CDU und CSU streiten sich, immer noch und schon wieder. Die CSU möchte in Bayern den Aufstieg der AfD bremsen und nicht in den demoskopischen Abwind der CDU hineingezogen werden. Damit hat sie auch begrenzten Erfolg, aber nur um den Preis eines Spagats, der sie fast auseinanderreißt und mit der Zeit politisch ermüdet. Viele in den beiden Schwesterparteien sind des Streits müde, aber die Positionen von Merkel und Seehofer zur Flüchtlingsfrage und zur künftigen Einwanderungspolitik sind eben im Kern konträr, da wird die Einigkeit nur durch immer neue Formelkompromisse hergestellt. Einen neuen Tiefpunkt erreichte der Streit kürzlich, als Merkel und Seehofer sich nicht einmal über den Tagungsort für eine Klausur der beiden Parteiführungen einigen konnten.
Bundesweit sind die beiden Unionsparteien von stolzen 42 Prozent im Sommer 2015 auf jetzt noch 30 Prozent gefallen. Aber dieses Bild ist unvollständig. Die CSU hält sich in Bayern bei 45 Prozent und stützt so bundesweit das Ergebnis der Union. Für sich genommen erreicht die CDU in den übrigen 15 Bundesländern nur noch 27 Prozent und nähert sich so immer mehr den schmählichen 20 Prozent der SPD.
Nur kurzfristig waren sich Merkel und Seehofer vor einigen Tagen einig, als sie gleichzeitig den stellvertretenden AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland kritisierten. Dieser hatte wenige Tage vor der Fußball-Europameisterschaft den blödsinnigen Ausspruch getan, die Leute fänden Jerome Boateng (Sohn eines Ghanaesen und einer Deutschen) zwar als Fußballspieler gut, wollten ihn aber nicht als Nachbarn haben. Merkel nannte diese Äußerung „traurig und niederträchtig“, Seehofer fand sie „erbärmlich“. Erneut begrub die sowohl berechtigte als auch wohlfeile Empörung das eigentliche Problem: Welche Einwanderung wollen wir, und was bedeutet sie für die deutsche Identität und die deutsche Zukunft?
Eine Antwort auf diese Frage gab stattdessen der Dalai Lama, der zufällig zu einem Besuch in Deutschland weilte. Angesprochen auf die Flüchtlingsfrage, sagte er in einem Interview, mittlerweile seien es zu viele. „Deutschland kann kein arabisches Land werden. Deutschland ist Deutschland.“ Man versteht jetzt besser, weshalb Angela Merkel vor einiger Zeit den Dalai Lama nicht empfangen wollte. Es geht nicht nur um die Rücksicht auf China, er ist einfach kein kongenialer Geist.
Noch über die Worte des Dalai Lama nachdenkend, machte ich mich auf den Weg zu einer Lesung nach Düsseldorf und schritt durch mein grünes Vorstadtviertel zur S-Bahn-Station Heerstraße. Es war Mittag, und nur wenige Fahrgäste warteten auf die Bahn. Ich stand neben zwei jungen Frauen in Kopftüchern, die sich auf türkisch unterhielten. Die eine hatte einen Kinderwagen, beide zeigten durch ihre sanften Rundungen künftigen Kindersegen an.
In der S-Bahn saß ich neben zwei weiteren jungen Frauen mit Kopftüchern, diesmal sprachen sie arabisch. Beide waren schwanger, beide hatten ein Kleinkind im Kinderwagen, die eine zusätzlich eine Tochter von etwa drei Jahren. So reiste ich in Gesellschaft von vier werdenden Müttern in Kopftüchern und vier kleinen Kindern die vier Stationen bis Berlin-Spandau, wo ich den ICE nach Düsseldorf bestieg.
Während vor dem Zugfenster das grüne leere Brandenburg vorbei flog, sann ich während der ersten Viertelstunde darüber nach, dass nach meinem subjektiven Eindruck ca. 80 Prozent der schwangeren Frauen oder Mütter mit Kleinkindern, denen ich in Berlin begegne, ein Kopftuch tragen. Gerne würde ich dazu die offiziellen Statistiken befragen. Aber bei der amtlichen Geburtenstatistik werden in Deutschland weder der ethnische Hintergrund noch die Religion erhoben.
Mir fiel eine aktuelle Untersuchung zu den türkischstämmigen Mitbürgern in Deutschland ein. Auch 50 Jahre nach dem großen Gastarbeiterzuzug hat die Mehrheit unter ihnen keinen beruflichen Abschluss, liegt ihr Einkommen deutlich unter und ihr Bezug von Sozialtransfers deutlich über dem Durchschnitt. Ich versuchte mir die Familienverhältnisse und Einkommensquellen der jungen Mütter vorzustellen, mit denen ich einige Stationen gereist war. Dann vertiefte ich mich in meine Reiselektüre, die Mohammed-Biografie von Hamed Abdel-Samad. Koranverse, die vor anderthalbtausend Jahren in der arabischen Wüste ersonnen wurden, bestimmen heute noch die abhängige Rolle, die niedrige Bildung und den Kinderreichtum muslimischer Frauen.
In Düsseldorf erwischte mich zu Beginn der Lesung in einer Buchhandlung ein junger Autonomer mit einem Tortenwurf, er und seine Kumpane brüllten etwas von Nazi und Rassist, ehe sie von Sicherheitskräften überwältigt und aus dem Saal geführt wurden.
Nach einer oberflächlichen Reinigung wurde ich vom Chefredakteur einer westdeutschen Regionalzeitung moderiert. Er wollte mir meine vergleichenden Zahlen zur Verteilung der Bildungsleistung in der Welt nicht glauben und unterstellte mir Rassismus. Schließlich wurde er vom Publikum ausgebuht. Ich erklärte meinen Zuhörern, sie sollten dankbar sein, so könnten sie den deutschen Medien-Mainstream mal life erleben.
Am Morgen las ich dann beim Hotelfrühstück in der Regionalzeitung dieses Chefredakteurs. Zwei Nachrichten stachen mir ins Auge:
- Der Innenminister Jäger von Nordrhein-Westfalen hatte eine Pressekonferenz zur Prävention bei jugendlichen Intensivtätern gegeben. Zwei Drittel dieser Intensivtäter, so teilte er mit, haben einen Migrationshintergrund. Eine Prävention sei unbedingt nötig. Die finanziellen Kosten, die solch ein Intensivtäter bis zu seinem 25sten Lebensjahr verursacht, belaufen sich nach Angaben des Innenministers auf knapp 1,7 Millionen Euro, über die Kosten danach schwieg er sich aus.
- Jedes siebte Kind in Deutschland ist abhängig von Sozialhilfe. In Berlin und Bremen sind es sogar 31,5 Prozent, in Bayern dagegen nur 6,5 Prozent. Keine Auskunft gibt die Statistik darüber, wie hoch der Anteil der Mütter mit Kopftuch bei den von Sozialhilfe abhängigen Kindern ist.
Auch ich verzichte an dieser Stelle auf eine Antwort. Meine Befürchtung ist: Als Gesellschaft werden wir uns vor unangenehmen Fragen solange wegducken, bis es zu spät ist. Es ist ermüdend, ständig zu warnen und zu mahnen, wenn zu wenige hören wollen.
Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche