Thilo Spahl, Gastautor / 23.09.2020 / 06:00 / Foto: Jacek Halicki / 66 / Seite ausdrucken

Die Chronik der Ausgestoßenen

Cancel Culture steht für die Einschränkung von Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Die Website www.cancelculture.de dokumentiert diesen gefährlichen Trend.

Kann man heute noch unbesorgt sagen, was man denkt? Schwierige Frage. Einerseits ist klar, dass es noch nie ratsam war, zum Beispiel seinem Chef immer zu sagen, was man denkt. Wir wägen selbstverständlich stets ab, was wir wann, wie und zu wem sagen. Es war noch nie so, dass man immer und überall ganz unbesorgt seine Meinung sagen konnte.

Andererseits scheint die Zahl der heiklen Themen durchaus zuzunehmen, und das Risiko, Probleme zu bekommen, wenn man etwas „falsches“ sagt, ist erheblich. Je mehr die Diversität der Äußerlichkeiten und Lebensstile bejubelt wird, desto intensiver wird die Diversität der Meinungen bekämpft. Und oft muss es noch nicht einmal eine handfeste Meinungsäußerung sein. Mitunter reicht ein ungeschickter Witz oder eine unglückliche Formulierung in einem Facebook-Post, um unter Beschuss zu kommen.

Wie offen der Austausch von Meinungen in einer Gesellschaft erfolgen kann, ist ein Maß dafür, wie demokratisch diese Gesellschaft ist. Wenn Menschen eher vorsichtig sein müssen, wenn sie den Mund aufmachen, ist das definitiv ein schlechtes Zeichen. Wir dosieren zwar schon immer situationsbezogen unsere persönlichen Überzeugungen, wenn wir sie Anderen mitteilen. Das ist nur vernünftig, da man ja nie genau weiß, wie eine Meinung bei einem Anderen ankommt. Vor allem, wenn es eine starke Meinung ist und wenn es um ein „heikles“ Thema geht. Und oft sind wir uns ja auch selbst nicht sicher und wollen nur ausprobieren, was Andere von einer  bestimmten Idee halten – nicht zuletzt, um aus den Reaktionen zu lernen. Schließlich sind unsere Überzeugungen mitunter nicht fix, sondern formen sich nur allmählich und ändern sich auch immer mal wieder.

Aber gerade das freie Sprechen, die unbeschwerte Äußerung noch nicht auf die Verträglichkeit mit allerlei Befindlichkeiten abgeklopfter Aussagen, kann heute Konsequenzen haben. Denn überall lauern die Wächter über die ideologische Korrektheit der öffentlichen Debatte. Und das ist ein großes Problem. Denn die öffentliche Debatte lebt davon, dass sie offen geführt wird. Sie lebt davon, dass sie alles umfasst: das unbedachte Wort ebenso wie die gezielte Provokation. Den Ausdruck religiöser Überzeugungen ebenso wie das Verspotten von allem und jedem. Rechte Ideen und linke Ideen. Und natürlich auch „Klimaleugnung“, Gotteslästerung, „Merkelkritik“, Verschwörungstheorien. Sie lebt davon, dass sie vielstimmig ist und uns nicht die immer gleichen Gestalten ihre immer gleichen Gedanken mitteilen.

Eine wachsende Fallsammlung

Um an konkreten Beispielen zu dokumentieren, wie Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit eher zurückgedrängt als gefördert werden, hat das Freiblickinstitut das Projekt CancelCulture.de gestartet.

CancelCulture.de dokumentiert viele, recht unterschiedliche Einzelfälle, um damit die Breite des Phänomens, die kulturelle Dimension dieses Trends zu zeigen. In der Selbstbeschreibung des Projekts heißt es: „Ganz grob gesagt und vielleicht etwas weiter gefasst als von manchen anderen: Cancel Culture ist die Bezeichnung für eine Debattenkultur, bei der Meinungen nicht kritisiert, sondern unterdrückt werden.“ Das Ziel sei nicht nur, den einen oder anderen Auftritt zu verhindern, sondern ein Klima der Angst zu schaffen, das eine weitreichende und effektive Selbstzensur in allen Bereichen der Gesellschaft befördert.

