Rainer Grell / 16.05.2016 / 06:20 / Foto: Foto: Tim Maxeiner / 1 / Seite ausdrucken

Die Bundesregierung und ihre 29 Beauftragten

Carl Ludwig Schleich, Arzt und Schriftsteller (1859-1922), hat nicht nur die Infiltrationsanästhesie entwickelt, sondern auch zahllose Aphorismen hinterlassen wie zum Beispiel: „Die Welt ist Gottes Drama, seine Tragödie, seine Komödie.“ Seine Aussage „Ich bin der Beauftragte eines höheren Ichs“ ist mir zwar rätselhaft geblieben, hat mich allerdings veranlasst, mich näher mit dem Thema „Beauftragte“ zu befassen. Dabei bin ich auf Erstaunliches gestoßen. 

Da fragte eine Journalistin den damals (Anfang 2014) neuen „Pflege- und Patientenbeauftragten der Bundesregierung“, Karl-Josef Laumann (vollständige Amtsbezeichnung „Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigter für Pflege“): „Herr Laumann, seit 20 Jahren gibt es die Pflegeversicherung, und erst jetzt kommt mit Ihnen der erste Pflegebeauftragte der Bundesregierung. Warum wurde das Thema so lange unterschätzt?“

Ich rieb mir verwundert die Augen: Ein Thema wird erst dann politisch richtig eingeschätzt, wenn es dafür einen Beauftragten der Bundesregierung gibt! Minister oder Ministerin mitsamt dem ganzen ministeriellen Apparat reicht also nicht. Nach dieser Logik ist die Reihe der politischen Themen, die unterschätzt werden, ziemlich lang. Zwar gibt es weit über zwei Dutzend „Beauftragte“ auf Bundesebene (laut SpiegelOnline waren es im September 2009 exakt 29 mit Gesamtkosten von „weit mehr als 100 Millionen Euro“), darunter gleich zwei für Menschenrechtsfragen:

  • den Beauftragten für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt (in der rot-grünen Koalition hatte übrigens Claudia Roth dieses Amt von März 2003 bis Ende 2004 inne, unter einem Außenminister Joseph Fischer) und
  • die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtsfragen beim Bundesjustizministerium,

Doppelt genäht hält besser  

Aber die Zahl der Themen, die nicht durch einen Beauftragten belegt sind, ist natürlich ungleich größer. Das hat der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, erkannt und deshalb (in einem Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 24. Februar 2014) die Bestellung eines „Antirassismusbeauftragten“ gefordert. Und weil er gerade so schön in Fahrt war noch einen „Nachrichtendienstbeauftragten“ dazu. Den „Beauftragten der Bundesregierung für die Nachrichtendienste“ (derzeitiger Amtsinhaber Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche) kennt Mazyek entweder nicht oder er hält ihn nicht für ausreichend oder er huldigt dem Prinzip „doppelt genäht hält besser“ (wie bei „Menschenrechtspolitik“ und „Menschenrechtsfragen“, die natürlich auch Rassismusfragen umfassen).

Dabei muss man Mazyek hoch anrechnen, dass er davon abgesehen hat, die Forderung nach einem „Islamophobie-Beauftragten“ zu stellen; aber was nicht ist kann ja noch werden. Mit seiner Forderung nacgh einem „Antirassismusbeauftragten“ liegt Mazyek übrigens voll auf der Linie des Europarates, der Deutschland zu einem schärferen Vorgehen gegen Rassismus aufgefordert hat.

Außerdem hat der Fall Edathy gezeigt, dass wir dringend einen Beauftragten für oder besser gegen Kinderpornographie brauchen. Sein Fehlen macht deutlich, dass die Bundesregierung dieses Thema bisher ebenfalls unterschätzt hat. Doch nein, da habe ich den „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (vulgo Bundesfamilienministerium, BMFSFJ), von der Presse kurz als „Missbrauchsbeauftragter“ bezeichnet, übersehen. Vermutlich liegt das daran, dass sich der gegenwärtige Amtsinhaber, Johannes-Wilhelm Rörig, nicht zum Fall Edathy geäußert hat. Oder weil er vielleicht gar nicht für Fragen der Kinderpornographie zuständig ist?

Ein weites Feld

Erstaunlich ist, dass Michel Friedman nach seinen unangenehmen Erfahrungen mit ukra­inischen Zwangsprostituierten noch nicht das Amt eines Prostituiertenbeauftragten vorgeschlagen hat, dessen (oder besser deren) erste Aufgabe natürlich darin bestehen müsste, Sprachkurse für ausländische Prostituierte einzuführen, damit diese ihre Ablehnung unerwünschter Kunden oder bestimmter Sexualpraktiken so unmissverständlich formulieren können, dass selbst ein vollgedröhnter „Freier“ sie versteht.

Man sieht: ein weites Feld. Allerdings dürfte es einige Beauftragte geben, von deren Existenz Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller gar nichts ahnen. Oder wie es der ehemalige Präsident des Bundesrechnungshofes, Volkmar Hopf (seine Nazivergangenheit soll dem 1997 Verstorbenen in diesem Kontext nicht nachgetragen werden), einmal formuliert hat: „Es gibt in Münster alle Behörden, die man sich vorstellen kann und auch einige, die man sich nicht vorstellen kann.“

Wussten Sie vielleicht, dass es im Auswärtigen Amt seit 1965 einen „Beauftragten der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle“ gibt (derzeit hat das Amt Frau Dr. Patricia Flor inne, in Personalunion mit der Leitung der Abteilung „Internationale Ordnung, Vereinte Nationen und Rüstungskontrolle“)? Oder eine „Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, für Mittelstand und Tourismus“ im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie?

