozent.

Grund für das Anwachsen der Abgeordnetenzahl von den Parteilisten ist bekanntlich die zunehmende Zahl der Überhangmandate. Die wiederum sind eine Folge der Parteienzersplitterung infolge grassierenden Misstrauens seitens der Wahlbevölkerung. Wer die Wähler nicht mehr ernst nimmt, ihnen mit Misstrauen begegnet, der verliert sie. Ein alter Hut.

Auf dem Weg in die Funktionärsrepublik

Wolfgang Schäuble will nun mit einer eiligen Veränderung des Wahlrechts die Zahl der Abgeordneten reduzieren. Damit würde der Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung des Bundestages schwinden. Das hieße, nicht mehr die Landeslisten bildeten das Ergänzungsreservoir, um Differenzen zwischen Direktmandat-Verteilung und Verhältniswahl-Ergebnis auszugleichen. Im Gegenteil: Die Zahl der Direktmandate würde gekürzt – was einem historischen Paradigmenwechsel gleichkäme und das Parlament vollkommen den Parteifunktionären überlassen wäre. Diese Republik würde eine andere, eine hässlichere.

Galt bisher das Primat des direkt erworbenen Mandats, soll nach dem Bundestagspräsidenten zukünftig das Primat der Parteilisten gelten. Begäbe sich die Bundesrepublik damit auf den Weg in eine Funktionärsrepublik?

Sinn macht das natürlich aus Sicht der Schäubles dieses Landes vor dem Hintergrund der steigenden Unbotmäßigkeit des gemeinen Wahlvolks. Es wählt zunehmend anders als von den Parteien gewünscht. Mancher unbequeme Abgeordnete verdankt sein Mandat nur den Erststimmen, denn seine Parteiführung sieht ihn eher ungern im Parlament, weil er sich – so wie es im Grundgesetz steht – mehr seinem Gewissen als der Fraktionsdisziplin verpflichtet fühlt. Das sind (zu) wenige, aber es scheint, dass sich so manch ein Parteifunktionär mittels einer Wahlrechtsänderung gern auch solcher parlamentarischen Störenfriede entledigen würde.

Der erste Schritt hierzu ist nun Schäubles Notlösung. Gewöhnt sich das Wahlvolk daran, woran wohl wenig zu zweifeln ist, dann können kommende Parlamente sogar das gemischte Verhältniswahlrecht gänzlich aus dem Verkehr ziehen.

Warum kein Mehrheitswahlrecht?

Klüger wäre dagegen die Einführung des Mehrheitswahlrechts. In dem spielt die Akzeptanz von Politikern vor Ort die entscheidende Rolle – also das genaue Gegenteil von Schäubles Parteienstaats-Rettungs-Intentionen. Und: Statt 709 und mehr Abgeordneten gäbe es bei 299 Wahlkreisen konstant 299 direkt gewählte Bundestagsabgeordnete! Was ebenfalls ein Paradigmenwechsel wäre – einer zu mehr Bodenständigkeit im „Hohen Hause“.

Um es abgewandelt mit Neil Armstrong zu sagen: Wolfgang Schäuble geht in den Augen von alternativlos eingelullten Otto Normalverbrauchern einen kleinen Schritt, treibt die Bundesrepublik aber zu einem großen Sprung ins Parteienelend. Wer jetzt schläft, wacht in einer anderen Republik auf – einer alternativlos notständig-geführten Besserungsanstalt.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Peter Zentner / 14.04.2020

Das britische Merheitswahlrecht hat sich über Jahrhunderte bewährt: “Winner takes it all” gilt für jeden Wahlkreis. Wer eine Mehrheit der Stimmen erzielt, ist im House of Commons, kein einziger sonst. Und er (oder sie) ist den Wählern verantwortlich. Ich hab’ mal zähneknirschend versucht, einem englischen Freund das seltsame Listen-Gemauschel einer deutschen Bundestagswahl zu erläutern. Er wollte mir partout nicht glauben, dass auf diese krumme Art auch massenweise Leute ins Parlament kommen, die kein einziger Wähler kennt: “You must be kidding. How can unknown politicians be elected if nobody votes for them?” Diese Frage stelle ich mir auch, schon seit langer Zeit. (Die Cockney-Invektive meines Kumpels hab’ ich vorsichtshalber nicht zitiert.)

Richard Loewe / 14.04.2020

Warum finde ich die Worte “Schaeuble“ und “haesslich” in einem Satz so wunderbar harmonisch?