Wichtig ist dabei der Unterschied zwischen Kritik und dem Abkanzeln: „Cancel Culture ist daher etwas anderes als Kritik“, heißt es auf der Website. „Kritik, auch scharfe Kritik, ist der Kern jeder echten Debatte. Diffamierung, Drohung, Deplatforming, Sprachvorschriften, Zensur und vorauseilender Gehorsam sind die Instrumente der Cancel Culture. Ein falsches Wort auf Facebook oder zwei falsche Likes bei Twitter können schon genügen, damit die Disziplinierungsmaschine anspringt. Legitime Kritik folgt dem Muster: Du bist auf dem Holzweg, und ich weiß es besser. Ein CC-Angriff folgt dagegen dem Muster: Du bist böse (und/oder gefährlich), und ich bin gut. Sie zielt darauf, die Reputation des Angegriffenen zu schädigen und die eigene zu erhöhen. Sie ist eine Kombination aus Diffamierung und Virtue Signalling.“

Selbst wer immer schön vorsichtig ist und nichts sagt, was ihn angreifbar macht, ist vor Diffamierung nicht geschützt. Denn es gilt das Prinzip der Kontaktschuld. Es reicht schon, auf einer „falschen“ Website einen Text zu veröffentlichen oder vor dem „falschen“ Publikum eine Rede zu halten – unabhängig davon, was in dem Text steht oder dem Vortrag gesprochen wird. Oder auf einer Demo anwesend zu sein, bei der auch irgendwelche Spinner mitlaufen und ihre Fahnen schwenken.

Das Projekt CancelCulture.de ist noch jung. Die Website ist seit einem guten Monat online. Sie lebt davon, dass viele unterschiedliche Fälle (einschließlich eines Personenregisters) dargestellt werden, um die vielen Facetten dieser schädlichen Entwicklung zu zeigen. Damit dies gelingt, sollten möglichst viele beitragen. Deshalb hier ein kleiner Aufruf:

Wann immer Sie beobachten oder davon lesen, dass jemand wegen seiner Meinung Probleme bekommt, er eingeschüchtert wird, persönlich angegriffen wird, angezeigt wird, irgendwo ausgeschlossen wird, gekündigt wird, einen Auftrag verliert usw., machen Sie uns bitte per E-Mail an cancelculture@freiblickinstitut.de darauf aufmerksam!

 

Hören Sie zum gleichen Thema auch unseren Indubio Podcast vom Sonntag: Spricht jeder nur für sich? Die Diskussion geht um „Cancel-Culture“, Kontaktschuld, rote Linien – und Opferstatus auf allen Seiten. Spannend und kontrovers und die Fetzen fliegen sogar ein bisschen. Man kann eben auch streiten ohne sich persönlich zu verletzen. Ein Highligtht der Indubio-Reihe.

Und hier zum Thema noch Dieter Nuhr auf Phoenix: "Wir haben ein Problem mit Denunziation, Diffamierung und Ettikettierung von Andersdenkenden".

Ab kommenden Freitag widmet sich Achgut.com Autor Kolja Zydatis in einer neuen Kolumne der, dem oder den "Ausgestoßenen der Woche".

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Dieter Kief / 23.09.2020

Bitte, soviel chevalereske Geistesgegenwart soll sein: Nehmen Sie bitte das “er” unten kurz vor Schluss raus. Frauen und Kinder verdienen den gleichen Schutz wie Männer gegen die Absetzungs-Kultur: “Es sollen konkrete Fällen dokumentiert werden, in denen jemand wegen seiner Meinung Probleme bekommt, er eingeschüchtert, persönlich angegriffen, angezeigt, ausgeschlossen, gekündigt wird, einen Auftrag verliert und ähnliches.” - Und jaja, “cancel-culture” kann man eindeutschen mit - mein Vorschlaag: Absetzungs-Kultur. - Shar/pen your Sense (!), mit Arno Schmidt zu lachen!

Andrea Walter / 23.09.2020

Danke für den Link. Ich habe direkt einen Fall hingesendet. Ein Bäckermeister hat wegen seiner Kritik an der Flüchtlingspolitik Aufträge verloren. Ich persönlich äußere mich online nur noch indirekt. Obwohl ich gute Ideen habe, was manche gesellschaftlichen Probleme angehen. Ohne radikal zu sein. Nur wenn man die äußert…die bekommt doch sowieso jemand in den falschen Hals. Und dann ist das Gebrüll wieder groß. Das ist irgendwie nur traurig. Wie meine Idee (das ist nicht einmal auf meinen Mist gewachsen, ich unterstütze die Idee nur) durch die Förderung von Bildung von Mädchen, insbesondere in Entwicklungsländern, und sexuelle Aufklärung + kostenlose Verhütungsmittel etwas gegen das Bevölkerungswachstum zu unternehmen. Hätte viele positive Effekte. Mädchen wären in ihrer Sexualität selbst bestimmter. Weniger Bevölkerung würde den Druck der Migration verhindern. Es ständen mehr Ressourcen für die Menschen zur Verfügung, was Kriege verhindert. Und Pandemien gibt es auch nur, wenn die Bevölkerung zu groß wird. Als ich das mal im Verwandtenkreis äußerte, ging direkt die “Rassismus” Schreierei los. Ich bin es so satt! So elendig satt!