Halt, nein, da habe ich was durcheinander gebracht, das sind ja zwei unterschiedliche Aufgaben (also neue Bundesländer einerseits und Mittelstand und Tourismus andrerseits), die nur von derselben Person wahrgenommen werden: Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke. Oder den Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten beim Bundesinnenministerium (Amtsinhaber MdB Hartmut Koschyk)?

Eine Bereicherung für uns alle  

Der älteste Beauftragte, nicht die Person, sondern die Institution, ist der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Er wurde 1956 mit dem Aufbau der Bundeswehr eingeführt und ist sogar in der Verfassung verankert: Artikel 45b Grundgesetz. Bis zur Entlassung der letzten Zivildienstleistenden am 31. Dezember 2011 gab es natürlich auch einen Bundesbeauftragten für den Zivildienst – einer der seltenen Fälle übrigens, wo ein Amt mal weggefallen ist.

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz (BfD), dessen Amt am 1. Januar 1978 geschaffen wurde, führt seit 1. Januar 2006 die Bezeichnung „Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI)“.

Seit 2005 ressortiert die „Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration“ im Bundeskanzleramt (vorher seit 2002 im Familienministerium und davor seit seiner Schaffung im Jahr 1978 unter anderen Bezeichnungen im Arbeitsministerium). Das Amt wird seit Ende 2013 von Aydan Özoğuz (SPD) wahrgenommen. Ihre Vorgängerin war Maria Böhmer, die durch ihren Satz „Diese Menschen mit ihrer vielfältigen Kultur, ihrer Herzlichkeit und ihrer Lebensfreude sind eine Bereicherung für uns alle“ unsterblich geworden ist. Gemeint waren übrigens „die 2,7 Millionen Menschen aus türkischen Familien, die in Deutschland leben“.

Wie anders urteilt da die türkisch-stämmige Schauspielerin Sibel Kekilli über den männlichen Teil dieser Menschen: „Wie würde es euch gefallen, wenn ihr so leben müsstet, wie ihr es von euren Frauen verlangt? Mit Zwängen, Vorschriften, unterdrückten Gefühlen, Notlügen und Ängsten? Was ist denn so bedrohlich an einer freien Frau? Warum wird sie von der eigenen Familie und der muslimischen Gesellschaft klein gehalten?“

Beauftragte, die es noch nicht gibt  

Einige Funktionen eröffnen ganz neue Perspektiven. So gibt es zum Beispiel einen Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Derzeitiger Amtsinhaber ist Staatsminister Michael Roth (hat nichts mit Claudia zu tun). Sein Pendant auf französischer Seite ist der Staatssekretär für Europa-Angelegenheiten im französischen Außenministerium, Harlem Désir. Aber warum gibt es keinen Beauftragten für die deutsch-britische, deutsch-amerikanische, deutsch-polnische, deutsch-russische und deutsch-israelische Zusammenarbeit?

Vorsicht, man muss da ganz genau hinsehen. Den Beauftragten für die deutsch-polnische Zusammenarbeit gibt es, er heißt nur statt Beauftragter „Koordinator“. Der Job wird von Dietmar Woidke, Ministerpräsident von Brandenburg, erledigt; er lebt ja quasi Tür an Tür mit der polnischen Ministerpräsidentin Beata Szydło. „Woidke setzt sich Tag für Tag – oft auch hinter den Kulissen – für die deutsch-polnische Zusammenarbeit ein“, heißt es auf der Website des AA.

Die Aufgabe eines/einer Beauftragten für die deutsch-ameri­kanische und die deutsch-israelische Zusammenarbeit hat die Bundeskanzlerin sich persönlich vorbehalten. Das spart nicht nur Personal, sondern ist auch ungleich wirkungsvoller. Angela Merkel hat ja bekanntlich den Bürokratieabbau zur Chefsache erklärt und geht hier mit gutem Beispiel voran. Und bei der deutsch-russischen Zusammenarbeit ist es ähnlich wie bei der deutsch-polnischen, also Koordinator statt Beauftragter, oder um ganz genau zu sein: „Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft“. Amtsinhaber ist Gernot Erler, der ja unter Steinmeier schon in der letzten Groko Staatsminister im AA war. Standesgemäß begrüßt er die Besucher seiner Homepage mit „Herzlich willkommen! Bienvenue! Welcome! Добро пожаловать!“

Jetzt interessiert diese oder jenen vielleicht, was Laumann auf die eingangs erwähnte Frage denn geantwortet hat. Können Sie sich das wirklich nicht denken? Nichts. Er hat lediglich etwas konkreter dargelegt, inwiefern das Thema Pflege bisher unterschätzt wurde. Zum „Warum“ kein Wort. Und auch keine Nachfrage.

Was lernen wir daraus? Wir brauchen dringend einen Bundesbeauftragten für die sachgerechte Beantwortung von Journalistenfragen oder gleich mehrere, am besten in jedem Ministerium einen. Diese sollten genau das tun, was Aiman Mazyek für den Antirassismusbeauftragten vorgeschlagen hat: „Behördliche rassistische Fehlentwicklungen erfassen und ihnen durch Antirassismus-Coaching und Sensibilisierungsmaßnahmen entgegenwirken“. Coaching und Sensibilisierung – das ist das Gebot der Stunde.

Foto: Tim Maxeiner

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Axel Kilian / 16.05.2016

Die satirische Idee eines Bundesbeauftragten für Pressekontakte ist vielleicht längst Realität: wie sonst erklärt sich der derzeit zu beobachtende, fast flächendeckende vorauseilende Gehorsam von Funk, Fernsehen und Presse gegenüber der Politik der Bundesregierung?

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