Ernst Dinkel / 14.04.2020

Konstant 299 Abgeordnete: Wer glaubt denn, dass diese 709 Gestalten 410 der ihrigen vom gut alimentierten Sessel schubsen? Vorher wird im Vatikan eine Pole-Dance-Bar aufgemacht.

toni Keller / 14.04.2020

wir erleben seit dem Herbst 2015 dass der Bundestag einfach unnötig ist Ich habe nie erlebt das irgendein Abgeordneer sich hingestellt hat und gesagt hat “Inhaltlich habe ich nichts gegen die Entscheidungen der Bundeskanzlerin, aber ich möchte dennoch gefragt werden und beantrage deshalb eine Debatte über die Migrationspolitik, die Geldzusagen usw!” Nie habe ich sowas gehört udn damit macht in meinen Augen das Parlament sich selber überflüssig. Weiter, wissen wir seit der Wahl des Monsterpräsidenten von Thüringen,  dass auch die Lönderparlamente nicht nötig sind, Vorhin eine Diskussion über mögliche Fahrpläne zur Rückkehr zu Normalität in den Schulen gehabt, ich wies auf die Kultushoheit der Länder hin, mir wurde entgegnet das die Kultusminster der Länder davon genau keinen Gebrauch machen wollen, sondern eine gemeinsame Strategie nach dem Willen von A.Merkel fahren wollen, dass die sich damit für überflüssig erklären wird ihnen selber auch nicht klar sein. Von daher schaffen wir den ganzen Kram doch einfach ab und rufen die Monarchie aus!? Ist Satire

Karla Kuhn / 14.04.2020

Vielleicht verrechnet sich Schäuble gewaltig und mindestens 50 Prozent der Wähler wählen die AfD ??  Alleine der Gedanke ist sensationell. Kann sich jemand die Gesichter der Politiker vorstellen ?? Wenn es so weitergeht, mit den “Wegsperrträumen” der “Juristen” (gestern SZ, “Risikogruppen” (gehört übrigens Schäuble auch dazu !) können isoliert werden” ), kann es doch durchaus sein, daß von den 23 Millionen Rentnern   (eine ungeheure Macht !!) die Mehrheit die AfD wählt. Nach der Oma-Umwelt- Nazi- Sau, jetzt das Wegsperren ?  Wobei es in der GESAMTEN Bevölkerung Risikogruppen gibt, immer mehr jüngere haben KREBS (s. Schwesig) ADIPOSITAS !! hat enorm zugenommen und damit auch Diabetes und Bluthochdruck. ERGO müssten vor ALLEM diese Gruppen, die meistens noch keine Rentner sind “ISOLIERT” werden !  Die heutigen Rentner leben oft gesundheitsbewußt, treiben Sport, viele fahren Rad und im Winter Ski.  Arbeiten im Garten, wie etliche meiner Bekannten und sind schlank und rank ! Meine sehr schlanke Mutter starb mit 82 Jahren an MRE -KEIMEN. Zuvor hatte mir der Arzt versichert, daß meine Mutter BESSERE Blutwerte hätte als so manch 30jährige und wenn nichts dazwischenkommt, wird sie mindesten 100 Jahre alt. Meine Mutter flitzte ein Leben lang wie ein Wiesel. Leider ging es dann von einem Tag auf den anderen ganz schnell. Übrigens, mit den Beatmungsgeräten besteht ebenfalls die Gefahr von multiresistenten Erregern ! Vielleicht sterben etliche Beatmete nicht durch/mit Corona , sondern durch Keime ? Wird das obduziert ??

Jörg Themlitz / 14.04.2020

Auf meiner Liste der demokratischen Politiker fehlt Herr Dr. Schäuble. Schon immer. Mir ist dabei klar, um derartige Höhen zu erklimmen, sollten demokratische Werkzeuge im Werkzeugkasten verbleiben. Nach dem alten Rezept: ´Unser Meister wollts kaum glauben, man kann auch mit dem Hammer schrauben.`

Matthias Popp / 14.04.2020

Nachdem ich - zugegeben - zunächst befürchtet hatte, Weißgerber wolle nur die gegenwärtig unsinnig hohe Zahl von Bundestagsabgeordneten rechtfertigen, haben mich seine Ausführungen im weiteren Verlauf jedoch positiv überrascht und erfreut. Daher jetzt meine volle Zustimmung: BT drastisch verkleinern und Abgeordnete nur noch per Mehrheitswahlrecht wählen lassen. Was für die “Mutter der Parlamente” in Westminster gut ist, kann in Deutschland kaum falsch sein. Leider halte ich die Realisierungschancen angesichts des Würgegriffs der Parteien für praktisch aussichtslos.

Thorsten Pallmauer / 14.04.2020

Das Mehrheitswahlrecht käme früher oder später dem Tod der intriganten Pfründewirtschaft gleich. Es wird daher nie NIE passieren

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