Franck Royale / 23.09.2020

Super, danke - auch wenn es nur für die Nachwelt ist, welche diesen Wahnsinn aufarbeiten wird. Man muss übrigens wirklich mal darauf achten: Alles was nicht ins linke Weltbild passt ist in den Medien “kontrovers”, “umstritten”, “polarisierend” oder natürlich “populistisch” - und wird dann selbstredend ausgeladen diskreditiert, skandalisiert. Das linke Weltbild ist wie immer alternativlos. Orwell Reloaded. 2020.

B. Oelsnitz / 23.09.2020

Vielen Dank für den Hinweis! - Anstellung verloren, aus der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen und strafrechtlich aus nichtigen Gründen aus politischer Abwägung heraus verfolgt, sollte eigentlich einen Eintrag wert sein. Pfui Teufel CDU-Merkel-Land!!! - Aber: Aufgefangen von wenigen Freunden, dies ist DAS ENTSCHEIDENDE.

Lothar Hannappel / 23.09.2020

Bei achgut scheint die cancelculture ja auch ihre Anhänger zu haben. Ich erinnere an einen der letzten Podcast indubio, wo tatsächlich das Stichwort KenFm gefallen ist. Es war schon irgendwie peinlich, wie praktische mit wenigen Sätzen die vorherige Diskussion zum Thema von einigen Beteiligten ad absurdum geführt wurde. Im Nachhinein vielen Dank an den Moderator für seinen sensiblen Umgang mit seinen Gästen.

Frank Dom / 23.09.2020

Klasse Initiative. Merci.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Spahl, Gastautor / 05.12.2023 / 12:00 / 57

Wer hat Angst vor der Klimakatastrophe?

Wissen schützt vor Angst. Denn Menschen, die mehr über die Umwelt im Allgemeinen und über das Klima im Besonderen wissen, haben weniger Angst vor dem…/ mehr

Thilo Spahl, Gastautor / 02.09.2023 / 10:00 / 24

Wie Unis den Kult der Verletzlichkeit schüren

Die Universität sollte der letzte Ort sein, an dem man vorsichtig sein muss, was man sagt. Leider ist das Gegenteil der Fall. Universitäten sind Vorreiter,…/ mehr

Thilo Spahl, Gastautor / 13.07.2023 / 12:00 / 95

Wie errechnet man Hitzetote?

Viele Menschen, die an oder nach heißen Tagen sterben, werden neuerdings als „hitzebedingte Sterbefälle“ klassifiziert und vom RKI fleißig mitgezählt und verkündet. In vereinfachter Sprechweise…/ mehr

Thilo Spahl, Gastautor / 25.05.2023 / 06:00 / 25

Energia jądrowa tak, proszę! Atomkraft ja bitte!

Der deutsche Atomausstieg scheint in unserem östlichen Nachbarland offenbar wenig Begeisterung auszulösen. Die Polen streben das genaue Gegenteil an, den Einstieg auf sehr breiter Front.…/ mehr

Thilo Spahl, Gastautor / 18.04.2023 / 14:00 / 53

Klima: Anpassung ist keine Esoterik

Das Klima verändert sich, und wir werden uns darauf einstellen. Anstatt Verbrenner und Gasthermen in Deutschland zu verbieten, sollten wir uns lieber nach Markise und…/ mehr

Thilo Spahl, Gastautor / 16.11.2022 / 06:00 / 44

Mach aus einem Kohlekraftwerk ein Kernkraftwerk

Laut US-Energieministerium könnten hunderte von US-Kohlekraftwerken in Kernkraftwerke umgewandelt werden. Kraftwerke spielen eine große Rolle für die regionale Wirtschaft. Sie liefern nicht nur Strom, sondern…/ mehr

Thilo Spahl, Gastautor / 22.10.2022 / 06:15 / 78

Die Würde des Huhns ist unantastbar

Deutschland hat sich fast unbemerkt an die Spitze der Bewegung zum Schutz des ungelegten Eies gesetzt. Falls Sie gelegentlich lesen, was so alles auf Essensverpackungen…/ mehr

Thilo Spahl, Gastautor / 03.09.2022 / 14:00 / 71

Superdürre – Gute Ernte

Im neuen Erntebericht ist viel von der Klimakrise die Rede. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Im Newsletter „Bundesregierung aktuell“ vom 26. August finden wir den…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com